SoZ - Sozialistische Zeitung |
Dem Transportsektor kommt nach W.Wolf eine
Schlüsselstellung bei der Überwindung der derzeitigen Wirtschafts- und Umweltkrise zu:
— Er spürt den Rückgang des
Welthandels als erster: Im Jahr 2008 stieg der Welthandel nur noch um 2%, in vielen Bereichen kam es dadurch
zu einer Halbierung der Transportleistungen; für 2009 hat die WTO nochmal einen Rückgang des
Welthandels um 9% prognostiziert. Alle Sektoren sind betroffen: Schifffahrt und Werften, die
Luftschifffahrt, besonders aber die Autoindustrie.
— Er bildet das Rückgrat der
exportorientierten deutschen Volkswirtschaft, vor allem die Autoindustrie und ihre Zulieferer. Die
Autoindustrie erlebt derzeit einen gigantischen Konzentrationsprozess, bei dem das Überleben kleinerer
Autoproduzenten wie Opel und BMW und vieler Zulieferer auf dem Spiel steht — und damit Zehntausende
von Arbeitsplätzen.
— Er ist der einzige Wirtschaftssektor
in der EU, der mit einem kontinuierlichen, deutlichen Anstieg der CO2-Emissionen verbunden ist. In
buchstäblich allen Sektoren der Wirtschaft gab es im Zeitraum von 1990 bis 2005 einen Abbau des
absoluten Emissionsvolumens — mit einer einzigen Ausnahme: dem Transportbereich. Während die
Industrie in diesem Zeitraum trotz deutlich gestiegenem Output einen Rückgang der Emissionen von 14%
verzeichnete, ist der CO2-Ausstoß im Transportsektor um über 32% gestiegen. Inzwischen ist er
für deutlich mehr als ein Viertel alle CO2-Emissionen der EU (27,4%) verantwortlich; er ist nach der
Energiewirtschaft die zweitgrößte Dreckschleuder.
— 84% der Emissionen im
Transportbereich gehen auf das Konto des Straßen- und Luftverkehrs. Die Eisenbahn hingegen hat im
besagten Zeitraum ihre Emissionen trotz erhöhter Leistung fast halbiert.
Fazit: „Der Verkehrssektor ist allein
verantwortlich dafür, dass es keinerlei Reduktion der CO2-Emissionen auf dem Gebiet der EU-27 gibt.
Dabei ist so gut wie ausschließlich der Straßen- und Flugverkehr für diese verheerende Bilanz
verantwortlich”, schreibt Winfried Wolf in seinem Programm.
Trotz Autokrise und anstehender UN-Klimakonferenz verstärken die EU-Regierungen die Weichenstellung
zugunsten des Straßen- und Luftverkehrs und zulasten der Eisenbahn und des öffentlichen
Nahverkehrs: Die Bundesregierung senkt die Kfz-Steuer, sorgt mit der Abwrackprämie für eine
Sonderkonjunktur bei den Autobauern, subventioniert Autokonzerne und Flugzeugbauer. In der EU sind mehrere
tausend zusätzliche Autobahnkilometer geplant, die Zahl der Pkw je 1000 Einwohner soll von 503 im Jahr
2005 auf 620 im Jahr 2015 steigen — dies Programm straft die Verpflichtung, das (viel zu bescheidene)
Klimaziel, bis 2020 die CO2-Emissionen um 40% zu senken, Lügen.
EU-weit sollen mehrere Flughäfen werden
erweitert — die Verantwortlichen gehen von der Annahme aus, dass sich der internationale Flugverkehr
in den kommenden 15 Jahren verdoppelt! Im Eisenbahnverkehr setzt sich die Konzentration auf den
Hochgeschwindigkeitsverkehr fort, zulasten der Verfügbarkeit der Eisenbahn in der Fläche —
in den letzten 35 Jahren wurde das Autobahnnetz der Länge nach verdreifacht, das Schienennetz jedoch um
ein Achtel reduziert. Die Privatisierungs- und Liberalisierungstendenzen werden weiter verstärkt.
Wenn aus der Krise eine Chance für ein
Umdenken erwachsen soll, muss es, das ergibt sich zweifelsfrei aus diesen Zahlen, am straßen- und
flugzeugzentrierten Verkehr ansetzen und hierfür Alternativen entwickeln.
W.Wolf legt großen Wert darauf zu
betonen, dass es nicht die Bedürfnisse der Menschen nach mehr Mobilität und auch nicht der Markt,
sondern politische Entscheidungen sind, die eine Verkehrswende bislang verhindern. „Die enorme
Steigerung der Transportintensität (d.h. der in einer Ware enthaltenen Transportkilometer) ist fast
ausschließlich der externen Subventionierung des Transportsektors, der Nichtanrechnung der externen
Kosten des Verkehrs und der beschriebenen Investitionspolitik geschuldet. Walnusseis schmeckt nicht besser,
wenn die Walnüsse — wie derzeit meist der Fall — aus China kommen."
Sein Investitions- und
Beschäftigungsprogramm Schiene Europa 2025 konzentriert sich deshalb in erster Linie auf den
Schienenverkehr. Denn hier lauert das größte Potenzial für die Einsparung von CO2-Emissionen
und für die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Um dies zu untermauern räumt W.Wolf erst einmal mit dem Märchen auf, mehr Wirtschaftswachstum
brauche mehr Verkehr: „Die Behauptung, Wohlstand sei automatisch und auf jedem erreichten sozialen
Niveau mit einem Anstieg der zurückgelegten Personen- und Tonnenkilometer verbunden, ist schlicht
falsch. Vor drei Jahrzehnten hieß es noch, Wirtschaftswachstum müsse mit Energiewachstum verbunden
sein — tatsächlich findet seit 1975 das Gegenteil statt. Es gab Wirtschaftswachstum und einen
(absoluten) Rückgang des Energieverbrauchs."
Verkehrsreduzierung ist deshalb eine
Toppriorität. Das ist ganz ohne Einbuße in der Lebensqualität möglich, im Gegenteil:
„Die Steigerungen der je Person zurückgelegten Kilometer in den letzten zwei Jahrzehnten sind
überwiegend auf die Zerstörung von Nähe, auf die Beseitigung dezentraler Strukturen und auf
Zwänge wie zu hohe Mietpreise u.a. zurückzuführen.” „Ein großer Teil des
Verkehrswachstums entsteht durch die Zerstörung städtischer und dezentraler
Freizeitmöglichkeiten (50% des motorisierten Verkehrs in Westeuropa entfallen auf den
Freizeitverkehr!)."
Deren Wiederherstellung würde die
Städte lebenswerter und das Leben preiswerter machen. Das gilt natürlich genauso für die
Beseitigung unsinnigen Güterverkehrs, der mit viel Lärm und Versiegelung der Fläche verbunden
ist und nur entsteht, weil der berühmte Becher Joghurt über 7000 km zurücklegt, bevor er vom
Milchbauern im Allgäu auf dem Frühstückstisch in Stuttgart landet.
"Europa ist der einzige Kontinent, auf dem die Schiene als Alternative zum motorisierten
Massenverkehr per Pkw relativ kurzfristig zum Einsatz kommen kann: Noch gibt es auf dem Gebiet der EU-27 ein
rund 215000 Kilometer langes Schienennetz, das die Fläche des Kontinents abdeckt.” Dies will
W.Wolf ausbauen.
Ausbau: Im ersten Schritt sollen 250000 km
erreicht werden, soviel wie es 1970 schon einmal gab.
Elektrifizierung: 75% des Schienennetzes
sollen elektrifiziert werden (derzeit sind es nur 50%; Vorbild ist die Schweiz, wo das Schienennetz zu 90%
elektrifiziert ist).
Modernisierung: Das Eisenbahnnetz muss an
die veränderten Siedlungsstrukturen angepasst und umfassend, einschließlich der Nebenstrecken,
modernisiert werden. 25000 Bahnhöfe in Europa sollen revitalisiert, das rollende Material modernisiert
werden.
Ziel: Ein flächendeckendes
Schienenverkehrsangebot mit einem integralen Taktverkehr (Vorbild auch hier wieder die Schweiz) sowie eine
europaweit durchgängiges Fernverkehrsnetz einschließlich gut ausgebauter Nachtzugverbindungen.
Der öffentliche Nahverkehr und der Umstieg auf nichtmotorisierten Verkehr sollen gefördert, das
Tempolimit verschärft werden.
Die Kosten:
Die Kosten für das Programm Schiene 2025 veranschlagt Wolf auf 500 Mrd. Euro, wovon 200 Mrd. in den
Neubau von 10000 km Fernverkehrsstrecken, 100 Mrd. in den Wiederaufbau von Fern- und Regionalbahnstrecken
und 120 Mrd. in die Elektrifizierung gehen.
Auf den ersten Blick mag dies viel
erscheinen, aber, schreibt Wolf: „Der Betrag entspricht gerade mal dem, was die deutsche Regierung in
zwei bis drei Jahren (statt in 15 Jahren!) in den Finanzsektor investiert.” Er macht aber
auch darauf aufmerksam, dass sich der Betrag in mehrfacher Hinsicht gegenfinanziert:
— erstens verschlinge der
geplante Bau von 12500 km Autobahn eine vergleichbare Summe;
— zweitens zahlen die EU-
Regierungen an die Eisenbahnen ihrer Länder jährlich 75 Mrd. Euro für den Ausgleich ihrer
Defizite; diese Defizite würden sich schnell radikal reduzieren, wenn die Bahn attraktiver gemacht
würde. Allein aus diesen Zahlungen ließe sich das gesamte Programm Schiene Europa 2025
finanzieren;
— das größte
Einsparpotenzial sieht Wolf drittens jedoch in der Reduzierung der sog. externen Kosten, „die
bisher in keiner Rechnung auftauchen": Kosten für Lärm, Umweltschäden, Tote und
Verletzte, Klimabelastung. Eine vom Internationalen Eisenbandverband in Auftrag gegebene Studie hat
ermittelt, dass diese im Jahr 2000 auf dem Gebiet der EU-15 plus Norwegen und Schweiz 650 Mrd. Euro
ausmachten, wovon 98% auf den Straßenverkehr und die Luftfahrt entfielen. Die Kostenersparnis aus einer
Reduktion des Schienen- und Straßenverkehrs beziffert Wolf auf 2000 Mrd. Euro — d.h.
„viermal so hoch wie die gesamten Kosten des Programms”
"Investitionen im Schienensektor — mit der begleitenden Komponente des Ausbaus der
Bahnindustrie — haben eine deutlich höhere Beschäftigungswirkung als solche in der
Autoindustrie”, rechnet Wolf vor. Weltweit waren in der Autobranche vor 20 Jahren soviel Menschen
beschäftigt wie heute — 8 Millionen Menschen (in der BRD 800000, EU-weit 2 Millionen), doch
damals haben sie halb soviel produziert. „Diese Bereiche sind bereits durchrationalisiert; sie
arbeiten in weiten Bereichen automatisiert."
Bei der Bahn, im städtischen Nahverkehr
und in der europäischen Bahntechnik sind EU-weit mehr Menschen beschäftigt als in der
Autoindustrie. Das werde kaum zur Kenntnis genommen, ebenso wenig wie die Tatsache, dass in Deutschland rund
60000 Menschen in der Fahrradproduktion arbeiten — so viele wie in der gesamten deutschen
Flugzeugfertigung. Und dies sind dauerhafte Jobs, die auch in Zukunft kaum wegrationalisiert werden.
„Die gegenwärtige Krise im Bereich der europäischen Eisenbahnen hat damit zu tun, dass die
meisten dieser Bahnen zu wenig Beschäftigte haben."
Grob gerechnet veranschlagt Wolf, dass eine
Verdopplung des Schienenverkehrs zusammen mit einer höheren personellen Präsenz im Servicebereich
und einem Abbau von Stress bei den Nochbeschäftigten dazu führen wird, dass „mindestens 1,5
Millionen Menschen mehr im Eisenbahnsektor Beschäftigung finden” (ÖPNV u.a. nicht
berücksichtigt). Und: Es ist „gute” Arbeit, nachhaltig und zukunftsfähig.
Das Programm Schiene Europa beinhaltet eine drastische Abkehr vom motorisierten Verkehr: Der Pkw-Verkehr
würde auf rund ein Viertel reduziert, der Flugverkehr noch stärker; der nicht-motorisierte Verkehr
hingegen und die Kilometer, die im städtischen Nahverkehr und mit der Eisenbahn zurückgelegt
werden, würden sich verdoppeln. Damit erreicht W.Wolf eine Reduktion des verkehrsbedingten CO2-
Ausstoßes bis zum Jahr 2020 auf ein Viertel des bisherigen Volumens (sprich 300 Mio. Tonnen).
"Zusammen mit den Maßnahmen in den
anderen Sektoren gäbe es damit die Möglichkeit, die gesamten Kohlendioxidemissionen im genannten
Zeitraum mehr als zu halbieren — was den international formulierten Ansprüchen an den
europäischen Beitrag zum Klimaschutz nahe kommt."
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |