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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2009, Seite 24

Solidarität ist möglich

Die Arbeit der Interbrigadas in Venezuela

von Anja Köhler un Boris Bojilov

Woran lässt sich besser lernen, dass die Welt verändert werden kann, als an einer veritablen Revolution? Die gesellschaftlichen Veränderungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent ermöglichen heute wieder zahlreichen Jugendlichen aus den Metropolen, die Enge ihrer Verhältnisse zu Hause zu durchbrechen und hautnah zu erfahren, dass es „eine Alternative gibt”
Eine Gruppe von Jugendlichen aus Berlin hat aus dieser Erfahrung heraus die Interbrigadas gebildet. Lateinamerikanische Künstler, mit denen sie zusammenarbeiten, kommen im Mai nach Berlin.
Kilometerweit ziehen sich an der Autostraße, die den Flughafen Simón Bolívar mit der Innenstadt von Caracas verbindet, die Elendsviertel der Metropole hin — Lehmhütten an Berghängen soweit das Auge reicht. An der U-Bahn-Station „El Valle” steigen wir in einen Jeep um, einziges Verkehrsmittel, das einen motorisierten Aufstieg in die Slums, hier Barrios genannt, ermöglicht. Der Fahrer rast die engen Gässchen empor, kassiert dabei die zugestiegenen Fahrgäste ab und scheucht Straßenhunde auf. Die Barrios sind das Herz der Revolution, hier hat Präsident Hugo Chávez seine Basis. Es gibt verschiedene „misiones”, darunter das Gesundheitsprogramm „Barrio Adentro” und Bolivarianische Schulen, die jedem Kind die Chance bieten, zur Schule zu gehen. Doch es ist auch unverkennbar, dass Venezuela nach wie vor eine Klassengesellschaft ist, ein Land des globalen Südens, das mit Armut, hohen Lebensmittelpreisen, Drogen und Kriminalität zu kämpfen hat.
Letztere ist fester Bestandteil des Alltags in den Armutsvierteln. Politisch Aktive müssen mit den „Malandros”, den örtlichen „Gangstern”, rechnen, sich mit ihnen arrangieren. Es ist ein dauerhafter Kampf um die Köpfe: schnell ergaunertes Geld, Fatalismus und das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit für die Gemeinschaft auf der einen, gesellschaftliche Verbesserungen, revolutionärer Aufbruch und die Würde des Einzelnen auf der anderen Seite.

80 Jahre Erdölökonomie, verbunden mit Klientelismus und patriarchalischem Denken, und die fehlende Industrialisierung haben ihre Spuren im Bewusstsein der Menschen hinterlassen, besonders, wenn sie in den vergessenen Vierteln zu Hause sind. Aus dem Radio dröhnt Reggaeton, werden Mafiosi zu Helden stilisiert.
Hier, im Barrio 70, wo der Kommunale Rat ein Stillhalteabkommen mit der Mafia geschlossen hat, treffen wir die Interbrigadas, eine Gruppe Berliner Jugendlicher, die in den Slums Sozialarbeit leisten. Die Anwesenheit der „Gringos” — das meint hier alle weißen Ausländer — erfüllt die Bewohner mit Stolz, zeigt sie doch ihre Gleichberechtigung und die weltpolitische Bedeutung der Barrios im großen Projekt der globalen Umgestaltung. Die Interbrigadas arbeiten mit den Kindern, bieten Kurse an, unter anderem Englisch, Geschichte und Graffittisprühen. Begeistert nehmen die Kids das Angebot in Anspruch, mühen sich mit der englischen Aussprache. Erfahrener Respekt und die Befähigung zur Gestaltung, sowohl des eigenen Lebens als auch der Gesellschaft, entziehen den Malandros den Boden. Dabei sind sich die Interbrigadas bewusst, dass Solidarität nie in nur eine Richtung wirken kann. So organisieren sie auch den venezolanischen Gegenbesuch in Deutschland, um den Erfahrungen der Slumbewohner mit der Bolivarianischen Revolution eine Plattform in Deutschland zu geben, ein gegenseitiger Lernprozess eben.

Die Arbeit des mittlerweile gemeinnützigen Vereins begann 2006, nachdem eine erste Gruppe Berliner Jugendlicher für zwei Monate Venezuela besucht hatte.
Die Erfahrungen, die die Jugendlichen in Venezuela machten, waren prägend. Der offene Umgestaltungsprozess, den die einfachen Leute selber bestimmen, begeisterte sie. Sie stellten sich die Frage, wie es möglich wäre, einen Beitrag zu einer selbstbestimmten und unabhängigen Entwicklung eines Kontinents in Bewegung zu leisten.
Fünf Reisegruppen von Interbrigadas reisten aus Deutschland, Frankreich, Italien, den USA und Brasilien nach Venezuela, Kolumbien und Bolivien — insgesamt rund 60 Personen. Die Interbrigadas treibt das Bedürfnis an, die soziale Realität Lateinamerikas zu verbessern und in ihren Herkunftsländern ein Verständnis dafür zu entwickeln.
Ob Sozialarbeit in den Armenvierteln Venezuelas, der Aufbauen einer kommunalen Radiostation in Bolivien oder Öffentlichkeitsarbeit in Europa — die Arbeit des Interbrigadas e.V. ist vielfältig. Im Vordergrund steht jedoch, den Teilnehmern des Projekts zu zeigen, dass jeder mit seinen Fähigkeiten in der Lage ist, anderen Menschen zu helfen, und dass diese Hilfe effektiv organisiert werden kann.

Am 13.Mai 2009 beginnt in Berlin das Projekt Aufstand der Farben. Drei lateinamerikanische Künstler sollen über einen Monat hinweg das Berliner Stadtbild mit lateinamerikanischen Murales (Wandbildern) verändern. Die Kultur der Wandbilder ist in Lateinamerika allgegenwärtig. Im Zuge des Bewusstwerdung einer amerikanischen Identität und des Kampfs um eine unabhängige Entwicklung entstehen in lateinamerikanischen Städten überall Wandbilder, die vom indigenen Widerstand gegen die Spanier bis zum heutigen Kampf gegen die Einflussnahme der USA erzählen.
In der Kunst der Murales spiegelt sich das Bestreben wider, in einer ursprungsbewussten und solidarischen Gesellschaft zu leben.
Mit Hilfe der Künstler hoffen die Interbrigadas, auf verschiedenen Veranstaltungen und Events ein breites öffentliches Bewusstsein über die Entwicklungsprozesse Südamerikas in unserer Hauptstadt zu schaffen. Sie wollen Möglichkeiten für ein nachhaltiges Engagement auf einem rebellierenden Kontinent aufzeigen.

Weitere Infos auf www.interbrigadas.org.


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