SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2009, Seite 04

Neues Denken in alten Köpfen?

Die Bekehrung des Professor Sinn

von Wilhelm Neurohr

Als vor rund zwanzig Jahren der Staatssozialismus im Osten nach dem friedlichen, revolutionären Volksaufstand scheiterte und zusammenbrach, mussten die führenden Ideologen einem neuen Denken weichen und ihren Platz räumen. Anderen gelang es, sich als „Wendehälse” (mit und ohne Stasi-Vergangenheit) neu zu orientieren und „nach Aufarbeitung ihrer Vergangenheit und Fehler” politischen Einfluss zu wahren. Die Unverbesserlichen wurden regelrecht davon gejagt oder zur Rechenschaft gezogen.
Ganz anders hingegen zwanzig Jahre später, als der neoliberale, marktradikale Kapitalismus im Westen zusammenbrach: Die dafür verantwortlichen politischen und wirtschaftlichen Eliten verbleiben bis heute ungehindert und beharrlich auf ihren einflussreichen Plätzen, ohne dass bislang irgendjemand im Volk ihre „Köpfe” forderte oder glaubwürdige Protagonisten eines neuen Denkens auf ihre Plätze gelangten.
Vielmehr versuchen die Verursacher der Krise mit allenfalls verbalradikalen Sprüchen den Eindruck zu erwecken, sie seien zu einer grundlegenden Selbsterneuerung fähig. Von wirklichem Umdenken ist keine Spur zu sehen, doch die einstmals Neoliberalen in Parteien, Banken, Wirtschaft und Medien setze sich weiterhin an die Spitze der Bewegung — um das alte, gescheiterte System mit ein paar marginalen „Kurskorrekturen” zu retten und fortzuführen.
Hätten seinerzeit die Funktionäre der DDR (von Erich Honecker bis Egon Krenz) sich so dreist verhalten und als Elite des Demokratisierungsprozesses umgeschminkt, hätte sie das aufgebrachte Volk eigenhändig und gewaltsam davongejagt. Bei uns ist nicht einmal damit zu rechnen, dass die neoliberalen Politiker in diesem Wahljahr von aufgebrachten Wählern abgewählt werden; denn sie verteilen sich gleichmäßig auf fast alle Parteien und überbieten sich plötzlich mit linker und radikaler Programmatik. „Haltet den Dieb”, rufen plötzlich jene, die Hedgefonds und Steuerflucht zugelassen und erleichtert haben.
Keinerlei Anstalten machen die Wendehälse, „in Sack und Asche” daher zugehen, ihr Fehlverhalten, ihre Irrtümer und Verblendungen zuzugestehen, sich zumindest bei den Geschädigten zu entschuldigen und Wiedergutmachung nach dem Verursacherprinzip zu leisten. Stattdessen entwerfen die Täter Szenarien, wie sie Steuerzahler, Arbeitnehmer und Rentner demnächst für die „Generationenverschuldung” haftbar machen können, die dann für die Fehler und die Gier der Eliten ein zweites Mal büßen würden, damit die erneute Umverteilung von unten nach oben nicht bemerkt wird. Doch keine Sorge, es gibt keinen Volksaufstand, wie Gesine Schwan oder Michael Sommer befürchten, auch nicht nach der gesitteten Großdemonstration am 16.Mai nach Berlin.
Die Mehrheit wird im Wahlkampf auf die links gewendeten „Volksparteien” SPD und CDU und auf die Grünen hereinfallen, die ihre Regierungssünden bei der Aufkündigung des Sozialstaatsmodells einfach totschweigen. Die FDP als hartnäckigste Verteidigerin des gescheiterten Neoliberalismus bekommt sogar Zulauf. Bekanntlich hatte auch der „Sozialstaatskiller” Gerhard Schröder die Agenda 2010 und Hartz IV seinerzeit überhaupt nicht im Wahlkampfprogramm angekündigt, sondern erst nach seiner äußerst knappen Wahl aus der Tasche gezogen — ein plumper Wählerbetrug.
Der unverfrorenste neue Wendehals ist seit Mai 2009 der „Papst” des Neoliberalismus, der in allen Talkshows herumgereichte Professor Sinn vom Ifo-Institut. Ausgerechnet er veröffentlichte jetzt ein „kapitalismuskritisches” Buch mit dem Titel „Kasinokapitalismus” — dem alle Medien eine hohe Auflage bescheren, statt es ihm vor die Füße zu werfen. Jetzt verdient sich der größte Verfechter der deregulierten Finanzmärkte eine goldene Nase an seiner „wissenschaftlichen” Erklärung, „wie es zur Finanzkrise kam” Erst kürzlich musste er sich noch in aller Öffentlichkeit für seine Entgleisung entschuldigen, weil er die einhellige Kritik an den für die Krise verantwortlichen Wirtschafts- und Bankmanagern mit der Judenverfolgung verglich.
Nun setzt er sich an die Spitze dieser Kritiker — aus Wut, weil er mit eigenen Börsenspekulationen privat viel Geld verloren hat, oder weil seine eigenen Wirtschaftstheorien versagt haben?
Der zunehmenden Zahl der Verlierer im Verteilungskampf zwischen Arm und Reich hilft das nicht weiter — solange sie die „Wendehälse” gewähren lassen und sogar deren radikal nach Wende klingende Bücher kaufen.

Der Autor ist in einer Kommunalverwaltung des nördlichen Ruhrgebiets und in mehreren sozialen und ökologischen Initiativen tätig.


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