SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2009, Seite 04

Eine erste Bilanz des Bildungsstreiks

„Ich konnte nicht demonstrieren, ich krieg zu wenig Schlaf”

von Thomas Goes

Rund 250000 Schülerinnen, Schüler und Studierende haben in der vergangenen Woche an den Bildungsprotesten teilgenommen. Das ist eine ganze Menge. Sicherlich gibt es in der Zusammensetzung der Aktiven und Demonstrierenden beträchtliche örtliche Unterschiede. In vielen Städten ist es aber gerade an den Universitäten weniger gut gelungen, breit zu mobilisieren. Studiendruck, wenig Zeit und ein gewisser Mangel an einer realistischen politischen Perspektive mögen dazu beigetragen haben. Einerseits.
Andererseits heißt das auch: 250000 sind gegen die neuen Zumutungen auf die Straße gegangen. Der Proteststoff ist ein gefühlter Zustand — ein Zustand, der viele Studierende unglücklich macht, stresst und verunsichert. Es waren deshalb auch nicht ganz konkrete Ziele, sondern das Bildungssystem und die Studienstrukturen insgesamt, die den Unmut der Studierenden weckten. Es ging um die „Gesamtscheiße” wie es auf einer Vollversammlung hieß. Oder eben darum, dass es zu viel Arbeit und zuwenig Schlaf gibt an deutschen Hochschulen.
Dieser Druck führt aber nicht automatisch zu Kritik und breitem Protest. In einem Workshop während der Bildungsstreikwoche outete sich eine Teilnehmerin: „Ich konnte nicht demonstrieren, ich krieg zu wenig Schlaf wegen der Abgabetermine.” Das ist paradox. Und so sind die Reaktionen auf den Studienalltag insgesamt sehr widersprüchlich. Da gibt es jene, die sich eine Zulassungsbeschränkung wünschen, um nicht soviel Konkurrenz aushalten zu müssen; andere arbeiten umso fleißiger. Nicht zu unterschätzen ist der Teil, der versucht, sich irgendwie durchzuschlagen, nicht wenige bleiben dabei auf der Strecke. Andere bilden den Kern der jüngsten Protestaktionen, die kritische Masse. Die ist gar nicht so klein. Zu erreichen gilt es allerdings die anderen. Diejenigen, die versuchen, durch Fleiß und Ellbogen zu bestehen.
Der Bildungsstreik war ein guter Anfang, und 250000 machen Mut. Streikevents und linke Kampagnen allein werden den durch Druck, Wettbewerb und Auslese geprägten Unialltag jedoch nicht aufbrechen. Dazu braucht es mehr.
Mit welcher Politik das erreicht werden kann, bleibt nun einer breiteren Debatte übrig zu klären. Zu Pessimismus gibt es keinen Anlass. Ein möglicher Weg für den SDS: Weniger Kampagnen- und Kongressarbeit, dafür eine intensivere Arbeit in Fachschaften und im Aufbau studentischer Gruppen, die sich mit den Alltagsproblemen auseinandersetzen. Architektinnen, die nur drei Stunden die Nacht schlafen können — und das über Wochen — werden durch einen generellen Bildungsstreik vielleicht weniger mobilisiert, als durch Kommilitoninnen, die sich gegen das dichte Zeitregime, die vielen Arbeitsproben usw. einsetzen. Als sozialistischer Studierendenverband soll man das eine tun und das andere nicht lassen. Der Frust an den Hochschulen ist groß, er muss „nur” politisch artikulierbar werden.

Thomas Goes ist Mitglied im SDS und aktiv in der Partei DIE LINKE in Kassel.


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