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Ein kleiner Börsenaufschwung schürt große Hoffnungen auf ein
baldiges Ende der Krise. Pure Illusion; wenn sie verfliegt, kracht es nochmal, und diesmal richtig.
Seit März dieses Jahres hat die
Wirtschaftsentwicklung eine Richtung eingeschlagen. Auf eine einfache Formel gebracht lautet sie: Börse
hebt ab, Konjunktur schmiert ab.
In den ersten beiden Monaten des Jahres
waren Börsenkurse, Produktion, Absatz und Beschäftigung im Gleichschritt in den Keller gegangen.
Seit Anfang März konnten die Börsen in New York, Tokyo, London und Frankfurt die Kursverluste von
Januar und Februar nahezu vollständig wieder ausgleichen.
Ausfallbürgschaften und fast
unbegrenzte Staatskredite, auf dem G20-Treffen Ende März zum internationalen Konsens befördert,
haben die seit September 2008 arg verunsicherten Bankiers und Investoren zu der ihnen eigenen Besserwisserei
zurückfinden lassen. Steigende Börsenkurse gelten jetzt wieder als Vorboten des
Wirtschaftsaufschwungs, der Beginn des nächsten Aufschwungs sei nur noch eine Frage der Zeit. Wer dies
in Frage stellt, gilt wieder als marxistischer Miesmacher.
Mehrere Faktoren haben die Börsenkurse
in den letzten Wochen erneut angetrieben: nicht nur Staatsgarantien, sondern sinkende Anlagezinsen. Da die
Zinsen auf Rentenpapiere weiter nachgeben, führt selbst die kleinste Hoffnung auf Dividendenzahlung zu
Kapitalumschichtungen in Aktien.
Viele Investoren hoffen vermutlich auf die
Wiederholung des Dividendenwunders von 2008. Denn trotz Börsen- und Konjunkturabsturz zahlten im
vergangenen Jahr die meisten Unternehmen die gleiche oder sogar eine höhere Dividende als in den Jahren
vor der großen Krise.
Zudem wurden die Bilanzierungsregeln
geändert, die Banken müssen ihre Aktiva nicht mehr zu Marktwerten ansetzen. Das führt dazu,
dass sie weit über den Erlösen liegen, die sie durch ihren Verkauf realisieren könnten. Somit
erscheint die Überschuldung vieler Banken nicht mehr ganz so dramatisch.
Weil sich die meisten Sparbuchbesitzer nicht
für Bilanzrichtlinien interessieren und sich mit wohlfeilen Bekenntnissen der Finanzminister abspeisen
lassen, fällt das nicht weiter auf. Sollte sich das einmal ändern, wären Bankenpanik und eine
rasante Entwertung des Geldkapitals wie des politischen Kapitals unausweichlich.
Während sich die Politik nach Kräften bemüht, der Finanzwelt Mut zu machen, bleiben die
Hoffnungssignale aus der Welt der Produktion und Zirkulation sehr schwach. Sicher, irgendwann müssen
Lagerbestände wieder aufgefüllt und eine schrottreife Maschine ausgewechselt werden. Ein
Konjunkturaufschwung setzt aber Neuinvestitionen voraus, die über Lagerhaltungs- und
Ersatzinvestitionen hinausgehen. Dafür gibt es jedoch angesichts der bestehenden
Überkapazitäten nicht den geringsten Anlass.
Seit dem September letzten Jahres ist die
Kapazitätsauslastung in den kapitalistischen Hauptländern im Schnitt um 10% auf Werte um die 75%
gesunken. Aus Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und der Ersparnisse halten sich darüber hinaus
die meisten Haushalte mit ihren Konsumausgaben zurück, sodass auch von dieser Seite wenig zu erwarten
ist.
Die aktuelle Börsenentwicklung weist
deshalb in eine diametral entgegengesetzte Richtung wie die Konjunktur. Man kann sie nur als Folge des
Wunschdenkens von Vermögensbesitzern verstehen, die immer noch Geld haben, von dem sie nicht wissen,
wohin damit. Sie hoffen auf eine Neuauflage des Dividendenwunders von 2008. Die leiseste Erschütterung
dieser Traumwelt kann zu Panik und Depression führen.
Hält der Wirtschaftsabschwung lang
genug an, verwandeln sich Produktionsanlagen durch Nichtbenutzung mehr oder minder automatisch zu Schrott.
Nach einer gewissen Zeit erledigt sich das Problem der Überkapazitäten von selbst, brachliegende
Produktionsmittel werden der Korrosion ausgesetzt und vom technischen Fortschritt abgehängt, der in
einigen Forschungs- und Entwicklungsabteilungen trotz Krise weitergetrieben wird.
Ist das Problem der
Überkapazitäten auf diese Weise erst einmal gelöst, was freilich eine ganze Weile dauern
kann, liegt es in der Hand der Unternehmer, durch Investitionen für Nachfrage und damit für einen
Konjunkturaufschwung zu sorgen. Freilich könnten freiwillige Lohnsteigerungen und dadurch steigende
Konsumgüternachfrage zum gleichen Resultat führen, doch das ist von Unternehmern, die um des
Profits willen investieren, nicht zu erwarten.
Hier gilt das Wort des Linkskeynesianers
Lord Nicholas Kaldor: Kapitalisten verdienen, was sie ausgeben, Arbeiter geben aus, was sie verdienen.
Selbst wenn die Löhne — und damit die Konsumausgaben — niedrig und die Kredit billig
bleiben, kommt der Aufschwung nicht von selbst. Um das Wagnis der Investition in produktive Anlagen und
Beschäftigung einzugehen, bedarf es eines Unternehmertypus, der eine Vision von der zukünftigen
Wirtschaftsentwicklung hat, an der Verwirklichung dieser Vision mitzuwirken bereit ist und dabei auch das
Risiko des Scheiterns eingeht.
Diesen Typus hat der erzliberale Ökonom
Joseph Schumpeter immer wieder beschworen. In den 40er Jahren kam er jedoch angesichts des Übergangs
von einem Kapitalismus mit „monopolistischen Unternehmenspraktiken”, die er zur Durchsetzung
radikaler Innovationen für notwendig hielt, zu einem politisch organisierten Kapitalismus zu dem
Schluss, dass die „Unternehmerfunktion veralte” und der „Marsch in den Sozialismus”
leider unausweichlich sei. Letzteren stellte er sich genauso bürokratisch verwaltet vor, wie er in der
Sowjetunion gerade entstanden war.
Schumpeters Pessimismus erwies sich damals
als unzeitgemäß, stand doch der längste und kräftigste Boom der kapitalistischen
Geschichte unmittelbar bevor. Als dieser in den 70er Jahren dann in einer Serie von Währungs-,
Haushalts- und Konjunkturkrisen endete, besannen sich bürgerliche Ideologen auf Schumpeters Analysen
und wandelten sie dahingehend ab, entschlossene Unternehmer müssten sich nunmehr an die Zerstörung
des Sozialstaats machen, sollte der Weg wieder frei werden für Innovationen und Prosperität. Auf
diese Weise könnte der Marsch in den Sozialismus doch noch aufgehalten und die Menschheit auf die Bahn
der unternehmerischen Freiheit und Initiative geleitet werden.
Diese Vision beflügelte praktische
Unternehmer, Lobbyisten und Politiker. Beginnend in den 80er Jahren machten sie sich daran, Sozialstaaten
zurückzudrängen, zu zerstören oder zu umgehen. Zusätzlich beflügelte sie der
— in Schumpeters Analyse nicht vorgesehene — Zusammenbruch der Sowjetunion. Unter der neuen
Hülle von Börse, Bits und Bytes blieb die Ökonomie jedoch wesentlich eine auf Gewalt und
Öl beruhende Massenproduktion.
War Schumpeter zu pessimistisch gewesen,
erwiesen sich seine Erben als zu optimistisch. Auf ihrem Kreuzzug gegen Sozialstaat und Sozialismus haben
sie neue Modelle betrieblicher und internationaler Arbeitsteilung geschaffen und sämtliche
Produktionsmittel und Konsumgüter mit Informationstechnik vollgestopft.
Einen Wachstumsimpuls, der der
Einführung des Fließbands und der Standardisierung in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts
vergleichbar wäre, haben sie damit jedoch nicht ausgelöst.
Aus den Trümmern des Sozialstaats ist
keine neue Prosperität erwachsen — bestenfalls Innovationsrhetorik, die ebenso aufgeblasen ist
wie die sie begleitende Börsenspekulation.
Beide sind mit der aktuellen Krise an ein
Ende gekommen. Mag die Finanzwelt es in den letzten Wochen auch geschafft haben, sich wieder etwas Mut zu
machen — ihre Vision einer von ungehinderter Unternehmerinitiative vorangetriebenen Prosperität
zerrinnt ihr zwischen den Fingern.
Der Kapitalismus steckt auch in einer tiefen
ideologischen Krise, und die Linke kann zeigen, ob sie realitätstüchtige Ideen für eine
nicht-kapitalistische Entwicklung hat.
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