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Die Novemberrevolution 1918 brachte die bis heute entwickeltste
Vorstellung hervor, wie eine Produzentendemokratie aussehen könnte, in welche politische
Form sie gegossen werden könnte. Die Krise des Kapitalismus und wieder laut werdende
Forderungen nach einer Vergesellschaftung der Schlüsselsektoren der Wirtschaft machen
eine Beschäftigung mit den möglichen Alternativen wieder erforderlich.
Die Frage, wie eine
sozialistische Gesellschaft aussehen soll, wurde in der deutschen Arbeiterbewegung erstaunlich
wenig thematisiert. Eine eigene frühsozialistische Tradition entwickelte sich hier, im
Gegensatz zu Frankreich und England, nicht. Sehr früh schon übernahm sie die Kritik
von Marx und Engels an utopisch-kommunistischen Entwürfen. Sie forderte nur allgemein die
Vergesellschaftung der Produktionsmittel, ohne über die politische Form dieser Forderung
zu diskutieren. In Bewegung kamen die Dinge erst mit der Revolution 1918, als der Sozialismus
plötzlich zur Tagesaufgabe wurde. Damals gab es verschiedene Entwürfe, von denen
hier einer vorgestellt werden soll: das sogenannte „Reine Rätesystem” Es
wurden Anfang 1919 als modellhafte Systematisierung der in der Revolution spontan entstandenen
Arbeiterräte formuliert. Entworfen und propagiert wurde es von Ernst Däumig und
Richard Müller, beide auf dem linken Flügel der USPD und vorher in der Gruppe der
„Revolutionären Obleute” aktiv, die während des Ersten Weltkriegs
Massenstreiks in der Berliner Munitionsindustrie organisierten. Theoretische Plattform war die
Zeitschrift Der Arbeiter-Rat, in der auch Karl Korsch schrieb. Er übernahm wesentliche
Vorstellungen des reinen Rätesystems.
Das „Reine Rätesystem” erhielt seinen Namen von der ursprünglich
propagierten Unvereinbarkeit mit dem Parlamentarismus und der Ablehnung korporatistischer
Unternehmerbeteiligung in den Rätestrukturen. Im Verlauf des Jahres 1919 wurde es zu
einem der einflussreichsten Rätemodelle, unter anderem weil die SPD in ihrer Mehrheit
Rätestrukturen an sich ablehnte, die KPD hingegen die Notwendigkeit einer Übernahme
der Staatsmacht betonte und detaillierte Räteentwürfe als „Schematismus”
verwarf.
Das Rätesystem hatte eine
dreifache Funktion: als Kampforganisation der Arbeiter im Kapitalismus, als Übergangsform
zur Vorbereitung von Sozialisierung und Sozialismus sowie als Idealvorstellung einer
sozialistischen Planwirtschaft. Sozialistische Utopie und konkrete Kampforganisation sind im
Modell nicht getrennt, die vorrevolutionären Organisationen sollten emanzipatorische
Zielvorstellungen bereits in sich aufnehmen. Die Erkämpfung von Rätestrukturen von
unten nach oben würde die Arbeiterinnen und Arbeiter darauf vorbereiten, in Zukunft die
Gesamtwirtschaft planmäßig zu leiten.
Trotz seiner
radikaldemokratischen Ausrichtung verstanden seine Verfechter das Modell als Umsetzung einer
„Diktatur des Proletariats” Diktatur wurde hier als Klassenherrschaft der
Arbeiterinnen und Arbeiter verstanden: Nur wer ohne Ausbeutung fremder Arbeitskraft
gesellschaftlich nützliche Tätigkeit verrichtete, war wahlberechtigt. Der Begriff
Proletariat war somit rein ökonomisch gefasst: bürgerliche Intelligenz, Angestellte,
Ingenieure, Beamte etc. wurden als „Kopfarbeiter” ausdrücklich umworben.
Bürgerliche arbeiteten während der Revolution tatsächlich in
Rätestrukturen mit — in Form einer Fraktion der „Demokraten”, konnten
aber mehrheitlich nicht für sozialistische Zielvorstellungen gewonnen werden.
Das Modell des Reinen Rätesystems weist eine Parallelstruktur aus wirtschaftlichen und
politischen Arbeiterräten auf; erstere werden nach Betrieben, letztere territorial
gewählt.
Bei den politischen
Arbeiterräten ist eine Pyramide aus kommunalen Räten, regionalen Räten, einem
nationalem Rätekongress und dem Zentralrat vorgesehen. Sie ersetzen die klassischen
politischen Verwaltungen von Stadtrat, Landesregierung bis zur Reichsregierung.
Die wirtschaftlichen Räte
gliedern sich in Betriebsräte (unterste Ebene), branchenbezogene Bezirks-Gruppenräte
und allgemeine Bezirks-Wirtschaftsräte, darüber stehen die Reichs-Gruppenräte
und ein Reichswirtschaftsrat; die oberste Instanz ist der beiden Strukturen gemeinsame
Zentralrat. Die größeren Rätekörper wie Reichswirtschaftsrat und
Reichsgruppenräte sollen durch geschäftsführende Ausschüsse
handlungsfähig bleiben.
Das Modell in Reinform setzte
die Übernahme der politischen Macht durch die Räte, die Neugliederung des damals
noch entlang der alten feudalen Grenzen gegliederten deutschen Reiches in Wirtschaftsbezirke
und die Abschaffung von parlamentarischen Strukturen voraus. Exekutive und Legislative sollten
nicht mehr getrennt sein, es sollte lediglich eine politische und eine ökonomische
Selbstverwaltung geben. Nur die beiden unteren Ebenen, also die kommunalen Räte,
Betriebsräte und Bezirksgruppenräte wurden direkt gewählt, die oberen Ebenen
sollten von den jeweils unteren Räten gewählt werden. Betriebsleitungen sollten
gemeinsam von Betriebsrat und Bezirksgruppenrat eingesetzt werden.
Sämtliche Räte sind
im Modell jederzeit wählbar und abwählbar, das ganze ist überparteilich gedacht
und macht im Grunde auch Gewerkschaften überflüssig. Bis zu seiner Verwirklichung
empfahlen ihre Vertreter aber unbedingt die Organisation in Parteien und Gewerkschaften
— das war ein wesentlicher Unterschied zu anarchosyndikalistischen Vorstellungen.
Ungeklärt blieb die Kompetenzabgrenzung zwischen politischen und wirtschaftlichen
Räten; das sorgte bereits in der Revolution für Reibereien auf lokaler Ebene. Die
Vermittlung von Konsumenten- und Produzenteninteressen fehlte ebenso, und die Frage der
Bedarfsermittlung war völlig ungeklärt. Somit ist das Modell stark unterkomplex.
Dies ist vor allem durch seine Entstehungsgeschichte im politischen Kampf bedingt. Wegen der
extrem planwirtschaftlich orientierten, jedoch auf der privaten Aneignung der Gewinne
basierenden Kriegswirtschaft der Jahre 1914 bis 1918 gab es in der Bevölkerung jedoch
kaum Zweifel daran, dass Wirtschaftsplanung und eine weitgehende Überwindung von
Marktstrukturen praktisch machbar waren.
Ein näherer Blick auf das
Modell legt zudem einen inneren Widerspruch frei: Wegen der fehlenden Repräsentation von
Hausfrauen, Landbevölkerung und Arbeitslosen, aber auch wegen der indirekten Wahl der
oberen Räte ergibt sich ein gewichtiges Demokratiedefizit, die Ausbildung einer
Räte-Bürokratie ist trotz jederzeitiger Abwählbarkeit und basisdemokratischem
Anspruch nicht ausgeschlossen.
Ein großer Vorzug des
Modells ist allerdings, dass Planwirtschaft und Arbeiterselbstverwaltung nicht als Gegensatz
gelten, sondern der Ausgangspunkt der Überlegungen die reale Selbstbestimmung der
Produzenten ist. Weder sozialdemokratische noch bolschewistische Planungsutopien haben den
Emanzipationsgedanken derart in den Mittelpunkt gerückt. Von syndikalistischen
Vorstellungen hebt sich das Modell durch eine hohe Vermittlungsebene ab: Bezirksräte und
Reichswirtschaftsrat sollten ausgleichend wirken, eine überregionale Planung
ermöglichen und Betriebsegoismus vermeiden. In zeitgenössischen syndikalistisch-
föderalistischen Modellen fehlten solche Überlegungen meist.
Zur Zeit der Entwicklung des Modells war seine Verwirklichung bereits unwahrscheinlich: Schon im Dezember 1918 hatte sich der SPD-dominierte Reichsrätekongress für eine Nationalversammlung entschieden — und somit gegen ein „reines” Rätesystem. Als ab Januar 1919 die restaurativen Absichten der sozialdemokratischen Regierung immer offener hervortraten, wurde das Modell jedoch zur Forderung einer umfangreichen Räte- und Betriebsrätebewegung mit Höhepunkt im März 1919, als reichsweite Streiks die Arbeit der Nationalversammlung beinahe lahm legten. Die Versammlung musste in §165 der Weimarer Verfassung die Etablierung einer Rätestruktur parallel zum parlamentarischen Staatsaufbau zugestehen. Durch Mangel an innerer Koordination und aufgrund zunehmender Gewaltmaßnahmen der Regierung erlitt die Rätebewegung jedoch insgesamt eine Niederlage. Das im Februar 1920 erlassene Betriebsrätegesetz gab den Räten keinerlei reale Kontrollfunktionen. Ein Reichswirtschaftsrat wurde zwar eingerichtet, jedoch mit paritätischer Unternehmerbeteiligung. Er konnte so nicht als Kampforgan wirken und beschränkte sich auf Gutachtertätigkeiten. Ab 1920 war die Rätebewegung am Ende und die politische Initiative innerhalb der Arbeiterbewegung ging wieder auf die Parteien über.
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