SoZ - Sozialistische Zeitung |
Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Fernsehen und Kino ist der Ton:
Ob es nun Fernsehdokus, Fernsehfilme oder Seifenopern sind, die wesentlichen Dinge werden durch einen
Kommentar, eine Narration oder einen redundanten Dialog akustisch erklärt. Im Kino muss man genau
hinsehen, um alles mitzubekommen.
In seinem mehrfach preisgekrönten
Dokumentarfilm In die Welt (3sat-Preis, Diagonale-Preis für den besten österreichischen
Dokumentarfilm) greift der in Wien lebende Schweizer Constantin Wulff ganz bewusst und sehr erfolgreich auf
ein spartanisches Kinogenre, ein Dokumentarfilm-Genre zurück: „Direct Cinema”, direktes
Kino. Fünf Wochen lang drehte er mit seinem Kameramann Johannes Hammel in der traditionellen Wiener
Geburtsklinik Semmelweis.
"Direct Cinema” heißt, dass
der Filmemacher reiner Beobachter ist, es gibt keinen Kommentar, keine Musik oder direkte Interviews. Die
große Mehrzahl der Geburten in Österreich sind Klinikgeburten, erzählt Constantin Wulff bei
der Vorpremiere in Köln, diese Realität wollte er darstellen, „eine Chronik vom Beginn des
Lebens und dessen Organisation”, heißt es auf der Internetseite zum Film. Die Wahl fiel auf die
Semmelweis-Klinik vor allem deshalb, weil sie sich auf Geburten konzentriert, und weil der Regisseur die
Zusicherung erhielt, dass die Klinik keinen Einfluss auf das Resultat nehmen würde. Die fünf
Wochen Drehzeit waren „willkürlich”, man wählte diesen Ausschnitt, denn nicht ein
Ereignis war das Thema, sondern die Klinik als Institution, wobei die Organisation der Geburt auch viele
gesamtgesellschaftliche Aspekte andeutet.
"Direct Cinema”, das Genre, dessen
Regeln Wulff hier folgt, entstand in den 60er Jahren in den USA. D.A.Pennebaker, Albert und David Maysles,
Frederick Wiseman sind die bekanntesten Vertreter; sie versuchten eine Art verdichtete Realität, die
aber durchaus dramaturgischen Regeln folgt, die auch Spielfilmen zugrunde liegen.
Der Regisseur von In die Welt, Constantin
Wulff, ist auch ein fundierter Dokumentarfilmtheoretiker, er hat filmtheoretische Bücher verfasst, war
jahrelang Leiter des österreichischen Festivals „Diagonale” und kuratiert
regelmäßig Dokumentarfilmreihen.
Wie elaboriert dieser scheinbar nur
beobachtende Film ist, zeigt sich daran, dass Wulff und sein Cutter Dieter Pichler sich für den Schnitt
ein Jahr lang Zeit nahmen. In manchen Szenen, den Erstgesprächen, Ultraschalluntersuchungen, hat man
den Eindruck, mehr als eine Kamera sei am Werk gewesen; doch es zeigt sich hier die genaue Vorbereitung,
Intention und kluge Regiearbeit. Anders als in den Dokus, die man gewöhnlich zu sehen bekommt, sieht
man Momentaufnahmen, wir erfahren nicht, wie sich die einzelnen Geschichten weiterentwickeln.
Schön ist der große Respekt, der
die Kamera leitet. Bei den drei Geburten, die man im Film teilweise miterlebt, wahrt die Kamera Distanz;
wichtig ist die Kommunikation unter den Beteiligten, Mutter, Vater, Hebamme, nicht anatomische Details. So
erscheint der Kaiserschnitt fast wie ein Bruch gegen Ende des Films, hier nimmt der Film auch Stellung,
wenngleich Wulff betont, keine Wertung beabsichtigt zu haben. Der Kontrast zu den sog. natürlichen
Geburten ist groß; hier erhält der Titel des Films In die Welt eine zusätzliche Bedeutung.
Angesichts der aktuellen medialen Diskussion in Österreich rund um die Sectio soft, den sanften
Kaiserschnitt, gewinnt der Film durchaus eine realpolitische Dimension.
Bisweilen würde man gerne mehr von der
„Institution” sehen, den bürokratischen Vorgängen, Hierarchien und Routinen in der
Klinik. Wulff erzählt bei der Vorpremiere, dass es überraschend leicht war, die Zustimmung der
Eltern zu bekommen und dass die Klinik den Film durchaus als Anlass zur Selbstkritik nahm. Auffallend auf
der Internetseite des Films — in den Kommentaren und auch im Kino — ist der hohe weibliche
Anteil am Kinopublikum. In Köln waren zudem auch einige Hebammen anwesend, selten habe ich eine so
lange und intensive Diskussion nach einem Film erlebt.
Der Film richtet sich aber an alle, es tut
gut zu sehen, dass es keiner „scoops”, Sensationen, dramatisierender Verstärker braucht, um
die Zuschauer zu fesseln. Der Begründung der Jury des Duisburger Filmwoche für den 3sat-Preis kann
ich mich nur anschließen: „Für das Miteinander von Patientin und Personal ist alles geplant,
vieles bleibt dennoch unwägbar. Durch die Reibung eines Regelwerks mit Momenten individuellen
Glücks und Leidens entwickelt In die Welt seine besondere Spannweite: nüchtern und zugleich von
physischer Wucht, intim, doch nicht voyeuristisch, distanziert, aber nie teilnahmslos."
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |