SoZ - Sozialistische Zeitung |
Mit einer Aktionswoche vom 16. bis 20.Juni machten
Schülerinnen, Schüler und Studierende auf den Bildungsnotstand aufmerksam.
Der Wettergott war den
Studierenden wohl gesonnen: Bei strahlendem Sonnenschein versammelten sie sich am Mittwoch,
dem 17.Juni, morgens um 10 Uhr vor der Kölner Universität und zogen dann in Richtung
Zülpicher Platz. Dort trafen sie auf Schüler und Auszubildende, die ebenfalls am
Bildungsstreik teilnahmen.
Kurz vor dem Zülpicher
Platz komme ich mit Lena ins Gespräch, eine Medizinstudentin. Sie ist gekommen, weil sie
gegen die gesamte Tendenz angehen will, die Entwicklung gehe zu weit weg vom Humboldtschen
Prinzip. Wie ist das denn mit der Anwesenheitspflicht, von der soviel gesprochen wird,
versäumt sie denn heute was? Ja, aber das hier ist heute wichtiger, und sie erzählt
von ihrem Anatomieprofessor, der seine Studenten wissen ließ, normalerweise sei er
stinksauer, wenn sie nicht zur Lehrveranstaltung kommen, diesmal ist es umgekehrt, er ist
stinksauer, wenn sie kommen. Ein Grund mehr für Lena, die ihr Studium durch drei Jobs
finanziert — als Tutorin, Schauspielpatientin und Ergotherapeutin.
Es dauert eine ganze Weile,
bis sich die Gruppen von Studierenden, Schülern und Azubis am Zülpicher Platz
treffen und gemeinsam den Ring entlang weiterziehen. Am Straßenrand stehen zwei
Mitarbeiterinnen der Kölner Verkehrsbetriebe (KVB). Wie finden sie denn das, was die
Studenten hier machen? Gut, meinen beide unisono. Sie sind Werkschutzkräfte. Eine von
ihnen ist noch in der Türkei zur Schule gegangen, sie kam mit 16 Jahren nach Deutschland.
Zwei Jahre musste sie noch die Schulbank drücken, bevor sie ihre Ausbildung zur Friseuse
absolvieren konnte. Für ihren jetzigen Job wurden sie von der KVB ausgebildet, drei Jahre
lang. Beide haben Kinder, beide hoffen, sie studieren zu lassen. Aber, meint die eine,
„mein Sohn ist vier Jahre alt, ich muss wohl schon jetzt zu sparen beginnen, damit er
einmal studieren kann”
Langsam kommt der
Demonstrationszug daher. Die Stimmung ist fröhlich. Musik ertönt, viele tragen die
kanariengelben T-Shirts, die von der bundesweiten Aktionsgruppe für 3 Euro verkauft
werden. Vor einer juristischen Buchhandlung am Ring steht ein junger Mann und schaut kritisch.
Ich spreche ihn an und frage ob er auch Student sei. Ja, Jura im 4.Semester, er ist gerade auf
dem Weg, sich was zu Essen zu holen, und war neugierig, aus der Nähe zu sehen, was da
heute passiert. Auch seine Mutter habe ihm geraten, sich das mal anzusehen. Warum er nicht
mitgeht, will ich wissen. Naja, die Anliegen teilt er ja größtenteils, aber er ist
eben sehr kritisch und findet einiges hier zu pauschal und blauäugig. Die vielfach
vorhandene Kritik am neuen Bachelor- und Masterstudiengang trifft ihn nicht, das Jurastudium
dauert immer noch zehn Semester, erstes und zweites Staatsexamen und keine
Anwesenheitspflicht. Er selbst kann sein Studium durch seine Eltern finanzieren und ist sehr
froh darüber.
Am Rudolfplatz kommt die
Demonstration zum „Stehen”, einige Studenten blockieren die Straße und die
Straßenbahnschienen. Hier fallen mir zum ersten Mal die vielen Schüler auf.
Mir wird klar, wie wenig ich
über den heutigen Studienalltag weiß, mein eigener liegt nun doch eine Weile
zurück. Ich komme mit Philipp ins Gespräch, ein Student der Sozialwissenschaft.
Philipp besucht in diesem Semester vier Vorlesungen, zwei Übungen und ein Proseminar.
Anwesenheitspflicht gibt es nur bei den Übungen und dem Proseminar — also wie schon
bei mir vor 20 Jahren. Die Übung war für zwölf Teilnehmer ausgelegt, jetzt
nehmen aber 40—50 Studenten daran teil, zweimal mussten sie schon den Raum wechseln und
die Übung ist jetzt keine solche mehr, sondern eine Vorlesung. Bei jeder Veranstaltung
werden „Leistungspunkte” gesammelt. Er selbst wird von seinen Eltern
unterstützt, er erzählt mir aber von seiner Freundin, die Bafög bezieht —
550 Euro im Monat. Für die Studiengebühren muss sie einen Kredit aufnehmen. Bei
sechs Semestern Studiendauer hat sie bei Berufsbeginn so schon 13000 Euro Schulden.
Auf dem Weg zum Heumarkt
erzählt mir der Geografiestudent Jonas von seinem Alltag. Er ist im 4.Semester, einer aus
der ersten „Bachelor-Generation” An drei Tagen in der Woche ist er an der Uni, er
fühlt sich unterfordert und kann nicht so viele Lehrveranstaltungen machen, wie er gerne
würde, weil sie nicht angeboten werden. Dadurch kann er auch nicht in sechs Semestern
abschließen. Zu tun hat er genug. Seine Eltern können ihm nichts zahlen, seine
Mutter ist Tagesmutter und sein Vater arbeitet bei einem Callcenter in Holland. Er hat drei
Geldquellen, hin und wieder spendet er Blut, räumt Regale im Supermarkt ein und verteilt
Werbeflyer.
Geografie ist nicht so
überlaufen wie andere Studienrichtungen, trotzdem sitzen 100—150 Leute in einer
Vorlesung und 20—30 im Seminar. Sein Hauptanliegen sind die Studiengebühren, auch
das fehlende Angebot ärgert ihn sehr. Später würde er noch gerne einen Master
machen, vorher will er aber arbeiten.
Ein bisschen plattgemacht wirken sie, die mehr als 250 Studenten, die nach der langen
Demonstration zur Vollversammlung am Mittwochnachmittag kommen. Statt Bier trinkt hier der
eine oder andere ein bekanntes Aufputschgetränk zur Erfrischung, nicht wenige haben
deutlichen Sonnenbrand erlitten. Die Farbe Gelb ist hier noch dominanter als auf der Demo. Es
geht fast zu diszipliniert zu.
Man nimmt sich Zeit, die
Tagesordnung aufzustellen: Soll man zuerst Inhaltliches diskutieren, die nächsten
Aktionen besprechen, oder will man nicht doch lieber erst Berichtenswertes aus der bisherigen
Aktionswoche hören? So ist es dann auch: 1.) Berichte, 2.) Aktionen und 3.) Inhaltliches.
Auf der Tafel daneben notiert ein Student eine Telefonnummer — für die Studenten,
die womöglich Schwierigkeiten mit der Polizei kriegen sollten. Dafür gibt es auch
Tipps, zwei Telefonate darf man tätigen, wenn man in Gewahrsam genommen wird. Angesichts
der absolut entspannten Atmosphäre am Morgen ist das eine reine Formalität.
Das Fazit ist positiv. Unter
viel Applaus berichtet ein Student, wieviel in den anderen Städten los war. Ein wichtiges
Anliegen ist, die Diskussion fortzuführen, wenn möglich in den einzelnen
Lehrveranstaltungen. Und man fragt sich, wie man zögernde Kommilitonen besser ansprechen
und einbeziehen kann. Besonders wichtig ist ihnen, einen intensiveren Kontakt zu den
Dozierenden aufzubauen, vor allem zu denen, die sich offen mit ihnen solidarisieren. Insgesamt
ist Solidarität wohl eines der wichtigsten Schlagworte dieser Versammlung — auch
die Solidarität zu den Schülerinnen und Schülern. Der Applaus brandet noch mal
richtig auf, als sich zwei Schülerinnen zu Wort melden. Kurz werden gegen Ende die
Aktionen des nächsten Tages angekündigt, das Aktionscamp vorgestellt — u.a.
gibt es dort was zu essen und gemütliches Beisammensein.
Der Enthusiasmus springt
rüber. Mir fällt ein, dass ich auch mal gestreikt habe und wir die Uni besetzten,
damals gab es keine Studiengebühr, aber Lehrende und Ressourcen fehlten auch damals
schon, und ich weiß auch, wie wichtig es war für mich, dieses
Gemeinschaftsgefühl zu erleben, das Gefühl, aktiv für etwas einzutreten.
Tags darauf stehen kurz vor 14 Uhr rund 20 Studierende am Rudolfplatz, diesmal fast
ausschließlich in gelb gekleidet. Außerdem haben sie Bananen mitgebracht, Bananen
mit Bildungsstreikaufkleber. Ganz klar, sagt die Studentin, die schon tags zuvor bei der
Vollversammlung sehr aktiv war, sie wollen nur versuchen, in die Bank rein zu gehen, um mit
den Leuten dort zu sprechen, keineswegs wollen sie was erzwingen oder sich mit
Sicherheitsleuten oder Polizei anlegen. Tags zuvor meinte sie, Medien würden erwartet und
die warten nur auf negative Bilder, „die werden wir ihnen nicht liefern”
Das Hauptziel der Aktion ist,
Medienecho zu provozieren. Das klappt. Eine Studentin „verhackstückt” (wie
sie mehrmals sagt) den Ablauf mit einer Polizistin und klärt die Anzahl der Teilnehmer,
die mitgebrachte Musik usw. Langsam gehen sie in Richtung Friesenplatz. Mittlerweile sind es
so um die 50 Studierenden. Ein kleiner mobiler Musikwagen ist dabei, laute Technomusik
beschwingt den Weg zur Bank.
Vor der Commerzbank am
Friesenplatz machen die Studenten halt. Nur wenige Passanten sind unterwegs. Eine Handvoll
Polizisten steht am Straßenrand, ein Kameramann ist da, einige Fotografen. Fast scheint
es, als ob die Studenten ihren Banküberfall auch farblich geplant haben, das Gelb ihrer
T-Shirts und der Bananen passt gut zum Gelb des Commerzbank-Logos. Die Atmosphäre ist
fröhlich. „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut.”
Einige schaffen es in den Vorraum der Bank, dort wo die Bankautomaten sind. Die Sprecherin
fragt die Bankbeamten, ob sie denn nicht wenigstens ein paar Bananen mit ihnen essen wollen.
Keine Reaktion. Nach einer Weile werden die Bankleute nervös, der Sicherheitsmann steht
im Weg, ganz ruhig und ohne Probleme kommen die Studenten wieder heraus. „Bei den Banken
sind sie fix, für die Bildung tun sie nix”, improvisiert einer von ihnen, als sie
das Transparent einrollen und zum Ausgangspunkt zurückgehen. Dort werden dann auch die
Bananen verzehrt.
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