SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2009, Seite 22

Filmtipp

In die Welt

Österreich 2008, Regie: Constantin Wulff (Kinostart: 28.5.2009 Köln, Berlin, München; 18.6.2009 Oldenburg, 25.6. Frankfurt

von Angela Huemer

Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Fernsehen und Kino ist der Ton: Ob es nun Fernsehdokus, Fernsehfilme oder Seifenopern sind, die wesentlichen Dinge werden durch einen Kommentar, eine Narration oder einen redundanten Dialog akustisch erklärt. Im Kino muss man genau hinsehen, um alles mitzubekommen.
In seinem mehrfach preisgekrönten Dokumentarfilm In die Welt (3sat-Preis, Diagonale-Preis für den besten österreichischen Dokumentarfilm) greift der in Wien lebende Schweizer Constantin Wulff ganz bewusst und sehr erfolgreich auf ein spartanisches Kinogenre, ein Dokumentarfilm-Genre zurück: „Direct Cinema”, direktes Kino. Fünf Wochen lang drehte er mit seinem Kameramann Johannes Hammel in der traditionellen Wiener Geburtsklinik Semmelweis.
"Direct Cinema” heißt, dass der Filmemacher reiner Beobachter ist, es gibt keinen Kommentar, keine Musik oder direkte Interviews. Die große Mehrzahl der Geburten in Österreich sind Klinikgeburten, erzählt Constantin Wulff bei der Vorpremiere in Köln, diese Realität wollte er darstellen, „eine Chronik vom Beginn des Lebens und dessen Organisation”, heißt es auf der Internetseite zum Film. Die Wahl fiel auf die Semmelweis-Klinik vor allem deshalb, weil sie sich auf Geburten konzentriert, und weil der Regisseur die Zusicherung erhielt, dass die Klinik keinen Einfluss auf das Resultat nehmen würde. Die fünf Wochen Drehzeit waren „willkürlich”, man wählte diesen Ausschnitt, denn nicht ein Ereignis war das Thema, sondern die Klinik als Institution, wobei die Organisation der Geburt auch viele gesamtgesellschaftliche Aspekte andeutet.
"Direct Cinema”, das Genre, dessen Regeln Wulff hier folgt, entstand in den 60er Jahren in den USA. D.A.Pennebaker, Albert und David Maysles, Frederick Wiseman sind die bekanntesten Vertreter; sie versuchten eine Art verdichtete Realität, die aber durchaus dramaturgischen Regeln folgt, die auch Spielfilmen zugrunde liegen.
Der Regisseur von In die Welt, Constantin Wulff, ist auch ein fundierter Dokumentarfilmtheoretiker, er hat filmtheoretische Bücher verfasst, war jahrelang Leiter des österreichischen Festivals „Diagonale” und kuratiert regelmäßig Dokumentarfilmreihen.
Wie elaboriert dieser scheinbar nur beobachtende Film ist, zeigt sich daran, dass Wulff und sein Cutter Dieter Pichler sich für den Schnitt ein Jahr lang Zeit nahmen. In manchen Szenen, den Erstgesprächen, Ultraschalluntersuchungen, hat man den Eindruck, mehr als eine Kamera sei am Werk gewesen; doch es zeigt sich hier die genaue Vorbereitung, Intention und kluge Regiearbeit. Anders als in den Dokus, die man gewöhnlich zu sehen bekommt, sieht man Momentaufnahmen, wir erfahren nicht, wie sich die einzelnen Geschichten weiterentwickeln.
Schön ist der große Respekt, der die Kamera leitet. Bei den drei Geburten, die man im Film teilweise miterlebt, wahrt die Kamera Distanz; wichtig ist die Kommunikation unter den Beteiligten, Mutter, Vater, Hebamme, nicht anatomische Details. So erscheint der Kaiserschnitt fast wie ein Bruch gegen Ende des Films, hier nimmt der Film auch Stellung, wenngleich Wulff betont, keine Wertung beabsichtigt zu haben. Der Kontrast zu den sog. natürlichen Geburten ist groß; hier erhält der Titel des Films In die Welt eine zusätzliche Bedeutung. Angesichts der aktuellen medialen Diskussion in Österreich rund um die Sectio soft, den sanften Kaiserschnitt, gewinnt der Film durchaus eine realpolitische Dimension.
Bisweilen würde man gerne mehr von der „Institution” sehen, den bürokratischen Vorgängen, Hierarchien und Routinen in der Klinik. Wulff erzählt bei der Vorpremiere, dass es überraschend leicht war, die Zustimmung der Eltern zu bekommen und dass die Klinik den Film durchaus als Anlass zur Selbstkritik nahm. Auffallend auf der Internetseite des Films — in den Kommentaren und auch im Kino — ist der hohe weibliche Anteil am Kinopublikum. In Köln waren zudem auch einige Hebammen anwesend, selten habe ich eine so lange und intensive Diskussion nach einem Film erlebt.
Der Film richtet sich aber an alle, es tut gut zu sehen, dass es keiner „scoops”, Sensationen, dramatisierender Verstärker braucht, um die Zuschauer zu fesseln. Der Begründung der Jury des Duisburger Filmwoche für den 3sat-Preis kann ich mich nur anschließen: „Für das Miteinander von Patientin und Personal ist alles geplant, vieles bleibt dennoch unwägbar. Durch die Reibung eines Regelwerks mit Momenten individuellen Glücks und Leidens entwickelt In die Welt seine besondere Spannweite: nüchtern und zugleich von physischer Wucht, intim, doch nicht voyeuristisch, distanziert, aber nie teilnahmslos."


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