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Die Regierung Berlusconi erlaubt sich Verletzungen der bürgerlich-
demokratischen Ordnung, die in anderen EU-Ländern nicht hingenommen würden — und das bei
einer Arbeiterschaft und sozialen Bewegung, die immer noch großer Mobilisierungen fähig ist.
CINZIA ARRUZZA und FELICE MOMETTI versuchen eine Erklärung.
Vor einem Jahr fuhr die Mitte-Links-Regierung in Italien eine herbe Wahlniederlage ein; sie machte den
Weg frei für eine dritte Regierung Berlusconi, die ungehinderter agieren kann denn je.
In den ersten Monate ihrer Legislatur stand
im Mittelpunkt der Regierungstätigkeit die Senkung der Steuerlast für die Reichen, die
Eindämmung des Haushaltsdefizits, die Ankurbelung der Wirtschaft mittels großer öffentlicher
Arbeiten, die Verschärfung der Asylgesetze und der Angriff auf die landesweiten Tarifverträge
verschiedener Kategorien von Beschäftigten (vor allem im öffentlichen Dienst).
Bei der Durchsetzung dieses Programms
stieß die Regierung auf Schwierigkeiten — wegen der schweren Wirtschaftskrise und wegen des,
wenngleich zersplitterten, Widerstands auf verschiedenen Ebenen. Eine der ersten Maßnahmen Berlusconis
war das Verbot aller Strafprozesse gegen den Ministerpräsidenten und die anderen drei führenden
staatlichen Repräsentanten — Staatspräsident, Präsident des Abgeordnetenhauses und des
Senats —, einschließlich der laufenden Verfahren. Damit wollte er Pannen vermeiden — und
das hätten für Berlusconi viele sein können —, die Prozesse und Verurteilungen
hätten schaffen können.
Die Regierung kann sich auch bedeutender
Erfolge bei der Privatisierung des Schul- und Hochschulsystems, der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen
für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, dem Verkauf der nationalen Fluglinie, der
Reduzierung des Arbeitsschutzes und bei der Aushöhlung der sozialen Rechte der Migranten rühmen.
Zwei Gesetze, die im Spätsommer letzten
Jahres verabschiedet wurden, haben die Grundschule radikal verändert, verschlechtert und den
Universitäten beträchtliche Mittel gekürzt. Damit will man das gesamte Bildungssystem dem
Markt öffnen. Die Sicherheitsstandards am Arbeitsplatz wurden beträchtlich heruntergesetzt, was
die Arbeit prekärer, die Ausbeutung intensiver und die Zahl der Unfälle größer macht.
Noch funktionierende sozialstaatliche Einrichtungen für die Beschäftigten im öffentlichen
Dienst wurden geschleift. Für Migranten wurden die Strafen für Delikte verschärft und
faktisch ein „doppelter Standard” in Bezug auf die Rechte von Italienern und Migranten
eingeführt.
Bei alledem muss man sehen, dass die
gesetzlichen Instrumente, derer sich die Regierung Berlusconi jetzt bedient hat — das Gesetz über
die Schulen, das Gesetz zur Immigration —, im Wesentlichen bereits von der früheren Regierung
Berlusconi verabschiedet worden waren. In den zwei Jahren ihrer Amtszeit hat die Mitte-Links-Regierung diese
Gesetze weder abgeschafft noch modifiziert, das Gesetz zur Immigration wurde während dieser Zeit sogar
verschärft.
Die Wirtschaftskrise, die das kapitalistische System weltweit erfasst hat, hat weitreichende Auswirkungen
auf das Agieren der Regierung. Einerseits versucht sie, mithilfe einer massiven Medienkampagne, die
aktuellen und künftigen Auswirkungen der Krise zu bagatellisieren. Andererseits vergibt sie bestenfalls
Almosen. Im Grunde hofft sie, das gesamte Wirtschaftssystem dadurch wieder in Gang bringen zu können,
dass sie strategische Sektoren dereguliert und Banken und Unternehmen ohne Gegenleistungen Geldspritzen zur
Verfügung stellt.
Nun fängt die Krise an, spürbare
Auswirkungen auf die materiellen Lebensbedingungen der Menschen zu haben, wobei das Schlimmste wohl noch
kommen wird. Dies hat, neben starken gesellschaftlichen Mobilisierungen wie die der Studentenbewegung im
vergangenen Herbst, die Zustimmung für die Regierung ins Wanken gebracht. Von Januar an fiel sie unter
die Marke von 50%, im März erreicht sie 44% — dabei bleibt die Zustimmung zur Person Berlusconis
als Ministerpräsident bei 52%, im Oktober vergangenen Jahres waren es noch triumphale 62%. Trotzdem
gelingt es der Regierung, eine stabile Wählerbasis aufrechtzuerhalten; das zeigen z.B. die
Regionalwahlen in Sardinien, aus denen Mitte-Rechts auch in den Gebieten gestärkt hervorging, in denen
vorher Mitte-Links regiert hatte.
Der ungebrochene Konsens, auf den sich die Regierung und insbesondere der Ministerpräsident
stützen, beruht bei allen Schwankungen auf einer Reihe von Faktoren.
Vor allem fehlt eine glaubwürdige
Alternative, eine Kraft, die die Unzufriedenheit aufgreifen könnte, die durch die Krise und die
Verschlechterung der Lebensbedingungen zu entstehen beginnt. Die Demokratische Partei fährt bislang nur
einen weichen Oppositionskurs und bemüht sich vorrangig um eine einvernehmliche und harmonische Sicht
der sozialen und politischen Verhältnisse; damit schafft sie es überhaupt nicht, die
gesellschaftliche Stimmung aufzufangen.
Auf der sog. radikalen Linken setzt sich die
Agonie fort, die nach der Wahlniederlage im vergangenen Jahr einsetzte. Damals, nach zwei Jahren Beteiligung
an der sozialliberalen Regierung Prodi, stürzte Sinistra Arcobaleno (Regenbogenlinke: PRC, PdCI und
Grüne) auf 3,5% der Stimmen ab und flog aus dem Parlament. Ihre Beschränktheit, ihre fehlende
gesellschaftliche Verankerung, die Zweideutigkeit ihres Agierens und ihre Zersplitterung trugen
unvermeidlich zur Desorientierung der gesellschaftlichen Schichten bei, auf die sie sich bezieht. Der
soziale Unmut, der von der Linken nicht glaubwürdig aufgegriffen wird, wird unvermeidlich auf die
Mühlen der Rechten geleitet.
Eine weitere Ursache für die weitgehend
ungebrochene Zustimmung für die Regierung Berlusconi, sind die gesellschaftlichen Veränderungen in
Italien in den letzten zwanzig Jahren. Zwanzig Jahre neoliberale Politik, gewerkschaftliches Co-Management
und politische Schwankungen der Linken haben die Bedingungen dafür geschaffen, dass die
Lohnabhängigen in Italien trotz eines hohen Widerstandspotenzials eine ununterbrochene Serie von
Niederlagen erlebten. Im Gegensatz zu Frankreich — siehe das Referendum gegen den europäischen
Verfassungsvertrag und die Mobilisierungen gegen die Verträge über die Ersteinstellung (CPE)
— ist in Italien keine derart starke gesellschaftliche Mobilisierung gelungen, und es konnten keine
bedeutenden Erfolge errungen werden, die die Grundlage für eine dauerhafte neue Politisierung gelegt
hätten. Das Ergebnis ist eine immer stärker zerfranste Gesellschaft, in der die sozialen Bindungen
und die Solidarität, ausgehend von der Klassensolidarität, zerstört worden sind. Die
italienische Gesellschaft hat sich zersetzt, sie ist zugleich das Produkt und das Fundament der liberalen
Politik. Auf eben diese Zersetzung stützt sich die ideologische Offensive der Regierung Berlusconi.
Die ideologische Offensive der italienischen Rechten beruht auf zwei sich augenscheinlich
widersprechenden Postulaten.
Einerseits präsentieren sich die
Parteien Popolo della Libertà (PdL — Volk der Freiheit) und Lega Nord als Parteien der Ordnung
und Sicherheit, mit starken Vorschlägen (im Gegensatz zur Trägheit der Regierung Prodi) und
überaus reaktionären, fremdenfeindlichen Vorstößen: gegen Migranten, Bürgerrechte,
in Bezug auf den Umgang mit Kriminalität, im Verhältnis zur katholischen Kirche, zu bioethischen
Fragen usw.
Andererseits bietet dieses politische
Personal, mit Berlusconi an der Spitze, ständig ein Spektakel voll der Trivialität, des
ungebremsten Individualismus, der ständigen Einladung zum Gesetzesbruch (Steuerflucht, Korruption, die
Infragestellung der Richterschaft) — was offensichtlich in schreiendem Widerspruch zu dem von ihr
angestrebten Image von Sicherheit und Moral steht. In Wirklichkeit bildet genau dieses enge Geflecht
zwischen „dem Gesetz und seiner immanenten Übertretung”, wie Slavoj Zizek sagen würde,
den Kern ihrer ideologisch hegemonialen Offensive.
Die Regierung Berlusconi ist der Versuch,
auf die strukturelle Krise der Gesellschaft mit einem autoritären Liberalismus mit stark populistischen
Zügen zu antworten. Der autoritäre Liberalismus schränkt die demokratischen Freiheiten und
gewerkschaftlichen Rechte ein und konstruiert eine „gesellschaftliche Stimmung”, die
durchtränkt ist von Fremdenfeindlichkeit, Vertrauen in den charismatischen Führer und der
Ablehnung kollektiver Aktion.
Cinzia Arruzza kommt von Sinistra Critica
und lebt derzeit in Bonn. Felice Mometti ist Lehrer und lebt in Brescia. (Übersetzung: Hans-Günter
Mull)
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