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Der Kölner „Zahltag!” ist inzwischen ein Begriff. Er
bezieht sich auf den Umstand, dass immer wieder viele Erwerbslose zu Monatsanfang kein oder zu wenig
Geld überwiesen bekommen. Den vorgeblichen Gründen hierfür (Fehlberechnungen,
Softwareausfall, Sanktionen) stellen die Erwerbslosen das Grundrecht auf ein menschenwürdiges
Leben gegenüber. Der Zahltag findet seit 2007 jeweils zu Monatsanfang in einer ARGE statt; er
beruht auf dem Prinzip: „Keiner geht allein”, d.h., Erwerbslose, denen zu Unrecht
Leistungen verweigert werden, treten vor den Sachbearbeitern der ARGE zusammen mit ihren
Beiständen auf. Mit Erfolg! Vor allem die erfahrenen Beistände der KEAs (Kölner
Erwerbslose in Aktion e.V.) können immer wieder für Betroffene eine Barzahlung erwirken
und weitere Probleme klären helfen.
Etwa 15 KEAs (Kölner
Erwerbslose in Aktion) begleiteten am Vormittag des 9.Juni 2009 eine Frau mit ihrer Tochter, die
monatelang wegen Nichtigkeiten mit Sanktionen drangsaliert worden war; zu allem Übel war ihr
Folgeantrag nicht bearbeitet worden. Mutter und Tochter waren mittellos.
Und weil es sich herum gesprochen
hat, dass es in Köln in Sachen Hartz IV eine gute Vernetzung und solidarische Schlagkraft gibt,
wurde sich die Betroffene ihrer Mitgliedschaft in jener Selbsthilfevereinigung bewusst, trat erst in
Kontakt und dann gemeinsam mit anderen KEAs in Aktion.
Über eine eigens eingerichtete
Mailingliste mit immerhin rund 50 Mitgliedern ließen sich binnen zwei Tagen etwa 15 Leute
mobilisieren. Das gehört zum Prinzip der „Meute”, wie sie sich selber nennt, wenn
es um einen „Termin ohne Termin” geht — weil die sog. Eingangszone der ARGE zum
stundenlangen Warten, zum Abwimmeln, zum Hin- und Fernhalten oder zum Verarschen der Betroffenen
installiert wurde. Zu viele Betroffene werden einfach immer wieder abgewiesen und in Notlagen (z.B.
Mittellosigkeit) schlicht ohne Geld oder bestenfalls mit einem Lebensmittelgutschein fort geschickt.
Und was so eine richtige Meute ist, die ist selbstverständlich auch auf Beute aus. Heute sollte
Bargeld fließen. Und zwar alles!
So weit, so gut. Nahezu
routinemäßig verlief die Auseinandersetzung zwischen Sachbearbeitern, die erst nicht und
dann doch zuständig sind, Team-Leitern, die sich in Vertretung der Sache annehmen, und den
engagierten Menschen auf Seite der Betroffenen.
Nach etwa 30 Minuten gabs dann
die Beute, und zwar — was nachdrücklich eingefordert werden musste — die gesamte.
Wir reden hier nämlich nicht über das Geld des Sachbearbeiters oder das der ARGE, sondern
über jenes, das der betroffenen Frau gehört. Und wenn diese willens ist, das gesamte ihr
zustehende Geld (strittig war die Barauszahlung der Mietkosten) jetzt endlich mitzunehmen, haben die
selbsternannten Verwalter das Nachsehen.
Sabine, die betroffene Frau, war
glücklich und von dem solidarischen Engagement schlicht begeistert. Was sie heute alles noch
erleben sollte, davon ahnte niemand etwas.
Nun muss man wissen, dass die ARGE
Süd in Köln keine 100 Meter Luftlinie von der ARGE Mitte entfernt liegt. Und man muss
wissen, dass KEAs fast immer an mehreren Standorten gleichzeitig irgendwo, irgendwem beistehen. Und
man muss wissen, dass sie bei Einsätzen vor Ort per Funk vernetzt sind. Plötzlich gab es
nämlich einen Hilferuf aus ARGE Mitte, was dazu führte, dass die Meute komplett in das
Büro der Standortleitung einfiel und an Zahl nochmal wuchs.
Hier war die Situation ziemlich
festgefahren. Eine Frau hatte ihre Geldbörse verloren, brauchte aber dringend Geld, um sich als
Diabetikerin mit Insulin zu versorgen. Eigentlich ein Akt weniger Minuten, sofern man sich auf einen
„Bar-Vorschuss, vorbehaltlich der abschließenden Klärung” pipapo ... einigen
könnte. Aber ARGE-Mitarbeiter sind Bürokraten! Sie sind strengen Regeln unterworfen, die
sie selbst offenbar am allerwenigsten kapieren, und dann geht es sicher auch immer um Fragen wie
„Macht” und „Erziehung” aus der Sicht von oben nach unten.
Dass die da „unten” am Ende „oben” sein werden und die Betroffene
natürlich Geld bekommen wird, daran hatte die Meute zu keiner Zeit Zweifel. Was die
Standortleitung sich jedoch mit Hilfe der Polizei an Bedingungen einfallen ließ, bevor
Betroffene zu ihrem Recht kommen konnte (das in diesem Fall gesetzlich verbrieft ist), darf man als
Offenbarungseid eines miesen, systemischen Akts ganz im Sinne der Agenda 2010 begreifen.
Ein paar Polizisten wurden von der
ARGE um die Räumung des Büros gebeten. Dreimal erfolgte die Aufforderung von der Polizei,
dreimal wurde die Polizei aufgefordert zu überprüfen, ob es nicht etwa ein berechtigtes
Anliegen gebe, in ausgerechnet diesem Büro zu sein. Und zwar ein existenzielles im Sinne einer
schlicht lebensbedrohlichen Situation!
Die Polizei aber scheint sich lieber
als Vollstreckungsbehörde von Hartz IV zu verstehen und forderte nunmehr Verstärkung.
Sechs Streifenwagen mit Blaulicht und Martinshorn sowie eine an einem ARGE-Fenster gehisste
„Zahltag!"-Fahne sorgten für Aufmerksamkeit. Personell aufgerüstet schob die
Polizei die Meute vor sich her und aus dem Büro heraus. Nunmehr aber lautete die Forderung, das
Haus gänzlich zu verlassen und somit der betroffenen Frau sämtlichen Beistand zu nehmen.
Das löste heftige Diskussionen aus, und die uniformierten Erfüllungsgehilfen schienen
zunehmend Spaß an ihrer Arbeit zu haben.
Wer es unbedingt braucht, kann
vielleicht darüber spekulieren, ob es im rechtlichen Sinn dieses Staates eine unerlaubte
Büro-Besetzung war, eine Nötigung oder was auch immer — gewalttätig oder Gewalt
androhend traten die Aktivisten keineswegs auf. Deshalb kann man nur provokative Absicht
unterstellen, als die Polizisten plötzlich unvermittelt von hinten und zu dritt über einen
herfielen. Schläge ins Gesicht, Handschellen, zu Boden drücken und dann das Knie auf den
Kopf. Andere Polizisten griffen derweil noch zwei Frauen an, die die Eskalation der grünen
Truppe beruhigen wollten. Mit Pfefferspray wurde die Meute im Flur in Schach gehalten und zwar
solange, bis die Betroffene mit dem herbeigerufenen ARGE-Geschäftsführer Müller-
Starmann und zwei Beiständen der KEAs endlich ihr Anliegen klären und durchsetzen konnte.
Uwe Klein, Die KEAs, erklärte
dazu: „Die ARGE war in dieser Notlage zur Barzahlung verpflichtet. Dies hätte direkt
geschehen können. Zwei Beistände haben etwa zwei Stunden lang versucht, dies mit
friedlichen Mitteln zu erreichen. Erst als weitere 15 Beistände dazu kamen und die ARGE die
Situation durch das Herbeirufen der Polizei eskalieren ließ, kam die Betroffene zu ihrem Recht.
Die abschließende Barzahlung der ARGE bestätigt sowohl unsere Rechtsauffassung als auch
unser friedliches, aber bestimmtes Vorgehen."
Als die Meute unter Polizeigewalt
aus der ARGE eskortiert wurde, zwei Aktivisten gefesselt mit Blaulicht zur Wache gefahren wurden,
gab es Applaus von umstehenden Leuten, die die Polizisten fragten, ob sie eigentlich wüssten,
was sie hier tun. Gesetzt den Fall, sie wissen es wirklich, dann ist auch die Schikane auf der
Polizeiwache eine systemisch gewollte Pflichtübung. Einer der in Gewahrsam genommenen Aktiven
musste seine Taschen leeren, den Gürtel abgeben, sich der Schnürsenkel entledigen, was
alles aussehen sollte, als trete er eine obligatorische Haft an. Nur, um unmittelbar im Anschluss
daran gesagt zu bekommen: „Ach nee, Sie dürfen doch gleich nach Hause."
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