SoZ - Sozialistische Zeitung |
Die Ver.di-Linke bereitet für den 10./11. Oktober in Dortmund eine bundesweite Konferenz zur
Thema Arbeitszeit vor. Gewinnt das Thema in der Krise wieder Auftrieb, nachdem sich selbst
Gewerkschafter jahrelang geweigert haben, es nochmal anzupacken?
Auf unserer Konferenz im Oktober wird es um Arbeitsverdichtung, unbezahlte Arbeit und den Umgang
mit Flexibilisierung gehen — die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung steht in diesem
Zusammenhang. Das ist etwas anderes als die Diskussion um die Einführung der 30-Stunden-Woche,
für die Attac vor ein paar Jahren mit einer Arbeitszeitkonferenz geworben hat. Ansätze der
letzteren Art sind in den letzten Jahren alle ins Leere gelaufen — hauptsächlich deshalb,
weil sie am Schreibtisch konzipiert waren, statt das Thema von unten, von der betrieblichen
Wirklichkeit her zu entwickeln. Immer wieder haben auch Gewerkschaftstage beschlossen: Arbeitszeit
ist ein ganz wichtiges Thema und muss in die Tarifrunde, aber alle Versuche in diese Richtung
scheiterten regelmäßig schon im Kreis der Vertrauensleute.
Sicher, die Krise ruft nach einer
neuen Initiative für Arbeitszeitverkürzung. Die meisten Gewerkschaftsaktiven aber
mögen sich auf die Detaildebatte, die dafür mit den Kolleginnen und Kollegen zu
führen ist, nicht einlassen.
Wie stellt sich eine Debatte um Arbeitszeitverkürzung im öffentlichen Dienst dar?
Woran lässt sich anknüpfen?
Ich schicke vorweg, dass meine Sichtweise beschränkt ist, weil ich in der Klinik das
männliche Vollzeitarbeitsverhältnis wenig erlebe — außer bei Ärzten. Ich
arbeite in einem Bereich, in dem es viele Frauen und massenhaft Teilzeitkräfte gibt. Die wollen
nicht 30 Stunden in der Woche arbeiten, sondern nur 20. Für sie ist entscheidend, dass mehr
Personal eingestellt wird. Dafür haben am 25.September 2008 130000 Beschäftigte aus den
Krankenhäusern in Berlin demonstriert.
Die Debatte um ein neues
Vollzeitarbeitsverhältnis mit einer höheren Stundenzahl, als sie jetzt haben, geht
völlig an ihnen vorbei. Wenn einige Ärzte 66 Stunden im Wochendurchschnitt arbeiten,
andere Beschäftigte aber nur 5 oder 10 Stunden und daran auch nichts umverteilen wollen, dann
bleibt es völlig abstrakt zu erklären: Wir wollen für alle die 30-Stunden-Woche.
Im Gesundheitswesen, aber auch im
Einzelhandel, spielt nicht so sehr die Menge der Arbeitsstunden pro Woche die Rolle, sondern die
Frage, wie sich die Arbeitsstunden auf die Tage verteilen, und die Gewalt darüber: also, dass
ich selber bestimmen kann, wann ich arbeite. Das Moment der Anti-Flexibilisierung, oder besser
gesagt: Die Durchsetzung einer Flexibilisierung entlang der Wünsche der Beschäftigten ist
diesen viel wichtiger.
Hängt der Wunsch nach mehr Personal nicht auch damit zusammen, dass die Arbeitsdichte so
zugenommen hat?
Das können wir im öffentlichen Dienst ganz schlecht messen. Über
Arbeitsverdichtung klagen die Kolleginnen seit dreißig Jahren, sie ist aber nicht der
Ausgangspunkt für ihre gegenwärtige Frustration.
Viel ärger sind ihnen die
ständigen Übergriffe auf ihre Freizeit, z.B. solche Anrufe: „Morgen sind wir zu
wenige, du musst kommen.” Dann erleben sie, dass sie ihre Freizeit letzten Endes doch nicht
als freie Zeit zur Verfügung haben; der Arbeitgeber behandelt sie als ein Reservoir zu seiner
Verfügung, damit er das Personal nach seinen Bedürfnissen einteilen kann. Er arbeitet ohne
Reserven, immer am personellen Limit, und lässt sich das aus der Freizeit der
Beschäftigten subventionieren. Er greift die Menge ihrer Arbeitszeit an — aus 25
Wochenstunden werden leicht 30 —, aber auch ihre Verteilung.
Wie bringst du da Arbeitszeitverkürzung ins Spiel?
Die Forderungen der Kolleginnen lassen sich auf einen Nenner bringen: Wir wollen die Fünf-
Tage-Woche.
Diese Forderung ist in Deutschland
recht alt, sie kommt aus den 50er Jahren. „Samstags gehört Vati mir”, plakatierte
der DGB zum 1.Mai 1956. Mit Erfolg — die Fünf-Tage-Woche kam in den Tarifvertrag: erst im
Steinkohlebergbau, dann bei Versicherungen und Banken, später in der Holzverarbeitung und in
der Druckindustrie. Doch gesetzlich darf man in Deutschland bis zu sechs Tagen arbeiten lassen. In
der Regel ist der Sonntag frei; ist er das nicht, muss es ein anderer Tag sein.
Die Wirklichkeit sieht noch ganz
anders aus. In ganz vielen Branchen arbeiten die Beschäftigten heute mehr als fünf Tage
hintereinander; viele beschweren sich: „Ich will in zwei Arbeitswochen wenigstens vier freie
Tage haben, ich will nicht zwölf Tage hintereinander zur Schicht und dann nur zwei Tage frei
haben."
So wird in vielen Altenheimen aber
gearbeitet. Viele gehen aus Verzweiflung auf Teilzeit. Der Arbeitgeber bietet dann meistens an, die
Tagesschicht zu kürzen, also statt sechs Stunden nur vier Stunden am Tag zu arbeiten. Dann
arbeiten sie immer noch zwölf Tage durch, aber immer nur kurze Schichten. Man kann sich
vorstellen, was das bedeutet, zwölf Tage hintereinander vier Stunden zu arbeiten,
womöglich noch mit einem Anfahrtsweg von ein bis zwei Stunden, und dann zwei Tage frei zu
haben.
Die Leute werden stinksauer, wenn
sie ihre freie Zeit nicht sinnvoll planen können. Die Forderung richtet sich deshalb auf mehr
freie Tage — das ist eine ganz andere Situation als Mitte der 80er Jahre, wo die Metaller und
Drucker für eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit gekämpft haben. Für
Jugendliche und vor allem für Teilzeitkräfte ist das Bezugsmodell die Fünf-Tage-
Woche. Das ist eine genauso magische Zahl wie die 30-Stunden-Woche.
Die hohen Schulden, die die Bundesregierung derzeit macht, um das Vermögen der
Kapitalanleger zu retten, drohen, als neue drakonische Sparwelle auf den öffentlichen Dienst
zurückzuschlagen. Dann wird es auch mit der Finanzierung von Arbeitszeitverkürzung
schwieriger, oder?
In den Bereichen, wo wir mehr qualifizierte Beschäftigte haben, werden wir schnell die
Debatte bekommen: Dann sollen die Erwerbslosen doch bei uns eingestellt werden, denn unsere Arbeit
ist hart und wir müssen sie alleine leisten. Und ich würde lieber zu zweit Nachtwache
schieben als allein. Dabei gibt es doch Menschen da draußen, die auf Arbeit warten. Wenn in den
nächsten Jahren wieder Arbeitsplätze im Gesundheitswesen abgebaut werden sollen, wird die
Diskussion um Neueinstellungen also anders geführt werden als bisher. Die Beschäftigten
kümmern sich nicht um die gesamtwirtschaftliche Lage. Sie sagen: Wir sind zu wenige, da
müssen welche mithelfen kommen.
In den letzten Jahren wurden sehr
viele Schutzbestimmungen für Arbeitszeiten in die Tarife und Gesetze hineingeschrieben —
gleichzeitig wurden fast jedes Mal Öffnungsklauseln definiert, wie man sie umgehen kann. Es
steht drin, dass wir die Fünf-Tage-Woche haben, aber wir dürfen auch an mehr Tagen
arbeiten.
Wir müssen also diese
Öffnungsklauseln umgehen und die Beschäftigten stark machen, dass sie ihre Arbeitszeit nur
noch in ganzen Schichten und nur noch an fünf Tagen in der Woche nehmen, so dass sie
tatsächlich nicht mehr als 42 Stunden die Woche arbeiten — statt darüber zu
diskutieren, ob sie nicht auch 55 oder 60 Stunden arbeiten können. Die Arbeitszeit ist aus ganz
individuellen, „egoistischen” Gründen zu verkürzen, „weil ich nicht mehr
kann” — nicht, weil es gut wäre für die Gesellschaft, wenn die Arbeitszeiten
generell radikal gekürzt und anders verteilt würde.
Von wem werden solche Initiativen getragen?
Auf jeder Gewerkschaftskonferenz steht jemand auf und sagt: Arbeitszeitverkürzung ist ganz
wichtig, das muss wieder sein, wenn die Gelegenheit günstiger ist und die Beschäftigten
sich nicht so sperren.
Gleichzeitig gibt es unter den
Gewerkschaftsaktiven eine ganz tiefe Abneigung gegenüber Arbeitszeitfragen, weil sie so
schwierig sind. Da muss man sich mit Fragen herumplagen wie: „Ich mache dauernd
Überstunden und weiß nicht, wo die herkommen.” Oder: „Meine Chefin befiehlt
mir, dass ich schon den dritten Sonntag hintereinander arbeiten komme. Darf sie das?” Das sind
alles sehr sperrige und komplizierte Fragen. Die Forderung „8% mehr Gehalt für
alle” habe ich demgegenüber schnell durchargumentiert, da muss ich mich nicht tief in die
Materie hinein knien.
Darum ist die Arbeitszeitpolitik in
den letzten Jahren so sträflich vernachlässigt worden. Es gibt wenige, die sagen: Das
machen wir zum Zentrum politischer und betrieblicher Mobilisierung.
Gibt es denn auf betrieblicher Ebene positive Beispiele, wie eine Kampagne für
Arbeitszeitverkürzung greifen kann?
Wir Ver.di-Linken im Gesundheitswesen — freigestellte Betriebsräte, Vertrauensleute
— haben 2002 mit der Losung angefangen: „Mein Frei gehört mir!” Da ging es
darum, dass der Arbeitgeber zu Hause anruft und sagt: „Morgen wird es eng, es ist jemand krank
geworden, ich mache eine Dienstverpflichtung und ordne dir an: Was du auch vorhast mit deiner
Freizeit, du musst trotzdem kommen.” Die Kolleginnen haben gefragt: Darf der Arbeitgeber das?
Und wir haben in der Rechtsöffentlichkeit durchgesetzt, dass das verboten ist.
Heute sind sich alle einig, so was
ist rechtsunwirksam. Nicht, weil es irgendwo gestanden hätte, sondern weil wir es behauptet
haben, mit so einfachen und einleuchtenden Argumenten, dass sich das zu einer Rechtsposition
verfestigt hat.
Inzwischen weiß es sogar die
evangelische Kirche: Das Direktionsrecht ist an dieser Stelle verbraucht, der Arbeitgeber kann einen
Schichtplan, den er geschrieben hat, nicht ändern.
Das hat uns Mut gemacht, dass wir
mit neuen Aktionen noch andere Rechtspositionen durchsetzen können.
Die wären zum Beispiel?
Die nächste Forderung, die in der Luft liegt, ist die, dass wir keinen Tag länger als
fünf Tage in der Woche arbeiten. In Altenheimen und vielen anderen Bereichen ist die Fünf-
Tage-Woche immer noch ein Traum; ihn zu verwirklichen ist möglich. Von Betrieb zu Betrieb
wollen wir neue Dienstpläne schreiben, die beinhalten: Innerhalb von 14 Tagen sind mindestens
vier Tage frei.
Danach geht es um die Forderung,
dass mein Dienstplan vier Wochen vorher aushängt und dass ich mich auf ihn verlassen kann. Auch
diese Forderung ist in einer Zeitspanne von drei bis sechs Monaten durchsetzbar — das zeigen
unsere Erfahrungen in den Betrieben.
Ihr versucht also Rechte, die den Beschäftigten prinzipiell zustehen, die aber
ständig angeknabbert werden, tatsächlich zu behaupten, und zwar auf betrieblicher
Ebene?
Rechte im Betrieb sind nicht etwas, was man hat, sie werden immer erst in einer
Auseinandersetzung formuliert. Wir haben Anknüpfungspunkte im Arbeitsschutzgesetz, im BGB, in
anderen Gesetzen. Aber die sind prekär. Das Arbeitszeitgesetz zum Beispiel erlaubt, uns 32 Tage
hintereinander arbeiten zu lassen, ohne einen freien Tag dazwischen. Die Beschäftigten
beschweren sich oft schon, wenn sie zehn oder 15 Tage hintereinander arbeiten müssen, und
fragen: Wo steht das?
Ganz oft fragen sie auch: Wo ist
eigentlich das Dienstplangesetz? Sie glauben, es gibt für die Erstellung der Dienstpläne
Regeln, die irgendwo kodifiziert sind. Wir versuchen zu erklären, dass es das nicht gibt, dass
wir solche vielmehr im Betrieb erst aufstellen müssen. Das tun wir über die
Interessenvertretung, über die Gewerkschaftsarbeit, über Flugblattaktionen, gemeinsame
Verweigerungsaktionen. Damit sagen wir: Das muss Standard werden, alles andere ist
gesundheitsschädlich, darf nicht gemacht werden, will ich nicht, verweigern wir.
Das mobilisiert eine Belegschaft ganz gehörig...
Die Aktionsformen sind nicht ganz so spektakulär, wie wenn man den Betrieb besetzt und sich
ans Betriebstor kettet wie in den wilden Streiks der 70er Jahre. Aber sie führen dazu, dass
zumindest ganze Abteilungen, ganze Bereiche über mehrere Stunden stillgelegt werden —
etwa durch kollektive Sprechstunden, in denen die Kolleginnen so lange die Arbeit verweigern, bis
über die Frage der Bezahlung von Überstunden oder des sicheren Feierabends nach 16 Uhr
eine Vereinbarung getroffen worden ist.
Es handelt sich immer um
Forderungen, die darauf abzielen, dass es den Beschäftigten danach besser geht. Aber sie sind
vollständig auch in der Logik der Verteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit auf mehr
Hände abbildbar — denn es gibt ja draußen genug Menschen, die von der Erwerbsarbeit
ausgeschlossen sind.
Wieviele solcher Aktionen habt ihr in deinem Krankenhaus durchgeführt, bis ihr etwas
durchgesetzt habt?
Mein Krankenhaus fällt ein wenig aus dem Rahmen ... Unser spektakulärster Erfolg war
der: Wenn eine Beschäftigte an ihrem freien Tag freiwillig einspringt, weil der Arbeitgeber eng
ist mit Personal, und die Beschäftigte hat einen befristeten Arbeitsvertrag, dann wird dieser
mit ihrem Einspringen automatisch entfristet. Das hat nicht nur im Betrieb, sondern auch weit
darüber hinaus eine elektrisierende Wirkung gehabt. Denn unser Betriebsrat legt sich offen, im
Internet unter www.kruppwirdkirche.de. Leider hat der Arbeitgeber dann gesagt: OK, dann deklariere
ich mich mal um zu einem kirchlichen Betrieb... (siehe SoZ 3/06).
Das ist ja auch in die Hose gegangen.
Richtig, wir haben uns in einem mehr als drei Jahre dauernden Konflikt schlussendlich
erfolgreich behauptet. Das heißt aber auch: Wir können in einem Betrieb nicht sehr viel
weiter als einen Schritt vor der Branche liegen. Wenn wir zu stark sind, versucht der Arbeitgeber,
den Betriebsrat auszuhebeln oder über Outsourcing die Belegschaft zu spalten. Als einzelne,
betriebliche sind solche Teilerfolge nur eine Zeitlang zu halten; wir müssen sie schon
verallgemeinern. Das versuchen wir über unsere Schichtplanfibel, über Seminare usw.
Ich sehe mich auf einer niemals
endenden Tournee — wie Bob Dylan — aber durch die Betriebe, wie ein Mantra die gleichen
Botschaften wiederholend: Pausen, die keine echten Pausen sind, muss der Arbeitgeber voll bezahlen
— das macht pro Woche zweieinhalb Stunden Arbeitszeitverkürzung; niemand darf allein
arbeiten, das haben wir schon in der Ausbildung gelernt: nie einen Patienten allein umbetten und
sich dabei den Rücken kaputt machen, nie mit Dementen allein bleiben, immer jemanden in
Rufweite haben, damit man sich schützen kann, auch damit es bei etwaigen Beschuldigungen Zeugen
gibt. All das führt dazu, dass der Arbeitgeber sagt: Dafür habe ich nicht genug Personal.
Und dann schreien wir ganz laut: Dann musst du es eben einstellen!
Spricht sich das rum?
Unter www.schichtplanfibel.de wenden sich heute auch
Kollegen aus anderen Branchen an uns: Nachtwächter, Verkäuferinnen, Beschäftigte in
Verwaltungen — da sind die Arbeitszeiten so flexibel, dass die Kollegen ihren Urlaubsanspruch
nicht mehr richtig umrechnen können. Die schrankenlose Flexibilisierung der Arbeitszeit ist
nicht nur im Gesundheitswesen verbreitet, sondern überall im öffentlichen Dienst. Die
Kolleginnen googlen nach den Problemen, stoßen auf unser Angebot und stellen dort ihre Fragen.
Ganz oft sind es zunächst einmal Fragen nach der rechtlichen Sicherheit: „Wo steht
das?” Sie suchen etwas, das sie ihrem Vorgesetzten unter die Nase halten können, und
wundern sich dann, wenn der erwidert: „Das steht da zwar, aber..."
Wir haben auch Druckmaterial
hergestellt: Hefte, Broschüren, Flugblätter — die Nachfrage ist enorm. Wir sind mit
einer Auflage von 5000 gestartet, heute sind wir bei mehr als zehnmal so viel. Man bekommt sie bei
Ver.di, oder auf Veranstaltungen, und ich erlebe immer wieder, wie sie im Dutzend eingesteckt
werden, um sie in der Abteilung zu verteilen.
Da gibt es Unterstützung von Ver.di?
Der Fachbereich macht gerade bundesweit eine Kampagne „Altenpflege in Bewegung” Eine
wichtige Sache, ein drängendes Problem, aber wir waren alle etwas hilflos, wie wir denn das
praktisch runterbrechen. Dann kam recht bald die Order: Ach, drucken wir doch die Heftchen mit der
Losung „Mein Frei gehört mir!” noch einmal nach, dann können die Kollegen
Aktionen wie in den letzten Jahren wiederholen!
"Mein Frei gehört
mir!” und die Schichtplanfibel gehören heute also zum Grundfundus gewerkschaftlicher
Aktivisten, damit können sie zeigen: So könnt ihr in Sachen Arbeitszeit wieder in die
Offensive kommen.
Du arbeitest vorwiegend mit Kolleginnen zusammen. Wie passt ihre Forderung nach weniger
Arbeitstagen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie?
Wir arbeiten im Gesundheitswesen in drei Schichten. Die Kolleginnen suchen sich Schichtmodelle,
die vereinbar sind mit ihren familiären Verpflichtungen, mit ihrem Lebensmittelpunkt, der
zumeist zu Hause liegt. Entweder sie suchen sich eine zusätzliche Arbeit, die nicht zu sehr
stört, oder sie arbeiten als Nachtwache, kommen morgens nach Hause, wecken die Kinder, bringen
sie in die Schule, schlafen drei, vier Stunden, stehen wieder auf, machen das Mittagessen, legen
sich nochmal hin und gehen dann zur Arbeit. Das sind schreckliche Arbeitsbedingungen, aber jedes
andere Angebot, sagen sie, sei nicht kompatibel mit ihren familiären Verpflichtungen.
Und wenn sie keine Nachtwache machen?
Dann wollen sie erst ihr Kind in den Kindergarten oder zur Schule bringen und sind durchaus
bereit, um 8 Uhr mit der Schicht zu beginnen — aber im Altenheim geht es um 6.30 Uhr los, im
Krankenhaus um 6 Uhr. Ein Renner bei den Aktionen in den Betrieben ist für die Kolleginnen ist
deshalb das Teilzeitbefristungsgesetz — es regelt, dass eine Beschäftigte die Arbeitszeit
nicht nur verkürzen kann, sondern auch selber über die Verteilung der Arbeitszeit
über die Wochentage und die Schichten bestimmen kann.
Das sind typische Probleme, die eher
Frauen als Männer haben. Männer sind eher bereit, länger zu arbeiten, denn sie sehen
sich als Ernährer der Familie, oft genug nervt die Familie sie aber, dann gehen sie lieber
arbeiten, um den häuslichen Zwängen zu entfliehen.
Das Teilzeitbefristungsgesetz von
Ende 2000 ist eins der wenigen Wahlversprechen, das von den Sozialdemokraten eingelöst wurde.
Die Financial Times Deutschland nannte es damals ein „Geschenk für freizeitbewusste
Arbeitnehmer” In dem Gesetz stecken natürlich auch die Arbeit auf Abruf und andere
negative Flexibilisierungsmaßnahmen. Doch mit mehreren der anderen Paragrafen können wir
arbeiten.
Wenn ich auf Seminaren darin lesen
lasse und das Gesetz mit den Betriebsräten in ihren Alltag übersetze, sagen sie
überrascht, dies Gesetz sei ja irgendwie zu schön, um so zu sein wie ich es darstelle. Das
ist generell ein Problem bei Betriebsräten und Mitarbeitervertretungen. Wenn ich ihnen vorlese,
was sie für Rechte haben, sagen sie: Das ist unrealistisch, es sind zu viele.
Wir haben mehr geschriebene Rechte,
als wir nutzen.
Ein Beispiel: Im Krupp-Krankenhaus
stehen uns bei 15 Betriebsräten 3 pauschal Freigestellte zu. Im Nachbarort bei Thyssen Krupp
Eisenbahn & Häfen gibt es 11 Betriebsräte; nur 2 Freigestellte stehen dem Betriebsrat
zu, er hat aber 13 (die ersten beiden Ersatzmitglieder sind ebenfalls freigestellt). Das steht
überhaupt nicht im Gesetz. Warum macht es der Arbeitgeber aber? Die Personalkosten sind dort
relativ gering, aber kurzfristige Produktionsentscheidungen will eine Geschäftsleitung nicht
auf die lange Bank schieben.
Allein die angezogene Handbremse bei
der Interessenvertretung: „Über die Überstundenregelung können wir in zwei
Wochen mal reden”, bringt den Chef auf Trab: „Pass mal auf, darüber können wir
auch gleich reden, ich stell euch jetzt nämlich alle frei. Setzt euch in den Raum, aber ich
will sofort eine Entscheidung.” Das könnte man in jedem Krankenhaus und jedem Altenheim
auch machen — man muss es nur hart durchspielen. So haben wir bei uns im Betrieb bis zu zwei
zusätzliche Betriebsräte für notwendige Aufgaben auf dem Spielfeld.
Es ist also möglich, sich weit
über das festgesetzte Maß hinaus Rechte zu erobern, man kann aber auch weit darunter
bleiben, wenn ein Betriebsrat sich in den Gesetzen häuslich einrichtet. Die allermeisten
Betriebsräte bestimmen über Schichtpläne und Arbeitszeiten nicht mit, obwohl das eine
der ersten Sachen ist, die sie auf Betriebsräteschulungen lernen. Sie meinen immer: Das ist
doch klar, dass das nicht geht.
Das ist ein Phänomen: Da fehlt
nicht das Recht, sondern das Kräfteverhältnis und der bewusste Wille, um das Recht in
Anspruch zu nehmen.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
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