SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2009, Seite 04

Verblendung durch Unkenntnis und versteckte Sympathie

Offener Brief betreffend die Wahlen im Iran

von Mohssen Massarrat

Viele Menschen in der Bundesrepublik Deutschland lassen sich — wahrscheinlich aus Unkenntnis der internen komplexen Zusammenhänge im Iran, manche Linke sogar aus versteckter Sympathie für den „großen” US- und Israel-Widersacher und angeblichen Freund der Armen im Iran, Ahmadinejad — zu folgenden zwei falschen Aussagen verleiten:
1. Ahmadinejad hätte durch seine konsequente Politik gegen die Korruption und die reiche Elite sehr viel Rückhalt in der Bevölkerung und daher auch die Wahl tatsächlich gewonnen — entgegen der Behauptung der Reformbewegung, hinter der vor allem die Reichen und westlich Orientierten aus dem Norden Teherans stünden.
2. Die Reformbewegung sei zum Scheitern verurteilt, da die Streitkräfte des Iran voll hinter dem Präsidenten und dem Revolutionsführer stünden.
Im Folgenden möchte ich genauere Aussagen zum Wahlbetrug und zur weiteren Entwicklung machen:
Insider aus dem iranischen Innenministerium haben anonym folgende detaillierte Angaben zu den Wahlen am 12.Juni 2009 im Iran veröffentlicht:

Stimmberechtigte: 49322412

Abgegeb.Stimmen: 42044178(100%)

Mousavi: 19075623 (45,4%)
Karroubi: 13378109 (31,8%)
Ahmadinejad: 5698417 (13,6%)
Rezai: 3754218 ( 8,9%)

Ungültige Stimmen: 137816 ( 0,3%)

Viele Indizien sprechen dafür, dass diese Details die tatsächliche Zählung wiedergeben. Die Detailinfos haben sowohl Mousavi als auch Mohsen Rezai, der andere Kandidat, jeweils auf ihrer Webseite veröffentlicht. Wären die Angaben wahrheitswidrig, hätten sie dem Regime einen triftigen Vorwand für ihre Verhaftung und Verurteilung wegen aufrührerischer Falschmeldung geliefert. Dies gilt in noch stärkerem Maße für Mohsen Rezai, da er als Sekretär des Expertenrats (der Institution, die Khamenei formal abwählen könnte) sogar zum Landesverrat verurteilt, zumindest seines Amtes enthoben werden könnte. Nichts dergleichen geschah bisher, offensichtlich aus dem einfachen Grund, es könnte eine noch größere Schlappe des Regimes vor Gericht oder ein Schauprozess daraus werden.
Ein weiterer Beleg, der den Wahrheitsgehalt der obigen Zahlen untermauert, sind die offiziell bestätigten Wahlergebnisse der Exiliraner in Deutschland. Demnach entfallen bei den in den Konsulaten in Berlin, Bonn, Frankfurt/M., Hamburg und München abgegebenen 8886 (100%) Stimmen auf Mousavi 6894 (77,6%), Ahmadinejad 1137 (12,8%), Karroubi 598 (7,9%), Rezai 146 (1,5%), ungültig 111 (1,2%). Die Zahlen stehen auf den Webseiten der jeweiligen Konsulate bzw. der Botschaft der Islamischen Republik Iran in Berlin. Während der Anteil von 12,8% für Ahmadinejad in Deutschland sich weitgehend mit dem im Iran deckt, ist der Anteil von 77,6% für Mousavi (im Iran 45,4%) offenbar deshalb deutlich höher, weil die anderen zwei Gegner Ahmadinejads, Karroubi und Rezai, bei den Exiliranern weniger bekannt sind.
Im Übrigen belegen die Bekanntmachungen in Deutschland, dass die Wahlergebnisse nicht bei den Wahlurnen, sondern zentral im Innenministerium gefälscht worden sein müssen. Bei den Unstimmigkeiten in einigen Wahlbezirken, die aller Wahrscheinlichkeit nach auch geschehen sind, handelt es sich offenbar um den Versuch des Wächterrats, von der gigantischen zentralen Fälschung der eingegangenen Stimmen im Innenministerium abzulenken.
Ahmadinejad hat ganz sicher 5—6 Millionen Wähler für sich mobilisieren können. Hierunter fällt die Landbevölkerung, die — über die wirklichen sozialen und ökonomischen Folgen von Ahmadinejads Politik uninformiert — auf dessen „Wahlgeschenke” hereingefallen ist. Zu festen Anhängern des Präsidenten zählen Teile der Revolutionswächter und der Bassidjis (paramilitärischen Kräfte), die die unmittelbaren Nutznießer seiner klientelistischen Politik sind und die deshalb auch bereit sind, sich hinter den Präsidenten zu stellen und auf demonstrierende Menschen erbarmungslos einzuschlagen. Es wäre verhängnisvoll, den Klientelismus eines Präsidenten in einem klassischen Rentiersstaat mit einer Arbeitsbeschaffungsstrategie zu verwechseln. Der Klientelismus ist in Wahrheit das Fundament der Korruption und Misswirtschaft.
Abschließend eine wichtige Nachricht: Gerade las ich den Offenen Brief von Ebrahim Nabavi, ein sehr bekannter und zugleich moslemisch frommer Schriftsteller, an Ayatollah Khamenei, mit der Überschrift: „Das Volk wird Sie zurückweisen.” In diesem emotionalen, aber die Gefühle vieler Iraner m.E. authentisch reflektierenden Brief schreibt Nabavi u.a.: „Das, was im Zusammenhang mit den Wahlen stattfand, beschränkt sich nicht auf die große Lüge, eine derart große Lüge, die man leichter beweisen als zurückweisen kann. Was das Volk ärgert und auf die Straße treibt, ist die Dreistigkeit und Unverschämtheit des Staatspräsidenten, der vor laufenden Kameras sich nicht scheute, alle Wahrheiten zu leugnen. Er zollte nicht nur der Intelligenz der Menschen keinen Respekt, sondern auch nicht der logischen Kraft einfacher Rechenaufgaben. Die Menschen sind zornig, weil der Präsident glaubt, die Stimmen und das Denken der Menschen so billig kaufen zu können. Die Menschen sind zornig, weil er ihnen ins Gesicht lügt und ihnen weis zu machen versucht, dass das, was wirklich geschehen ist, gar nicht stattgefunden hat. Die Menschen sind zornig, weil der Präsident das Volk als niederträchtig beleidigt. Herr Khamenei, wir sind nicht niederträchtig..."


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