SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2009, Seite 11

Die Krise als Chance (I)

Eine Verkehrswende für Europa

Mehr Umwelt, mehr Arbeit, mehr Lebensqualität — ein Vorschlag von Winfried Wolf

von Angela Klein

Die enormen Überkapazitäten in der Automobilindustrie sind nicht nur mitverantwortlich für die derzeitige Wirtschaftskrise; der Overkill an Verkehrsbewegungen und an damit verbundenem CO2-Ausstoß stellt auch die größte einzelne Belastung für das Klima dar.
Winfried Wolf hat auf der Europäischen Konferenz zur Zukunft der Bahn Mitte Mai in Köln ein „Investitions- und Beschäftigungspolitisches Programm Schiene Europa 2025” vorgelegt, das eine Verkehrswende in Europa einleiten soll.

Dem Transportsektor kommt nach W.Wolf eine Schlüsselstellung bei der Überwindung der derzeitigen Wirtschafts- und Umweltkrise zu:
— Er spürt den Rückgang des Welthandels als erster: Im Jahr 2008 stieg der Welthandel nur noch um 2%, in vielen Bereichen kam es dadurch zu einer Halbierung der Transportleistungen; für 2009 hat die WTO nochmal einen Rückgang des Welthandels um 9% prognostiziert. Alle Sektoren sind betroffen: Schifffahrt und Werften, die Luftschifffahrt, besonders aber die Autoindustrie.
— Er bildet das Rückgrat der exportorientierten deutschen Volkswirtschaft, vor allem die Autoindustrie und ihre Zulieferer. Die Autoindustrie erlebt derzeit einen gigantischen Konzentrationsprozess, bei dem das Überleben kleinerer Autoproduzenten wie Opel und BMW und vieler Zulieferer auf dem Spiel steht — und damit Zehntausende von Arbeitsplätzen.
— Er ist der einzige Wirtschaftssektor in der EU, der mit einem kontinuierlichen, deutlichen Anstieg der CO2-Emissionen verbunden ist. In buchstäblich allen Sektoren der Wirtschaft gab es im Zeitraum von 1990 bis 2005 einen Abbau des absoluten Emissionsvolumens — mit einer einzigen Ausnahme: dem Transportbereich. Während die Industrie in diesem Zeitraum trotz deutlich gestiegenem Output einen Rückgang der Emissionen von 14% verzeichnete, ist der CO2-Ausstoß im Transportsektor um über 32% gestiegen. Inzwischen ist er für deutlich mehr als ein Viertel alle CO2-Emissionen der EU (27,4%) verantwortlich; er ist nach der Energiewirtschaft die zweitgrößte Dreckschleuder.
— 84% der Emissionen im Transportbereich gehen auf das Konto des Straßen- und Luftverkehrs. Die Eisenbahn hingegen hat im besagten Zeitraum ihre Emissionen trotz erhöhter Leistung fast halbiert.
Fazit: „Der Verkehrssektor ist allein verantwortlich dafür, dass es keinerlei Reduktion der CO2-Emissionen auf dem Gebiet der EU-27 gibt. Dabei ist so gut wie ausschließlich der Straßen- und Flugverkehr für diese verheerende Bilanz verantwortlich”, schreibt Winfried Wolf in seinem Programm.

Weiter so

Trotz Autokrise und anstehender UN-Klimakonferenz verstärken die EU-Regierungen die Weichenstellung zugunsten des Straßen- und Luftverkehrs und zulasten der Eisenbahn und des öffentlichen Nahverkehrs: Die Bundesregierung senkt die Kfz-Steuer, sorgt mit der Abwrackprämie für eine Sonderkonjunktur bei den Autobauern, subventioniert Autokonzerne und Flugzeugbauer. In der EU sind mehrere tausend zusätzliche Autobahnkilometer geplant, die Zahl der Pkw je 1000 Einwohner soll von 503 im Jahr 2005 auf 620 im Jahr 2015 steigen — dies Programm straft die Verpflichtung, das (viel zu bescheidene) Klimaziel, bis 2020 die CO2-Emissionen um 40% zu senken, Lügen.
EU-weit sollen mehrere Flughäfen werden erweitert — die Verantwortlichen gehen von der Annahme aus, dass sich der internationale Flugverkehr in den kommenden 15 Jahren verdoppelt! Im Eisenbahnverkehr setzt sich die Konzentration auf den Hochgeschwindigkeitsverkehr fort, zulasten der Verfügbarkeit der Eisenbahn in der Fläche — in den letzten 35 Jahren wurde das Autobahnnetz der Länge nach verdreifacht, das Schienennetz jedoch um ein Achtel reduziert. Die Privatisierungs- und Liberalisierungstendenzen werden weiter verstärkt.
Wenn aus der Krise eine Chance für ein Umdenken erwachsen soll, muss es, das ergibt sich zweifelsfrei aus diesen Zahlen, am straßen- und flugzeugzentrierten Verkehr ansetzen und hierfür Alternativen entwickeln.
W.Wolf legt großen Wert darauf zu betonen, dass es nicht die Bedürfnisse der Menschen nach mehr Mobilität und auch nicht der Markt, sondern politische Entscheidungen sind, die eine Verkehrswende bislang verhindern. „Die enorme Steigerung der Transportintensität (d.h. der in einer Ware enthaltenen Transportkilometer) ist fast ausschließlich der externen Subventionierung des Transportsektors, der Nichtanrechnung der externen Kosten des Verkehrs und der beschriebenen Investitionspolitik geschuldet. Walnusseis schmeckt nicht besser, wenn die Walnüsse — wie derzeit meist der Fall — aus China kommen."
Sein Investitions- und Beschäftigungsprogramm Schiene Europa 2025 konzentriert sich deshalb in erster Linie auf den Schienenverkehr. Denn hier lauert das größte Potenzial für die Einsparung von CO2-Emissionen und für die Schaffung von Arbeitsplätzen.

Schiene 2025: 1. Verkehr vermeiden

Um dies zu untermauern räumt W.Wolf erst einmal mit dem Märchen auf, mehr Wirtschaftswachstum brauche mehr Verkehr: „Die Behauptung, Wohlstand sei automatisch und auf jedem erreichten sozialen Niveau mit einem Anstieg der zurückgelegten Personen- und Tonnenkilometer verbunden, ist schlicht falsch. Vor drei Jahrzehnten hieß es noch, Wirtschaftswachstum müsse mit Energiewachstum verbunden sein — tatsächlich findet seit 1975 das Gegenteil statt. Es gab Wirtschaftswachstum und einen (absoluten) Rückgang des Energieverbrauchs."
Verkehrsreduzierung ist deshalb eine Toppriorität. Das ist ganz ohne Einbuße in der Lebensqualität möglich, im Gegenteil: „Die Steigerungen der je Person zurückgelegten Kilometer in den letzten zwei Jahrzehnten sind überwiegend auf die Zerstörung von Nähe, auf die Beseitigung dezentraler Strukturen und auf Zwänge wie zu hohe Mietpreise u.a. zurückzuführen.” „Ein großer Teil des Verkehrswachstums entsteht durch die Zerstörung städtischer und dezentraler Freizeitmöglichkeiten (50% des motorisierten Verkehrs in Westeuropa entfallen auf den Freizeitverkehr!)."
Deren Wiederherstellung würde die Städte lebenswerter und das Leben preiswerter machen. Das gilt natürlich genauso für die Beseitigung unsinnigen Güterverkehrs, der mit viel Lärm und Versiegelung der Fläche verbunden ist und nur entsteht, weil der berühmte Becher Joghurt über 7000 km zurücklegt, bevor er vom Milchbauern im Allgäu auf dem Frühstückstisch in Stuttgart landet.

2. Eisenbahnnetz ausbauen

"Europa ist der einzige Kontinent, auf dem die Schiene als Alternative zum motorisierten Massenverkehr per Pkw relativ kurzfristig zum Einsatz kommen kann: Noch gibt es auf dem Gebiet der EU-27 ein rund 215000 Kilometer langes Schienennetz, das die Fläche des Kontinents abdeckt.” Dies will W.Wolf ausbauen.
Ausbau: Im ersten Schritt sollen 250000 km erreicht werden, soviel wie es 1970 schon einmal gab.
Elektrifizierung: 75% des Schienennetzes sollen elektrifiziert werden (derzeit sind es nur 50%; Vorbild ist die Schweiz, wo das Schienennetz zu 90% elektrifiziert ist).
Modernisierung: Das Eisenbahnnetz muss an die veränderten Siedlungsstrukturen angepasst und umfassend, einschließlich der Nebenstrecken, modernisiert werden. 25000 Bahnhöfe in Europa sollen revitalisiert, das rollende Material modernisiert werden.
Ziel: Ein flächendeckendes Schienenverkehrsangebot mit einem integralen Taktverkehr (Vorbild auch hier wieder die Schweiz) sowie eine europaweit durchgängiges Fernverkehrsnetz einschließlich gut ausgebauter Nachtzugverbindungen.

3. Nichtmotorisierter Verkehr

Der öffentliche Nahverkehr und der Umstieg auf nichtmotorisierten Verkehr sollen gefördert, das Tempolimit verschärft werden.

Wirkungen

Die Kosten:

Die Kosten für das Programm Schiene 2025 veranschlagt Wolf auf 500 Mrd. Euro, wovon 200 Mrd. in den Neubau von 10000 km Fernverkehrsstrecken, 100 Mrd. in den Wiederaufbau von Fern- und Regionalbahnstrecken und 120 Mrd. in die Elektrifizierung gehen.
Auf den ersten Blick mag dies viel erscheinen, aber, schreibt Wolf: „Der Betrag entspricht gerade mal dem, was die deutsche Regierung in zwei bis drei Jahren (statt in 15 Jahren!) in den Finanzsektor ‘investiert‘.” Er macht aber auch darauf aufmerksam, dass sich der Betrag in mehrfacher Hinsicht gegenfinanziert:
erstens verschlinge der geplante Bau von 12500 km Autobahn eine vergleichbare Summe;
zweitens zahlen die EU- Regierungen an die Eisenbahnen ihrer Länder jährlich 75 Mrd. Euro für den Ausgleich ihrer Defizite; diese Defizite würden sich schnell radikal reduzieren, wenn die Bahn attraktiver gemacht würde. Allein aus diesen Zahlungen ließe sich das gesamte Programm Schiene Europa 2025 finanzieren;
— das größte Einsparpotenzial sieht Wolf drittens jedoch in der Reduzierung der sog. externen Kosten, „die bisher in keiner Rechnung auftauchen": Kosten für Lärm, Umweltschäden, Tote und Verletzte, Klimabelastung. Eine vom Internationalen Eisenbandverband in Auftrag gegebene Studie hat ermittelt, dass diese im Jahr 2000 auf dem Gebiet der EU-15 plus Norwegen und Schweiz 650 Mrd. Euro ausmachten, wovon 98% auf den Straßenverkehr und die Luftfahrt entfielen. Die Kostenersparnis aus einer Reduktion des Schienen- und Straßenverkehrs beziffert Wolf auf 2000 Mrd. Euro — d.h. „viermal so hoch wie die gesamten Kosten des Programms”

Beschäftigung

"Investitionen im Schienensektor — mit der begleitenden Komponente des Ausbaus der Bahnindustrie — haben eine deutlich höhere Beschäftigungswirkung als solche in der Autoindustrie”, rechnet Wolf vor. Weltweit waren in der Autobranche vor 20 Jahren soviel Menschen beschäftigt wie heute — 8 Millionen Menschen (in der BRD 800000, EU-weit 2 Millionen), doch damals haben sie halb soviel produziert. „Diese Bereiche sind bereits durchrationalisiert; sie arbeiten in weiten Bereichen automatisiert."
Bei der Bahn, im städtischen Nahverkehr und in der europäischen Bahntechnik sind EU-weit mehr Menschen beschäftigt als in der Autoindustrie. Das werde kaum zur Kenntnis genommen, ebenso wenig wie die Tatsache, dass in Deutschland rund 60000 Menschen in der Fahrradproduktion arbeiten — so viele wie in der gesamten deutschen Flugzeugfertigung. Und dies sind dauerhafte Jobs, die auch in Zukunft kaum wegrationalisiert werden. „Die gegenwärtige Krise im Bereich der europäischen Eisenbahnen hat damit zu tun, dass die meisten dieser Bahnen zu wenig Beschäftigte haben."
Grob gerechnet veranschlagt Wolf, dass eine Verdopplung des Schienenverkehrs zusammen mit einer höheren personellen Präsenz im Servicebereich und einem Abbau von Stress bei den Nochbeschäftigten dazu führen wird, dass „mindestens 1,5 Millionen Menschen mehr im Eisenbahnsektor Beschäftigung finden” (ÖPNV u.a. nicht berücksichtigt). Und: Es ist „gute” Arbeit, nachhaltig und zukunftsfähig.

Umwelt

Das Programm Schiene Europa beinhaltet eine drastische Abkehr vom motorisierten Verkehr: Der Pkw-Verkehr würde auf rund ein Viertel reduziert, der Flugverkehr noch stärker; der nicht-motorisierte Verkehr hingegen und die Kilometer, die im städtischen Nahverkehr und mit der Eisenbahn zurückgelegt werden, würden sich verdoppeln. Damit erreicht W.Wolf eine Reduktion des verkehrsbedingten CO2- Ausstoßes bis zum Jahr 2020 auf ein Viertel des bisherigen Volumens (sprich 300 Mio. Tonnen).
"Zusammen mit den Maßnahmen in den anderen Sektoren gäbe es damit die Möglichkeit, die gesamten Kohlendioxidemissionen im genannten Zeitraum mehr als zu halbieren — was den international formulierten Ansprüchen an den europäischen Beitrag zum Klimaschutz nahe kommt."

Die integrale Fassung der Programms Schiene Europa ist ab Ende Juni nachzulesen.




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