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Der G20-Gipfel in London hat die neoliberale Lehre im Licht der Krise
aktualisiert.
Das Interessanteste am Londoner G20-Treffen
war dessen Vorlauf. Bereits im September und November 2008 hatten sich die Finanzminister und Notenbankchefs
der G20-Staaten getroffen, um Möglichkeiten einer koordinierten Krisenpolitik auszuloten. Für den
April wurde ein Treffen der Staats- und Regierungschefs geplant. Derweil halten die G8 an ihren
alljährlich im Sommer stattfindenden Treffen fest, als hätte es keinen Herbststurm gegeben, der
dem Besitzbürgertum im vergangenen September Fantasievermögen und Marktvertrauen weggeblasen hat.
Dass man sich zum Krisenmanagement nicht nur
mit den Atommächten Russland und China, sondern auch mit Brasilien, Indien, Indonesien und anderen
Mischungen aus Habenichtsen und Neureichen an einen Tisch setzen muss, wäre für die 1975 in
Rambouillet am Kamin versammelte und alsbald als G7 bekannt gewordenen Imperialistenrunde unvorstellbar
gewesen. Die G7 hätten auch nicht geglaubt, dass ein russischer Regierungschef und ein chinesischer
Zentralbankpräsident einmal über die Notwendigkeit einer neuen Weltwährung diskutieren und
hierfür nur lauwarmen Widerspruch aus Washington kassieren.
Ins Gesicht sagen wollten diese Obama ihre
Ansichten über die Antiquiertheit des Dollars dann aber doch nicht. In London wurde nicht über
eine neue Weltwährung gesprochen. Unter den Gipfeltisch fiel auch das Thema weiterer europäischer
Konjunkturprogramme, die von den Amerikanern zuvor mehrfach angemahnt worden waren. Entsprechende
Forderungen hatten beim G7-Treffen 1977 zu heftigen Kontroversen zwischen Jimmy Carter und Helmut Schmidt
geführt. Kontroversen waren in London aber nicht angesagt; stattdessen suchten die alten Imperialisten
Einvernehmen untereinander sowie mit ihren neuen Gipfelpartnern. Der gesuchte Konsens wurde beim IWF
gefunden.
Auf dem Weg nach London war aus den
chinesischen und russischen Vorschlägen, die Sonderziehungsrechte des IWF zu einer neuen
Weltreservewährung zu machen, die Forderung nach einer Aufstockung der IWF-Mittel für
Beistandskredite an Länder mit akuten Zahlungsbilanzschwierigkeiten geworden. Vor Ausbruch der
Finanzkrise hatten sich die Länder der Dritten Welt qualvoll aus der Abhängigkeit von IWF-Geldern
herausgespart — ohne hierdurch ihre gesamte Auslandsverschuldung loszuwerden; die Nachfrage nach neuen
IWF-Krediten war gleich null.
Dank der Krise ist der IWF wieder im Geschäft und kann es nach den Beschlüssen des Londoner
Gipfels sogar noch ausdehnen. Als hätte die Debatte über eine Wiederkehr des Keynesianismus in den
letzten Monaten gar nicht stattgefunden, werden nun wieder hochverzinsliche Beistandskredite samt
Strukturanpassungsprogrammen vergeben. Damit ist die Herrschaft der Zahlungsbilanz über die
Wirtschaftspolitik in den Peripheriestaaten, denen auch einige der G20 noch teilweise zuzurechnen sind,
wieder hergestellt.
In den Metropolen, die größere
geldpolitische Spielräume zur Verhinderung oder Einschränkung von Zahlungsbilanzkrisen haben,
stehen keynesianische Ausgabenprogramme nunmehr eindeutig unter dem Vorbehalt des Bankenbailouts, über
dessen Priorität in London ebenfalls Einigkeit herrschte. Der globale Nachfragerückgang wird als
eine Folge der Kreditklemme betrachtet. Unter der Last fauler Kredite ist die Versorgung des
Wirtschaftskreislaufs mit der notwendigen Liquidität zum Erliegen gekommen. Das ist der Grund, so die
neue Londoner Wirtschaftslehre, weshalb private Haushalte und Unternehmen ihre Ausgaben einschränken.
Kurzfristig wurde der Ausfall der privaten
Kreditvergabe durch die Zentralbanken ausgeglichen, langfristig soll die Verstaatlichung privater Verluste
im Finanzsektor Kreditvergabe und Finanzinvestitionen wiederbeleben. Hierdurch würde auch die Nachfrage
nach Investitions- und Konsumgütern und den zu ihrer Herstellung notwendigen Arbeitskräften
angekurbelt. Die derzeitige staatliche Ausweitung von Geldangebot und Staatsausgaben seien nur ein
kurzfristiger Notbehelf, das langfristige Ziel die Wiederherstellung der privaten Investitionslaune.
Neben der Ausweitung von IWF-Krediten und
Strukturanpassungsprogrammen und dem Vorrang des Bankenbailouts vor keynesianischen Ausgabenprogrammen
umfasst der London-Konsens der G20 auch ein Bekenntnis zum Freihandel. Maßnahmen zur Unterbindung von
Handelsbeschränkungen oder Abwertungswettläufen und einem hierdurch möglichen Zerfall des
Weltmarktes wurden jedoch nicht beschlossen.
Das vorrangige Ziel in London war die
einvernehmliche Erweiterung der imperialistischen Kette von den G8 zu den G20. Weil die Themen globale
Rezession, Arbeitslosigkeit und außenwirtschaftliche Ungleichgewichte nur zu Streit geführt
hätten, wurden sie von der Tagesordnung genommen. Stattdessen wurde ein London-Konsens verkündet,
der sich vom bekannten Washington-Konsens nur dadurch unterscheidet, dass er neben den alten
imperialistischen Ländern auch von einer Reihe neuer Regionalmächte mitgetragen wird.
Wenn man bedenkt, dass der Zusammenbruch der
Finanzmärkte erst ein halbes Jahr zurückliegt und der darauf folgende kurze Moment keynesianischer
Ausgabenfreudigkeit den weltweiten Wirtschaftsabschwung nicht hat stoppen können, ist diese politische
Erweiterung des neoliberalen Imperiums mehr als erstaunlich. Sie ist von Zweckoptimismus und dem Glauben
getragen, die einmalige Injektion staatlicher Nachfrage werde zusammen mit der nunmehr in Angriff genommenen
Sanierung des Finanzsektors den Selbstheilungskräften des Marktes alsbald zum Durchbruch verhelfen.
Sollte der Aufschwung wider Erwarten
ausbleiben — so dürften die Strategen der alten Imperialistenrunde kalkulieren —, kann die
Rekrutierung neuer Hilfstruppen zur Verteidigung der bestehenden Weltwirtschaftsordnung nur hilfreich sein.
Dafür könnten letztere alsbald feststellen, dass sie am Tisch der Herren gerade noch das Dessert
mitnehmen konnten, sich aber an der Bezahlung der ganzen Rechnung beteiligen sollen.
Die Weichen in diese Richtung sind bereits
gestellt: Was der Peripherie ihre Strukturanpassung, ist der Metropole ihr Bailout-Programm. In beiden
Fällen geht es um die Plünderung des Staatssäckels zum Wohle privaten Vermögens. Die
Börse, nach Monaten sinkender Kurse hungrig nach einem Schnäppchen, hat den Braten bereits
gerochen: Zur gleichen Zeit als in London der Bailout-Neoliberalismus verkündet wurde, stiegen weltweit
die Kurse — allen voran die Aktien der Banken und anderer Finanzunternehmen. Nach den
Spekulationsblasen in der Computerindustrie, im Immobilien- und Rohstoffsektor erleben wir nun noch eine
Treasury Bubble.
Schon die drei vorangegangenen Blasen haben sich dadurch ausgezeichnet, dass sich das Verhältnis von
Gewinnerwartung zum tatsächlichen Gewinn immer mehr zugunsten der ersteren verschoben hat und die
Phasen der Euphorie immer kürzer wurden. Die dot.com-Blase beflügelte fast ein ganzes Jahrzehnt
lang die Börsenfantasie, bevor es 2001 zur Krise kam; die Immobilienblase konnte sich ein halbes
Jahrzehnt halten, und die folgende Rohstoff-Hausse war nach kaum zwei Jahren beendet.
Wenn das Gesetz sich verkürzender
Spekulationsblasen fortwirkt, wird die Treasury Bubble in gut einem Jahr platzen — wenn die
Regierungen der G20 feststellen, dass der Wirtschaftsaufschwung ausgeblieben ist, ihre Steuereinnahmen im
Keller sind und die versprochenen Bürgschaften in Anspruch genommen werden, die jetzt noch gar nicht in
den Haushalten eingestellt sind und die nur um den Preis explodierender Haushaltsdefizite einzulösen
sein werden.
Haushaltsdefizit klingt, das haben die
Börsianer von Friedman gelernt, nach Inflation und wird mit Kapitalflucht bestraft. Nur fliehen sie
diesmal, anders als in den 70er Jahren, nicht vor Sozialdemokraten, die ihr nach Verwertung lechzendes Geld
in Kindergärten, Altersheime und anderen unproduktiven Klimbim stecken wollen, sondern sie fliehen vor
sich selbst. Im Neoliberalismus hat der Kapitalfetischismus seine höchste Form angenommen. Ohne die
lästige Ausbeutung lebendiger Arbeitskraft schienen die Finanzmärkte aus Geld mehr Geld zu machen.
In Ermangelung profitabler Ausbeutungsmöglichkeiten wurde immer mehr Geld über die
Finanzmärkte zur Scheinverwertung kurzgeschlossen. Durch die Erweiterung des Operationsfelds Weltmarkt
auf vormals sozialstaatlich oder staatssozialistisch eingehegte Sektoren wurden in den 80er bzw. 90er Jahren
immer neue Hoffnungen geweckt und neue Spekulationsblasen aufgepustet.
Nun ist der Staatshaushalt, angeblich der
Hauptfeind des Neoliberalismus, zur letzten Hoffnung geworden: In der Finanzblase verschmelzen Kapital- und
Staatsfetischismus. Jedoch, wie für den Profit des Kapitalisten, so gilt auch für die
Steuereinnahmen des Finanzministers, dass sie von produktiver Wertschöpfung abhängen. Beide
können ihre Rechnungen nicht bezahlen, wenn letztere am Boden liegt. In einer ähnlichen Situation
hatte Keynes vorgeschlagen, die Wertschöpfung durch schuldenfinanzierte Nachfrage auf Trab zu bringen,
um den Kapitalisten zu Profit und dem Finanzminister zu Steuereinnahmen und Schuldentilgung zu verhelfen.
Man kann darüber diskutieren, ob Keynes
es noch mal richten könnte. In London wurden solche Fragen nur auf der Straße bzw. bei
Veranstaltungen der Demonstranten gegen den Gipfel diskutiert. Im Konferenzsaal der G20 dagegen wurde in
Anlehnung an das harmonische Spiel von Angebot und Nachfrage die politische Harmonie gesucht. Gemessen an
den Klassenkämpfen, die diese Wirtschaftskrise hervorgebracht hat und noch hervorbringen wird, werden
sich diese Harmonievorstellungen schnell als Illusion und die Proteste im Londoner Bankenviertel als
harmloses Vorgeplänkel erweisen.
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Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |