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Der Terroranschlag vom 26.November 2008 in Mumbai wird in Indien oft in einem Atemzug
mit dem 11.September 2001 genannt. Was steckt dahinter?
Die Täter hatten verschiedene Motive: Zum einen den Kaschmirkonflikt, zum anderen die
Ausgrenzungspolitik der nationalistischen Hindubewegung. Die gezielten Angriffe auf ein
jüdisches Haus und die ausländischen Gäste in den Hotels sind ein deutlicher
Hinweis darauf, dass die Täter auch auf die internationale Politik abzielten,
nämlich auf die strategische Allianz Indiens mit den USA und Israel.Klar ist heute, dass
die Täter auch Verbindungen zu Teilen des pakistanischen Establishments hatten. Auf
politischer Ebene war es jedenfalls ein Geschenk an die mächtigen reaktionären
Kräfte, so wie der 11.September ein Geschenk der unteren Gefilde der internationalen
reaktionären Rechten, Al Qaeda, an die höchste Ebene der Reaktion war: die Regierung
der USA.
Auch die Täter von Mumbai
haben den reaktionären Kräften in Indien in die Hand gespielt, nämlich
denjenigen, die Muslime und den Islam dämonisieren und die strategische Verbindung zu den
USA im Namen des „Kampfes gegen den Terror” vertiefen wollen. Sie haben denen
einen Dienst erwiesen, die gegen die Entspannung zwischen Indien und Pakistan arbeiten und die
Verantwortung der indischen Politik für die Situation in Kaschmir verschleiern wollen.
Diese Attacken sind politisch kontraproduktiv und unmoralisch. Unsere Arbeit, die der
progressiven Kräfte, wird damit erschwert.
Kommen die Architekten der inneren Sicherheit in Indien nun aus den USA?
FBI-Agenten und die des Mossad, des israelischen Geheimdienstes, kommen jetzt noch
öfter nach Indien. Sie wollen die indischen Geheimdienste und die Armee in ihre Strategie
einbinden und die Kooperation auch auf der politischen Ebene vertiefen.
Das schlägt sich auch in
der Gesetzgebung nieder, denn dieser „Kampf gegen den Terrorismus” bildet die
Grundlage für repressive Gesetze. Sie richten sich gegen den nichtstaatlichen Terror und
lenken davon ab, dass trotz all der schrecklichen Terroranschläge der schlimmste Terror
immer noch vom Staat ausgeht, z.B. in Kaschmir: dort sind 500000 Soldaten, Paramilitärs
und Polizisten stationiert. Auf je zwölf Einwohner kommt ein Soldat, das ist mehr als in
Palästina oder in anderen vergleichbaren Regionen.
Warum wurde dem Angriff von Mumbai in Indien mehr Bedeutung beigemessen als den
Bombenattentaten der Vergangenheit?
Nach den Anschlägen vom November war das Medienecho viel größer als sonst,
weil sog. Eliten unter den Angegriffenen waren. Es gab rund 200 Tote, das hat es auch in der
Vergangenheit schon gegeben — im Gegensatz zu jetzt war die Empörung bisher aber
nicht so groß gewesen. Bei einem Angriff auf ein Fünf-Sterne-Hotel, der auch noch
live im Fernsehen übertragen wird, fühlt sich die Elite bedroht. Das ist etwas
anderes als ein Bombenattentat auf einen Basar oder einen Bahnhof, bei dem gewöhnliche
Inder ums Leben kommen.
Ein wichtiger Faktor ist die
Rolle der Medien bei solchen Ereignissen. Sie richten sich stark an die sog.
„Mittelklasse”, anders als in Deutschland bezeichnet sie aber die Oberen 25% der
Gesellschaft. Die große Mehrheit, 75% der Bevölkerung, lebt von weniger als 2 Dollar
am Tag. Ein Dollar pro Tag bedeutet absolute Armut, 2 Dollar „normale” Armut.
Wirtschaftspolitisch ist es
ziemlich egal, wer bei den kommenden Wahlen gewinnt: eine Koalition unter der Führung der
Kongresspartei oder eine unter der Führung der rechtsgerichteten Hindupartei BJP.
Natürlich gibt es im Bereich des Kommunalismus — also beim Versuch, über
Identitätspolitik einzelne Volksgruppen und gesellschaftliche Gruppen gegeneinander
auszuspielen — Unterschiede. Aber in der Wirtschafts- und Außenpolitik sind sich
beide Parteien ähnlich, beide sind proamerikanisch und neoliberal.
Auch die derzeitige
Wirtschaftskrise wird das nicht grundlegend ändern. Man rechnet immer noch mit einem
Wachstum von 6—7%. Indien ist relativ geschützt, da die Rupie, die
Landeswährung, noch nicht frei konvertierbar ist. Trotz gegenteiliger Bekundungen war
dafür nicht Premierminister Manmohan Singh verantwortlich, sondern die Linke — CPI
und CPI(M).
Derzeit besteht die
Hauptreaktion auf die Krise in verschiedenen Varianten eines Kryptokeynesianismus. Ansonsten
ist man der Ansicht, dass die Richtung — mit geringfügigen Korrekturen — im
Wesentlichen stimmt.
Was bedeutet die Unterstützung großer Konzerne für den radikal-
hinduistischen Narendra Modi, Ministerpräsident des Bundesstaates Gujarat, der schon 2002
während der Pogrome im Amt war und für den Tod von mehr als tausend grausam
ermordeten Muslimen verantwortlich ist?
Die Unterstützung für Modi gab es schon vor der Krise. Die Krise trifft Indien
ja weniger als andere Staaten. Seine Kapitalisten sorgen sich viel mehr um den Schutz ihres
Profits, als um den Schutz der Muslime. Aber sie wollen auch Stabilität. Wenn es hie und
da mal Unruhen gibt, ist das eine Sache, aber niemand will größere Unruhen. Modi
verkauft sich als jemand, der diese Stabilität herstellen kann. Ich gebe euch
Vergünstigungen, ihr braucht euch um Streiks nicht zu sorgen, hier ist der Ort, wo man
investieren soll — das ist seine Botschaft. Die Mittelklasse hat denselben Wunsch, auch
sie nimmt es nicht so schwer, wenn es hie und da mal Ausschreitungen gibt, oder Muslime
getötet werden, aber sie will nicht, dass die Spannungen explodieren. Immerhin zählt
die muslimische Minderheit 140 Millionen Menschen, in Indien lebt also die
zweitgrößte muslimische Gemeinschaft der Welt.
Für die BJP erfüllen
die Unruhen eine bestimmte Funktion, wenn sie kontrolliert werden, weil sie die Menschen
polarisieren.
Die Aggressionen der
Hindunationalisten bleiben juristisch fast immer ungesühnt. Narendra Modi wollen die
indischen Industriellen sogar zum künftigen Premierminister machen. Es gibt Bilder von
Modi, auf denen er von Ratan Tata umarmt und gelobt wird, weil er eine kapitalfreundliche
Politik betreibt. Eigentlich gilt Ratan Tata als ein Vertreter der liberalen und
säkularen Bourgeoisie. Das wertet Modi, der wegen seiner Verantwortung für die
Pogrome in Gujarat nie zur Verantwortung gezogen wurde, politisch ungemein auf. Es würde
mich und viele andere nicht überraschen, wenn er demnächst Parteichef der BJP und
damit auch Kandidat für das Amt des Premierministers werden würde.
Seit 2001 häufen sich
Terroranschläge, deren Täter nicht, wie viele Jahre zuvor, aus dem Ausland kommen
— z.B. Pakistan oder Bangladesh — sondern aus Indien selbst. Das polarisiert die
indische Gesellschaft. Für die Anschläge in Mumbai sind allerdings Täter von
außerhalb verantwortlich.
Die BJP versucht verstärkt auch die Dalit, die Kaste der Unberührbaren,
anzusprechen. Kann sie allein mit der Mittelklasse keine Wahlen gewinnen?
Auf Wählerebene scheint die BJP ihr Maximum erreicht zu haben. Bei uns kann man nur
noch in Koalitionen regieren. Regionalparteien erlangen dadurch neue Bedeutung. Dennoch sollte
man die BJP und die Bewegung der Hindunationalisten nicht unterschätzen: Früher
hieß es, die BJP könne, angesichts der großen Vielfalt der indischen
Gesellschaft, nie zur Massenpartei werden. Trotzdem schaffte sie es, mit einer perfiden
Kampagne das politische Zentrum Indiens nach rechts zu rücken. Die Dalit und die
Stammesbevölkerung, die Adivasi, spricht die BJP mit Organisationen an, die mit ihr
zusammen im Sangh Parivar organisiert sind, einer Art Dachverband rechter Hinduorganisationen.
Die BJP und die Organisationen
des Sangh Parivar weisen zwar faschistische Merkmale auf. Aber bevor nun das Szenario eines
faschistischen Indien an die Wand gemalt wird, möchte ich an Ernest Mandel erinnern:
Faschismus kann es nur in einem imperialistischen Staat geben, Faschismus ist nicht nur die
stärkste Form der nationalen Reaktion, sondern auch die stärkste Ausprägung der
internationalen Reaktion.
Welche Kräfte könnten dem Rechtsruck entgegen wirken?
Hier in Indien gibt es rund 450 Millionen Erwerbstätige. 7—8% davon
gehören zum formellen Sektor, d.h. sie haben Urlaub und eine geregelte Arbeitswoche,
entweder im öffentlichen Dienst oder im Privatsektor. Nur 3% sind gewerkschaftlich
organisiert. Und die Bedingungen haben sich verschlechtert: Ein Resultat der
Wirtschaftsreformen von 1991 war, dass die Zahl der im öffentlichen Dienst
Beschäftigten abgenommen hat.
Das bedeutet, dass der Kampf
gegen die Unterdrückung in Indien nicht von den Arbeitern ausgeht, sondern von ganz
unterschiedlichen sozialen Bewegungen und Gruppen: Landarbeitern, der Frauenbewegung, die
Stammesbevölkerung, die Dalit. Das sind Bewegungen, die je für ihre spezifischen
Anliegen kämpfen.
Die große Frage ist nun,
wie man all diese bemerkenswerten Bewegungen und Initiativen miteinander verbinden kann. Die
indische Bourgeoisie und die regierenden Klassen schafften es bisher in jedem Konflikt, ihre
herrschende Rolle aufrecht zu erhalten.
Derzeit befinden sie sich in
einer geradezu idealen Situation: Egal ob die BJP oder die Kongresspartei an der Macht ist, es
wird dieselbe Politik gemacht. Das ist nicht so anders als in Ländern wie den USA oder
Deutschland.
Zwischen Muslimen und Hindus
gibt es einen wichtigen Unterschied: Während es die rechten Hindus mehr und mehr
schaffen, auf gesamtindischer Ebene durch eine Partei wie die BJP vertreten zu sein, gibt es
seit der Teilung Indiens 1947 keine solche indienweite Vertretung für die Muslime. Ein
Muslim aus dem Bundesstaat Karnataka hat mehr mit einem Hindu aus Karnataka gemeinsam als mit
einem Muslim aus Uttar Pradesh.
Durch die Zunahme
gewalttätiger Ausschreitungen, wie die von 2002 im Bundesstaat Gujarat gegen Muslime,
könnte es allerdings auch bei ihnen auf gesamtindischer Ebene eine ähnliche
Entwicklung geben wie bei den Hindus.
Wie sieht es mit den Beziehungen zwischen Indien und Pakistan aus? Nach den
Anschlägen im November wurde ja laut nach Rache gerufen?
Ich würde gerne sagen, dass es zu keinem „heißen” Krieg zwischen den
beiden Ländern kommen kann. Leider kann ich das nicht. Nie zuvor hat es ein so lautes
Kriegsgeschrei gegeben wie nach den Angriffen auf Mumbai. Viele Inder und ein Großteil
der Medien wollen „Pakistan eine Lektion erteilen” Die Tatsache, dass Amerika
dagegen ist, erschwert einen solchen Schritt, macht ihn aber nicht unmöglich.
Sollten fundamentalistisch-
muslimische Kräfte in Pakistan die Oberhand gewinnen und in Indien eine Hindutva-
Regierung an die Macht kommen, könnte es gefährlich werden. Zwar will niemand
Nuklearwaffen einsetzen, aber wir sollten die Eigendynamik einer Eskalation nicht
unterschätzen. Ein ähnlicher Angriff wie der in Mumbai könnte sogar eine
Regierung unter Führung der Kongresspartei unter Zugzwang setzen.
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