SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2009, Seite 14

Italien

Der autoritäre Liberalismus der Regierung Berlusconi

Die Regierung Berlusconi erlaubt sich Verletzungen der bürgerlich- demokratischen Ordnung, die in anderen EU-Ländern nicht hingenommen würden — und das bei einer Arbeiterschaft und sozialen Bewegung, die immer noch großer Mobilisierungen fähig ist. CINZIA ARRUZZA und FELICE MOMETTI versuchen eine Erklärung.

Vor einem Jahr fuhr die Mitte-Links-Regierung in Italien eine herbe Wahlniederlage ein; sie machte den Weg frei für eine dritte Regierung Berlusconi, die ungehinderter agieren kann denn je.
In den ersten Monate ihrer Legislatur stand im Mittelpunkt der Regierungstätigkeit die Senkung der Steuerlast für die Reichen, die Eindämmung des Haushaltsdefizits, die Ankurbelung der Wirtschaft mittels großer öffentlicher Arbeiten, die Verschärfung der Asylgesetze und der Angriff auf die landesweiten Tarifverträge verschiedener Kategorien von Beschäftigten (vor allem im öffentlichen Dienst).
Bei der Durchsetzung dieses Programms stieß die Regierung auf Schwierigkeiten — wegen der schweren Wirtschaftskrise und wegen des, wenngleich zersplitterten, Widerstands auf verschiedenen Ebenen. Eine der ersten Maßnahmen Berlusconis war das Verbot aller Strafprozesse gegen den Ministerpräsidenten und die anderen drei führenden staatlichen Repräsentanten — Staatspräsident, Präsident des Abgeordnetenhauses und des Senats —, einschließlich der laufenden Verfahren. Damit wollte er Pannen vermeiden — und das hätten für Berlusconi viele sein können —, die Prozesse und Verurteilungen hätten schaffen können.
Die Regierung kann sich auch bedeutender Erfolge bei der Privatisierung des Schul- und Hochschulsystems, der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, dem Verkauf der nationalen Fluglinie, der Reduzierung des Arbeitsschutzes und bei der Aushöhlung der sozialen Rechte der Migranten rühmen.
Zwei Gesetze, die im Spätsommer letzten Jahres verabschiedet wurden, haben die Grundschule radikal verändert, verschlechtert und den Universitäten beträchtliche Mittel gekürzt. Damit will man das gesamte Bildungssystem dem Markt öffnen. Die Sicherheitsstandards am Arbeitsplatz wurden beträchtlich heruntergesetzt, was die Arbeit prekärer, die Ausbeutung intensiver und die Zahl der Unfälle größer macht. Noch funktionierende sozialstaatliche Einrichtungen für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst wurden geschleift. Für Migranten wurden die Strafen für Delikte verschärft und faktisch ein „doppelter Standard” in Bezug auf die Rechte von Italienern und Migranten eingeführt.
Bei alledem muss man sehen, dass die gesetzlichen Instrumente, derer sich die Regierung Berlusconi jetzt bedient hat — das Gesetz über die Schulen, das Gesetz zur Immigration —, im Wesentlichen bereits von der früheren Regierung Berlusconi verabschiedet worden waren. In den zwei Jahren ihrer Amtszeit hat die Mitte-Links-Regierung diese Gesetze weder abgeschafft noch modifiziert, das Gesetz zur Immigration wurde während dieser Zeit sogar verschärft.

Krisenpolitik

Die Wirtschaftskrise, die das kapitalistische System weltweit erfasst hat, hat weitreichende Auswirkungen auf das Agieren der Regierung. Einerseits versucht sie, mithilfe einer massiven Medienkampagne, die aktuellen und künftigen Auswirkungen der Krise zu bagatellisieren. Andererseits vergibt sie bestenfalls Almosen. Im Grunde hofft sie, das gesamte Wirtschaftssystem dadurch wieder in Gang bringen zu können, dass sie strategische Sektoren dereguliert und Banken und Unternehmen ohne Gegenleistungen Geldspritzen zur Verfügung stellt.
Nun fängt die Krise an, spürbare Auswirkungen auf die materiellen Lebensbedingungen der Menschen zu haben, wobei das Schlimmste wohl noch kommen wird. Dies hat, neben starken gesellschaftlichen Mobilisierungen wie die der Studentenbewegung im vergangenen Herbst, die Zustimmung für die Regierung ins Wanken gebracht. Von Januar an fiel sie unter die Marke von 50%, im März erreicht sie 44% — dabei bleibt die Zustimmung zur Person Berlusconis als Ministerpräsident bei 52%, im Oktober vergangenen Jahres waren es noch triumphale 62%. Trotzdem gelingt es der Regierung, eine stabile Wählerbasis aufrechtzuerhalten; das zeigen z.B. die Regionalwahlen in Sardinien, aus denen Mitte-Rechts auch in den Gebieten gestärkt hervorging, in denen vorher Mitte-Links regiert hatte.

Gesellschaftlicher Verfall

Der ungebrochene Konsens, auf den sich die Regierung und insbesondere der Ministerpräsident stützen, beruht bei allen Schwankungen auf einer Reihe von Faktoren.
Vor allem fehlt eine glaubwürdige Alternative, eine Kraft, die die Unzufriedenheit aufgreifen könnte, die durch die Krise und die Verschlechterung der Lebensbedingungen zu entstehen beginnt. Die Demokratische Partei fährt bislang nur einen weichen Oppositionskurs und bemüht sich vorrangig um eine einvernehmliche und harmonische Sicht der sozialen und politischen Verhältnisse; damit schafft sie es überhaupt nicht, die gesellschaftliche Stimmung aufzufangen.
Auf der sog. radikalen Linken setzt sich die Agonie fort, die nach der Wahlniederlage im vergangenen Jahr einsetzte. Damals, nach zwei Jahren Beteiligung an der sozialliberalen Regierung Prodi, stürzte Sinistra Arcobaleno (Regenbogenlinke: PRC, PdCI und Grüne) auf 3,5% der Stimmen ab und flog aus dem Parlament. Ihre Beschränktheit, ihre fehlende gesellschaftliche Verankerung, die Zweideutigkeit ihres Agierens und ihre Zersplitterung trugen unvermeidlich zur Desorientierung der gesellschaftlichen Schichten bei, auf die sie sich bezieht. Der soziale Unmut, der von der Linken nicht glaubwürdig aufgegriffen wird, wird unvermeidlich auf die Mühlen der Rechten geleitet.
Eine weitere Ursache für die weitgehend ungebrochene Zustimmung für die Regierung Berlusconi, sind die gesellschaftlichen Veränderungen in Italien in den letzten zwanzig Jahren. Zwanzig Jahre neoliberale Politik, gewerkschaftliches Co-Management und politische Schwankungen der Linken haben die Bedingungen dafür geschaffen, dass die Lohnabhängigen in Italien trotz eines hohen Widerstandspotenzials eine ununterbrochene Serie von Niederlagen erlebten. Im Gegensatz zu Frankreich — siehe das Referendum gegen den europäischen Verfassungsvertrag und die Mobilisierungen gegen die Verträge über die Ersteinstellung (CPE) — ist in Italien keine derart starke gesellschaftliche Mobilisierung gelungen, und es konnten keine bedeutenden Erfolge errungen werden, die die Grundlage für eine dauerhafte neue Politisierung gelegt hätten. Das Ergebnis ist eine immer stärker zerfranste Gesellschaft, in der die sozialen Bindungen und die Solidarität, ausgehend von der Klassensolidarität, zerstört worden sind. Die italienische Gesellschaft hat sich zersetzt, sie ist zugleich das Produkt und das Fundament der liberalen Politik. Auf eben diese Zersetzung stützt sich die ideologische Offensive der Regierung Berlusconi.

Autoritärer Populismus

Die ideologische Offensive der italienischen Rechten beruht auf zwei sich augenscheinlich widersprechenden Postulaten.
Einerseits präsentieren sich die Parteien Popolo della Libertà (PdL — Volk der Freiheit) und Lega Nord als Parteien der Ordnung und Sicherheit, mit starken Vorschlägen (im Gegensatz zur Trägheit der Regierung Prodi) und überaus reaktionären, fremdenfeindlichen Vorstößen: gegen Migranten, Bürgerrechte, in Bezug auf den Umgang mit Kriminalität, im Verhältnis zur katholischen Kirche, zu bioethischen Fragen usw.
Andererseits bietet dieses politische Personal, mit Berlusconi an der Spitze, ständig ein Spektakel voll der Trivialität, des ungebremsten Individualismus, der ständigen Einladung zum Gesetzesbruch (Steuerflucht, Korruption, die Infragestellung der Richterschaft) — was offensichtlich in schreiendem Widerspruch zu dem von ihr angestrebten Image von Sicherheit und Moral steht. In Wirklichkeit bildet genau dieses enge Geflecht zwischen „dem Gesetz und seiner immanenten Übertretung”, wie Slavoj Zizek sagen würde, den Kern ihrer ideologisch hegemonialen Offensive.
Die Regierung Berlusconi ist der Versuch, auf die strukturelle Krise der Gesellschaft mit einem autoritären Liberalismus mit stark populistischen Zügen zu antworten. Der autoritäre Liberalismus schränkt die demokratischen Freiheiten und gewerkschaftlichen Rechte ein und konstruiert eine „gesellschaftliche Stimmung”, die durchtränkt ist von Fremdenfeindlichkeit, Vertrauen in den charismatischen Führer und der Ablehnung kollektiver Aktion.
Cinzia Arruzza kommt von Sinistra Critica und lebt derzeit in Bonn. Felice Mometti ist Lehrer und lebt in Brescia. (Übersetzung: Hans-Günter Mull)


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