SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2009, Seite 21

Wie sieht der Sozialismus aus?

Das Modell des „Reinen Rätesystems” aus dem Jahr 1919

von Ralf Hoffrogge

Die Novemberrevolution 1918 brachte die bis heute entwickeltste Vorstellung hervor, wie eine Produzentendemokratie aussehen könnte, in welche politische Form sie gegossen werden könnte. Die Krise des Kapitalismus und wieder laut werdende Forderungen nach einer Vergesellschaftung der Schlüsselsektoren der Wirtschaft machen eine Beschäftigung mit den möglichen Alternativen wieder erforderlich.
Die Frage, wie eine sozialistische Gesellschaft aussehen soll, wurde in der deutschen Arbeiterbewegung erstaunlich wenig thematisiert. Eine eigene frühsozialistische Tradition entwickelte sich hier, im Gegensatz zu Frankreich und England, nicht. Sehr früh schon übernahm sie die Kritik von Marx und Engels an utopisch-kommunistischen Entwürfen. Sie forderte nur allgemein die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, ohne über die politische Form dieser Forderung zu diskutieren. In Bewegung kamen die Dinge erst mit der Revolution 1918, als der Sozialismus plötzlich zur Tagesaufgabe wurde. Damals gab es verschiedene Entwürfe, von denen hier einer vorgestellt werden soll: das sogenannte „Reine Rätesystem” Es wurden Anfang 1919 als modellhafte Systematisierung der in der Revolution spontan entstandenen Arbeiterräte formuliert. Entworfen und propagiert wurde es von Ernst Däumig und Richard Müller, beide auf dem linken Flügel der USPD und vorher in der Gruppe der „Revolutionären Obleute” aktiv, die während des Ersten Weltkriegs Massenstreiks in der Berliner Munitionsindustrie organisierten. Theoretische Plattform war die Zeitschrift Der Arbeiter-Rat, in der auch Karl Korsch schrieb. Er übernahm wesentliche Vorstellungen des reinen Rätesystems.

Voraussetzungen und Grundgedanken

Das „Reine Rätesystem” erhielt seinen Namen von der ursprünglich propagierten Unvereinbarkeit mit dem Parlamentarismus und der Ablehnung korporatistischer Unternehmerbeteiligung in den Rätestrukturen. Im Verlauf des Jahres 1919 wurde es zu einem der einflussreichsten Rätemodelle, unter anderem weil die SPD in ihrer Mehrheit Rätestrukturen an sich ablehnte, die KPD hingegen die Notwendigkeit einer Übernahme der Staatsmacht betonte und detaillierte Räteentwürfe als „Schematismus” verwarf.
Das Rätesystem hatte eine dreifache Funktion: als Kampforganisation der Arbeiter im Kapitalismus, als Übergangsform zur Vorbereitung von Sozialisierung und Sozialismus sowie als Idealvorstellung einer sozialistischen Planwirtschaft. Sozialistische Utopie und konkrete Kampforganisation sind im Modell nicht getrennt, die vorrevolutionären Organisationen sollten emanzipatorische Zielvorstellungen bereits in sich aufnehmen. Die Erkämpfung von Rätestrukturen von unten nach oben würde die Arbeiterinnen und Arbeiter darauf vorbereiten, in Zukunft die Gesamtwirtschaft planmäßig zu leiten.
Trotz seiner radikaldemokratischen Ausrichtung verstanden seine Verfechter das Modell als Umsetzung einer „Diktatur des Proletariats” Diktatur wurde hier als Klassenherrschaft der Arbeiterinnen und Arbeiter verstanden: Nur wer ohne Ausbeutung fremder Arbeitskraft gesellschaftlich nützliche Tätigkeit verrichtete, war wahlberechtigt. Der Begriff Proletariat war somit rein ökonomisch gefasst: bürgerliche Intelligenz, Angestellte, Ingenieure, Beamte etc. wurden als „Kopfarbeiter” ausdrücklich umworben. Bürgerliche arbeiteten während der Revolution tatsächlich in Rätestrukturen mit — in Form einer Fraktion der „Demokraten”, konnten aber mehrheitlich nicht für sozialistische Zielvorstellungen gewonnen werden.

Gliederung der Räte

Das Modell des Reinen Rätesystems weist eine Parallelstruktur aus wirtschaftlichen und politischen Arbeiterräten auf; erstere werden nach Betrieben, letztere territorial gewählt.
Bei den politischen Arbeiterräten ist eine Pyramide aus kommunalen Räten, regionalen Räten, einem nationalem Rätekongress und dem Zentralrat vorgesehen. Sie ersetzen die klassischen politischen Verwaltungen von Stadtrat, Landesregierung bis zur Reichsregierung.
Die wirtschaftlichen Räte gliedern sich in Betriebsräte (unterste Ebene), branchenbezogene Bezirks-Gruppenräte und allgemeine Bezirks-Wirtschaftsräte, darüber stehen die Reichs-Gruppenräte und ein Reichswirtschaftsrat; die oberste Instanz ist der beiden Strukturen gemeinsame Zentralrat. Die größeren Rätekörper wie Reichswirtschaftsrat und Reichsgruppenräte sollen durch geschäftsführende Ausschüsse handlungsfähig bleiben.
Das Modell in Reinform setzte die Übernahme der politischen Macht durch die Räte, die Neugliederung des damals noch entlang der alten feudalen Grenzen gegliederten deutschen Reiches in Wirtschaftsbezirke und die Abschaffung von parlamentarischen Strukturen voraus. Exekutive und Legislative sollten nicht mehr getrennt sein, es sollte lediglich eine politische und eine ökonomische Selbstverwaltung geben. Nur die beiden unteren Ebenen, also die kommunalen Räte, Betriebsräte und Bezirksgruppenräte wurden direkt gewählt, die oberen Ebenen sollten von den jeweils unteren Räten gewählt werden. Betriebsleitungen sollten gemeinsam von Betriebsrat und Bezirksgruppenrat eingesetzt werden.
Sämtliche Räte sind im Modell jederzeit wählbar und abwählbar, das ganze ist überparteilich gedacht und macht im Grunde auch Gewerkschaften überflüssig. Bis zu seiner Verwirklichung empfahlen ihre Vertreter aber unbedingt die Organisation in Parteien und Gewerkschaften — das war ein wesentlicher Unterschied zu anarchosyndikalistischen Vorstellungen.

Probleme und Vorzüge

Ungeklärt blieb die Kompetenzabgrenzung zwischen politischen und wirtschaftlichen Räten; das sorgte bereits in der Revolution für Reibereien auf lokaler Ebene. Die Vermittlung von Konsumenten- und Produzenteninteressen fehlte ebenso, und die Frage der Bedarfsermittlung war völlig ungeklärt. Somit ist das Modell stark unterkomplex. Dies ist vor allem durch seine Entstehungsgeschichte im politischen Kampf bedingt. Wegen der extrem planwirtschaftlich orientierten, jedoch auf der privaten Aneignung der Gewinne basierenden Kriegswirtschaft der Jahre 1914 bis 1918 gab es in der Bevölkerung jedoch kaum Zweifel daran, dass Wirtschaftsplanung und eine weitgehende Überwindung von Marktstrukturen praktisch machbar waren.
Ein näherer Blick auf das Modell legt zudem einen inneren Widerspruch frei: Wegen der fehlenden Repräsentation von Hausfrauen, Landbevölkerung und Arbeitslosen, aber auch wegen der indirekten Wahl der oberen Räte ergibt sich ein gewichtiges Demokratiedefizit, die Ausbildung einer Räte-Bürokratie ist trotz jederzeitiger Abwählbarkeit und basisdemokratischem Anspruch nicht ausgeschlossen.
Ein großer Vorzug des Modells ist allerdings, dass Planwirtschaft und Arbeiterselbstverwaltung nicht als Gegensatz gelten, sondern der Ausgangspunkt der Überlegungen die reale Selbstbestimmung der Produzenten ist. Weder sozialdemokratische noch bolschewistische Planungsutopien haben den Emanzipationsgedanken derart in den Mittelpunkt gerückt. Von syndikalistischen Vorstellungen hebt sich das Modell durch eine hohe Vermittlungsebene ab: Bezirksräte und Reichswirtschaftsrat sollten ausgleichend wirken, eine überregionale Planung ermöglichen und Betriebsegoismus vermeiden. In zeitgenössischen syndikalistisch- föderalistischen Modellen fehlten solche Überlegungen meist.

Umsetzung und Scheitern

Zur Zeit der Entwicklung des Modells war seine Verwirklichung bereits unwahrscheinlich: Schon im Dezember 1918 hatte sich der SPD-dominierte Reichsrätekongress für eine Nationalversammlung entschieden — und somit gegen ein „reines” Rätesystem. Als ab Januar 1919 die restaurativen Absichten der sozialdemokratischen Regierung immer offener hervortraten, wurde das Modell jedoch zur Forderung einer umfangreichen Räte- und Betriebsrätebewegung mit Höhepunkt im März 1919, als reichsweite Streiks die Arbeit der Nationalversammlung beinahe lahm legten. Die Versammlung musste in §165 der Weimarer Verfassung die Etablierung einer Rätestruktur parallel zum parlamentarischen Staatsaufbau zugestehen. Durch Mangel an innerer Koordination und aufgrund zunehmender Gewaltmaßnahmen der Regierung erlitt die Rätebewegung jedoch insgesamt eine Niederlage. Das im Februar 1920 erlassene Betriebsrätegesetz gab den Räten keinerlei reale Kontrollfunktionen. Ein Reichswirtschaftsrat wurde zwar eingerichtet, jedoch mit paritätischer Unternehmerbeteiligung. Er konnte so nicht als Kampforgan wirken und beschränkte sich auf Gutachtertätigkeiten. Ab 1920 war die Rätebewegung am Ende und die politische Initiative innerhalb der Arbeiterbewegung ging wieder auf die Parteien über.


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