SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2009, Seite 17

Die Herrschaft über die Peripherie ist

wiederhergestellt

von Ingo Schmidt

Der G20-Gipfel in London hat die neoliberale Lehre im Licht der Krise aktualisiert.
Das Interessanteste am Londoner G20-Treffen war dessen Vorlauf. Bereits im September und November 2008 hatten sich die Finanzminister und Notenbankchefs der G20-Staaten getroffen, um Möglichkeiten einer koordinierten Krisenpolitik auszuloten. Für den April wurde ein Treffen der Staats- und Regierungschefs geplant. Derweil halten die G8 an ihren alljährlich im Sommer stattfindenden Treffen fest, als hätte es keinen Herbststurm gegeben, der dem Besitzbürgertum im vergangenen September Fantasievermögen und Marktvertrauen weggeblasen hat.
Dass man sich zum Krisenmanagement nicht nur mit den Atommächten Russland und China, sondern auch mit Brasilien, Indien, Indonesien und anderen Mischungen aus Habenichtsen und Neureichen an einen Tisch setzen muss, wäre für die 1975 in Rambouillet am Kamin versammelte und alsbald als G7 bekannt gewordenen Imperialistenrunde unvorstellbar gewesen. Die G7 hätten auch nicht geglaubt, dass ein russischer Regierungschef und ein chinesischer Zentralbankpräsident einmal über die Notwendigkeit einer neuen Weltwährung diskutieren und hierfür nur lauwarmen Widerspruch aus Washington kassieren.
Ins Gesicht sagen wollten diese Obama ihre Ansichten über die Antiquiertheit des Dollars dann aber doch nicht. In London wurde nicht über eine neue Weltwährung gesprochen. Unter den Gipfeltisch fiel auch das Thema weiterer europäischer Konjunkturprogramme, die von den Amerikanern zuvor mehrfach angemahnt worden waren. Entsprechende Forderungen hatten beim G7-Treffen 1977 zu heftigen Kontroversen zwischen Jimmy Carter und Helmut Schmidt geführt. Kontroversen waren in London aber nicht angesagt; stattdessen suchten die alten Imperialisten Einvernehmen untereinander sowie mit ihren neuen Gipfelpartnern. Der gesuchte Konsens wurde beim IWF gefunden.
Auf dem Weg nach London war aus den chinesischen und russischen Vorschlägen, die Sonderziehungsrechte des IWF zu einer neuen Weltreservewährung zu machen, die Forderung nach einer Aufstockung der IWF-Mittel für Beistandskredite an Länder mit akuten Zahlungsbilanzschwierigkeiten geworden. Vor Ausbruch der Finanzkrise hatten sich die Länder der Dritten Welt qualvoll aus der Abhängigkeit von IWF-Geldern herausgespart — ohne hierdurch ihre gesamte Auslandsverschuldung loszuwerden; die Nachfrage nach neuen IWF-Krediten war gleich null.

Neue Wirtschaftslehre

Dank der Krise ist der IWF wieder im Geschäft und kann es nach den Beschlüssen des Londoner Gipfels sogar noch ausdehnen. Als hätte die Debatte über eine Wiederkehr des Keynesianismus in den letzten Monaten gar nicht stattgefunden, werden nun wieder hochverzinsliche Beistandskredite samt Strukturanpassungsprogrammen vergeben. Damit ist die Herrschaft der Zahlungsbilanz über die Wirtschaftspolitik in den Peripheriestaaten, denen auch einige der G20 noch teilweise zuzurechnen sind, wieder hergestellt.
In den Metropolen, die größere geldpolitische Spielräume zur Verhinderung oder Einschränkung von Zahlungsbilanzkrisen haben, stehen keynesianische Ausgabenprogramme nunmehr eindeutig unter dem Vorbehalt des Bankenbailouts, über dessen Priorität in London ebenfalls Einigkeit herrschte. Der globale Nachfragerückgang wird als eine Folge der Kreditklemme betrachtet. Unter der Last fauler Kredite ist die Versorgung des Wirtschaftskreislaufs mit der notwendigen Liquidität zum Erliegen gekommen. Das ist der Grund, so die neue Londoner Wirtschaftslehre, weshalb private Haushalte und Unternehmen ihre Ausgaben einschränken.
Kurzfristig wurde der Ausfall der privaten Kreditvergabe durch die Zentralbanken ausgeglichen, langfristig soll die Verstaatlichung privater Verluste im Finanzsektor Kreditvergabe und Finanzinvestitionen wiederbeleben. Hierdurch würde auch die Nachfrage nach Investitions- und Konsumgütern und den zu ihrer Herstellung notwendigen Arbeitskräften angekurbelt. Die derzeitige staatliche Ausweitung von Geldangebot und Staatsausgaben seien nur ein kurzfristiger Notbehelf, das langfristige Ziel die Wiederherstellung der privaten Investitionslaune.
Neben der Ausweitung von IWF-Krediten und Strukturanpassungsprogrammen und dem Vorrang des Bankenbailouts vor keynesianischen Ausgabenprogrammen umfasst der London-Konsens der G20 auch ein Bekenntnis zum Freihandel. Maßnahmen zur Unterbindung von Handelsbeschränkungen oder Abwertungswettläufen und einem hierdurch möglichen Zerfall des Weltmarktes wurden jedoch nicht beschlossen.
Das vorrangige Ziel in London war die einvernehmliche Erweiterung der imperialistischen Kette von den G8 zu den G20. Weil die Themen globale Rezession, Arbeitslosigkeit und außenwirtschaftliche Ungleichgewichte nur zu Streit geführt hätten, wurden sie von der Tagesordnung genommen. Stattdessen wurde ein London-Konsens verkündet, der sich vom bekannten Washington-Konsens nur dadurch unterscheidet, dass er neben den alten imperialistischen Ländern auch von einer Reihe neuer Regionalmächte mitgetragen wird.
Wenn man bedenkt, dass der Zusammenbruch der Finanzmärkte erst ein halbes Jahr zurückliegt und der darauf folgende kurze Moment keynesianischer Ausgabenfreudigkeit den weltweiten Wirtschaftsabschwung nicht hat stoppen können, ist diese politische Erweiterung des neoliberalen Imperiums mehr als erstaunlich. Sie ist von Zweckoptimismus und dem Glauben getragen, die einmalige Injektion staatlicher Nachfrage werde zusammen mit der nunmehr in Angriff genommenen Sanierung des Finanzsektors den Selbstheilungskräften des Marktes alsbald zum Durchbruch verhelfen.
Sollte der Aufschwung wider Erwarten ausbleiben — so dürften die Strategen der alten Imperialistenrunde kalkulieren —, kann die Rekrutierung neuer Hilfstruppen zur Verteidigung der bestehenden Weltwirtschaftsordnung nur hilfreich sein. Dafür könnten letztere alsbald feststellen, dass sie am Tisch der Herren gerade noch das Dessert mitnehmen konnten, sich aber an der Bezahlung der ganzen Rechnung beteiligen sollen.
Die Weichen in diese Richtung sind bereits gestellt: Was der Peripherie ihre Strukturanpassung, ist der Metropole ihr Bailout-Programm. In beiden Fällen geht es um die Plünderung des Staatssäckels zum Wohle privaten Vermögens. Die Börse, nach Monaten sinkender Kurse hungrig nach einem Schnäppchen, hat den Braten bereits gerochen: Zur gleichen Zeit als in London der Bailout-Neoliberalismus verkündet wurde, stiegen weltweit die Kurse — allen voran die Aktien der Banken und anderer Finanzunternehmen. Nach den Spekulationsblasen in der Computerindustrie, im Immobilien- und Rohstoffsektor erleben wir nun noch eine Treasury Bubble.

Die Finanzblase

Schon die drei vorangegangenen Blasen haben sich dadurch ausgezeichnet, dass sich das Verhältnis von Gewinnerwartung zum tatsächlichen Gewinn immer mehr zugunsten der ersteren verschoben hat und die Phasen der Euphorie immer kürzer wurden. Die dot.com-Blase beflügelte fast ein ganzes Jahrzehnt lang die Börsenfantasie, bevor es 2001 zur Krise kam; die Immobilienblase konnte sich ein halbes Jahrzehnt halten, und die folgende Rohstoff-Hausse war nach kaum zwei Jahren beendet.
Wenn das Gesetz sich verkürzender Spekulationsblasen fortwirkt, wird die Treasury Bubble in gut einem Jahr platzen — wenn die Regierungen der G20 feststellen, dass der Wirtschaftsaufschwung ausgeblieben ist, ihre Steuereinnahmen im Keller sind und die versprochenen Bürgschaften in Anspruch genommen werden, die jetzt noch gar nicht in den Haushalten eingestellt sind und die nur um den Preis explodierender Haushaltsdefizite einzulösen sein werden.
Haushaltsdefizit klingt, das haben die Börsianer von Friedman gelernt, nach Inflation und wird mit Kapitalflucht bestraft. Nur fliehen sie diesmal, anders als in den 70er Jahren, nicht vor Sozialdemokraten, die ihr nach Verwertung lechzendes Geld in Kindergärten, Altersheime und anderen unproduktiven Klimbim stecken wollen, sondern sie fliehen vor sich selbst. Im Neoliberalismus hat der Kapitalfetischismus seine höchste Form angenommen. Ohne die lästige Ausbeutung lebendiger Arbeitskraft schienen die Finanzmärkte aus Geld mehr Geld zu machen. In Ermangelung profitabler Ausbeutungsmöglichkeiten wurde immer mehr Geld über die Finanzmärkte zur Scheinverwertung kurzgeschlossen. Durch die Erweiterung des Operationsfelds Weltmarkt auf vormals sozialstaatlich oder staatssozialistisch eingehegte Sektoren wurden in den 80er bzw. 90er Jahren immer neue Hoffnungen geweckt und neue Spekulationsblasen aufgepustet.
Nun ist der Staatshaushalt, angeblich der Hauptfeind des Neoliberalismus, zur letzten Hoffnung geworden: In der Finanzblase verschmelzen Kapital- und Staatsfetischismus. Jedoch, wie für den Profit des Kapitalisten, so gilt auch für die Steuereinnahmen des Finanzministers, dass sie von produktiver Wertschöpfung abhängen. Beide können ihre Rechnungen nicht bezahlen, wenn letztere am Boden liegt. In einer ähnlichen Situation hatte Keynes vorgeschlagen, die Wertschöpfung durch schuldenfinanzierte Nachfrage auf Trab zu bringen, um den Kapitalisten zu Profit und dem Finanzminister zu Steuereinnahmen und Schuldentilgung zu verhelfen.
Man kann darüber diskutieren, ob Keynes es noch mal richten könnte. In London wurden solche Fragen nur auf der Straße bzw. bei Veranstaltungen der Demonstranten gegen den Gipfel diskutiert. Im Konferenzsaal der G20 dagegen wurde in Anlehnung an das harmonische Spiel von Angebot und Nachfrage die politische Harmonie gesucht. Gemessen an den Klassenkämpfen, die diese Wirtschaftskrise hervorgebracht hat und noch hervorbringen wird, werden sich diese Harmonievorstellungen schnell als Illusion und die Proteste im Londoner Bankenviertel als harmloses Vorgeplänkel erweisen.


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