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Auf den Seiten der Financial Times Deutschland sucht Redakteur Wolfgang
Münchau nach den Gründen dafür, dass man sich hierzulande über den Religionsunterricht
streitet, während „im Rest der Welt” die größte Wirtschaftskrise seit 70 Jahren
wütet und die Debatten beherrscht.
Keineswegs liege das daran, dass die
Bundesrepublik nur marginal betroffen sei. Münchau sieht das herrschende Krisenmanagement in Gefahr:
„Ich gehöre zu denen, die soziale Unruhen im Land befürchten, nicht nur wegen der Krise,
sondern vor allem weil sie die Bevölkerung ziemlich unvorbereitet trifft ... die Wut wird kommen. Wenn
die Arbeitslosigkeit wieder steigt, zunächst auf 4 Millionen, dann auf 5 Millionen ... Mit jedem Jahr
der Krise — ich erwarte fünf Quasistagnationen von 2010 an — wird die Lage auf dem
Arbeitsmarkt kritischer ... Und wenn es Politiker ungern zugeben: Natürlich wird der Steuerzahler
bezahlen. Es ist völlig egal, ob wir den Rettungsfonds außerhalb unserer volkswirtschaftlichen
Bilanzen laufen lassen ... Man sollte daher die merkwürdige Ruhe im Land nicht falsch interpretieren.
Es ist nicht die Ruhe einer mit sich selbst zufriedenen Gesellschaft. Es ist die Ruhe vor dem Sturm."
Diese Befürchtungen bilden den
Hintergrund dafür, dass „die Gewerkschaften zurück sind”, wie es Die Zeit
ausdrückt. Dies könnte eigentlich ein Grund zur Freude sein, könnte man dem naheliegenden
Gedanken vertrauen, dass es immer solche Stürme waren, in denen dem Kapitalismus wenigstens zeitweilig
ein paar zivilisatorische Pflöcke ins Fleisch geschlagen werden konnten. Doch spricht wenig dafür,
dass das Gerede über die Renaissance der Gewerkschaften aus solchen Hoffnungen gespeist wird. Gefragt
ist die Gewerkschaft nämlich als Ordnungsmacht: „Die Eliten brauchen die Gewerkschaften.”
Ohne sie drohen wilde Streiks, hat der Jenaer Sozialwissenschaftler Klaus Dörre dem Tagesspiegel
erklärt. Und viel spricht dafür, dass die Mehrheit derer, die heute die Politik der Gewerkschaften
prägen, darin keine Falle sehen, sondern eine Chance, erneut als Verhandlungspartner gefragt zu sein
und so die Zeit ihrer Stigmatisierung zu beenden.
Es vergeht kaum ein Interview, in dem der
DGB-Vorsitzende Michael Sommer nicht signalisiert, dass die Gewerkschaften sich ihrer staatstragenden Rolle
bewusst sind. So war seine Warnung vor sozialen Unruhen auch nichts anderes als der Hinweis darauf, dass
diese nur mit Hilfe der Gewerkschaften zu verhindern seien. Wenn nach der Wahl die Krisenlasten auf die
Opfer abgeladen würden, entstehe ein explosives Gemisch. „Das könnte Zorn und Wut der
Betroffenen auslösen. Das will ich vermeiden.” Von Revolte wolle er nicht sprechen, für das
Einsperren von Chefs mag er keine Gründe gelten lassen, und das aktuelle Demonstrations- und
Streikrecht reicht ihm voll aus.
Für solche Erkenntnisse muss der SPD-
Mann keinen Bruch seiner politischen Biografie in Kauf nehmen. Im Vergleich zum „real existierenden
Sozialismus”, den das frühere SEW-Mitglied lange verehrte, ist das im europäischen
Maßstab stark kastrierte deutsche Koalitionsrecht ja schon die halbe Anarchie. In diesem Geiste voran
geht auch der Leiter seiner Grundsatzabteilung, Wolfgang Schabedoth, der nach seiner K-Gruppenzeit in die
Vorstandsverwaltung der IG Metall wechselte und sich dort mit einer medialen Abkanzelung der Delegierten des
Gewerkschaftstags empfahl, die sich in den 90er Jahren mutig gegen die Aushebelung des Asylrechts und
weltweite Einsätze der Bundeswehr aussprachen. Schabedoth will jetzt die Agenda 2010
„weiterentwickeln” Sein Credo: „Durchsetzungskraft entscheidet sich nicht auf der
Straße."
Der neue Schulterschluss mit den prominenten
Architekten der Agenda 2010 in der SPD passt hier gut ins Bild. Franz Müntefering lief am 16.Mai in der
dritten Reihe der Demonstration; Peer Steinbrück durfte in Bergkamen wieder die 1.Mai-Rede halten. 2004
war er wegen Hartz IV in Köln noch von der Bühne gepfiffen worden. Der IG-Metall-Vorsitzende Huber
versucht derweil, die verspielte Kreditwürdigkeit der Familie Schaeffler — der Autozulieferer,
der Conti übernehmen wollte — wiederherzustellen. Denn nicht nur deren Fusionspläne sind
geplatzt; auch die in der Vergangenheit gepflegte Ablehnung jeder Kooperation mit den Gewerkschaften ist der
Dame mit dem roten Schal auf die Füße gefallen. Doch die Tränen flossen aus einem harten
Herz: Es bleibt bei 4500 Entlassungen in Deutschland — weltweit 8000; nur die IG Metall darf jetzt
mitreden und die Entlassungen mit verantworten.
Im bereits zitierten Artikel der Zeit
erzählt der hessische Bezirksleiter der IG Metall, Armin Schild, stolz von seinem roten Telefon zum
Chef des Metallarbeitgeberverbands, durch das sich Konflikte sofort ausräumen ließen. Das
funktioniere gut, doch sorge er sich manchmal, dass die Leute zu viel erwarten. Die Krise „birgt
für uns eine Chance, aber auch ein Megarisiko” Die Zeit-Redakteure Ruzio und Tenbruck verstehen:
Auch gemäßigte Gewerkschaftsführer wie Sommer und Huber müssten mitunter zu drastischen
Worten greifen. „Doch diese Strategie hat ihre eigenen Risiken. Einen Teil der möglichen
Mitglieder der Zukunft schrecken solche harschen Töne ab, bei anderen wecken sie große Erwartungen
— denen dann irgendwann auch kämpferische Aktionen folgen müssen."
Die Erwartungen der Lohnabhängigen an
die Gewerkschaften haben sich in den letzten Jahren messbar verändert. Knapp 40% haben laut einer
repräsentativen Umfrage „großes oder „sehr großes” Vertrauen in die
Gewerkschaften. So viel waren es lange nicht mehr. Das Vertrauen in die Arbeitgeber ist abgestürzt.
Dieser untergründige Meinungsumschwung hat auch IG Metall und Ver.di im letzten Jahr erstmals wieder
positive Bilanzen bei Einnahmen und Mitgliedern verschafft.
Doch die Voraussetzungen dafür, dass
die Neueintritte sich in gewerkschaftlicher Aktivität niederschlagen und so tatsächlich Bewegung
erzeugen, sind noch nicht gegeben. In den Daimler-Werken Stuttgart-Untertürkheim und Berlin-Marienfelde
haben sich die der IGM-Mehrheitsströmung nahestehenden Betriebsräte bereit erklärt, mit der
Geschäftsleitung eine Paket zu schnüren, in dem die Belegschaften auf geldwerte Leistungen
verzichten. Um die Vereinbarung nicht zu gefährden, wurden Betriebsversammlungen in Info-Stunden
verwandelt. Entscheidender Unterschied: „Eine Aussprache ist nicht vorgesehen."
Die große Kampagne, auf die sich die IG
Metall jetzt konzentriert, heißt: „Deine Stimme für ein gutes Leben.” Sie besteht aus
einem wenig konkreten Fragebogen, der von mehreren hunderttausend Metallern beantwortet werden soll. Am Ende
sollen 50000 Kolleginnen und Kollegen die Frankfurter Fußballarena füllen und am 5.September den
Reden von Bertold Huber und Detlef Wetzel lauschen, die der Politik die Forderungen der IG Metall
präsentieren. Ist das schon der dickste Hammer, mit dem „die größte Einzelgewerkschaft
der Welt” drohen kann?
In der bürgerlichen Presse weiß
man diese Art der Mitgliederbeschäftigung zu schätzen. Detlef Esslinger schreibt in der
Süddeutschen Zeitung nach Ablauf des 1.Mai:
"Wer mit dem 1.Mai nichts anzufangen
vermag, wer die Diktion der Bsirskes und Sommers auf Dauer langweilig findet, der soll sich nur mal kurz
vorstellen, wie es wohl wäre, wenn einer vom Typ Lafontaine an diesem Tag die große Rede schwingen
könnte. Der würde nicht die Rettungsschirme für die einen verteidigen, indem er auch welche
für die anderen fordert. Der würde versuchen, jene soziale Unruhe zu erzeugen, von der der
gegenwärtige DGB-Chef nur schwadroniert. Die Gewerkschaftspolitik gerade in diesen Wochen zeigt: Die
Langweiler sind gar nicht so schlecht für das Land."
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