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Wie waren diese letzten Prozesstage für euch?
Elias Bierdel: Mit der Zeit gewöhnt man sich an vieles, aber nicht daran,
dass wir in diesem Gerichtssaal sitzen, während draußen die Leute weiter sterben.
Das ist vom ersten Tag an für mich ein nicht zu ertragender Zustand. Statt dagegen
anzugehen, müssen wir uns hier auseinandersetzen mit einer Anklage, die absolut absurd
ist und auf politischen Druck hin erhoben wurde, das wurde im Verfahren ja deutlich. Die
einzige Erleichterung, die wir derzeit verspüren, ist, dass das Verfahren seinem Ende
zugeht.
Was ist vor fünf Jahren geschehen?
Stefan Schmidt: Vor fünf Jahren sind wir, weil wir Menschenleben gerettet
haben, ins Gefängnis gesperrt worden.Elias Bierdel: Ganz genau. Wir haben Leute gerettet,
das war unstrittig, das muss man ja auch, nur sie an Land zu bringen, irgendwo, das wird dann
plötzlich schwierig. Wir hätten uns niemals vorgestellt, dass es eine solche
Entschlossenheit gibt, Menschen einer bestimmten Hautfarbe nicht auf sicheres Land zu lassen,
und dass man offensichtlich bevorzugt, dass sie irgendwo da draußen unter gehen. Heute
sehen wir das ganz deutlich, das ist offizielle europäische Politik.
Wie lautet die offizielle Anklage?
Elias Bierdel: Wir wurden vom Schiff runter verhaftet, ohne überhaupt zu
wissen, was man uns vorhalten will, denn wir haben nichts gemacht, was eine Haftstrafe
begründet hätte. Erst später erfuhren wir, dass wir der Beihilfe zur illegalen
Einreise angeklagt werden, volkstümlich Schlepperei genannt. Das fanden wir damals und
heute vollkommen absurd. Für mich könnte eine Anklage wegen Drogenschmuggels oder
Kindesmissbrauchs nicht absurder sein in diesem Zusammenhang. Das ist obszön, zynisch,
wie man hier versucht, Leute zu kriminalisieren, die offensichtlich aus Sicht der Politik die
Falschen gerettet haben.
Wie spielte sich die Verhandlung ab? Wie hat man sich euch gegenüber
verhalten?
Stefan Schmidt: Also, ich hab ja noch nie in einem Gerichtssaal einem Staatsanwalt
gegenüber gesessen, aber in diesem Falle fand ich das schon filmreif, wie er sich
verhalten hat. Erst hat er uns gepriesen über alle Türme hinaus, dass wir tolle
Menschen wären und das wäre alles so toll, was wir gemacht haben, und dann will er
uns dafür einsperren. Es war alles sehr absurd.
Elias Bierdel: Es ist ein
Unterschied, ob man weiß, man ist in einem politischen Prozess und da gibt es ein
Strafmaß xy. Aber wenn da einer steht und du siehst, wie er auf dich zeigt und sagt:
„Ich will, dass diese beiden vier Jahre ins Gefängnis kommen, ohne Bewährung
und noch 400000 Euro Geldstrafe zahlen”, dann zielt das unmittelbar auf die
Auslöschung unserer bürgerlichen Existenz. Da kannst du nicht raus, da ist
plötzlich jemand, der entschlossen ist, dich zu vernichten. Begreifen kann man das nicht.
War das geforderte Strafmaß absehbar?
Elias Bierdel: Irgendwann kommt dieser schauerliche Punkt, dass du dich fragst:
Worauf will der hinaus? Wenn es danach geht, was im Verfahren von Zeugen gesagt worden ist,
dann war nichts da. Die Lügen und Manipulationen gab es ja alle nur im Vorverfahren, das
ist alles in den Akten. Aber das spielt im Hauptverfahren keine Rolle mehr, so ist das eben
juristisch. Da werden diejenigen Leute als Zeugen geladen, die massiv gelogen und manipuliert
haben und im Übrigen teilweise dafür befördert worden sind. Diese Zeugen
können sich dann aber plötzlich nicht mehr erinnern, weil das alles so lange her
ist. Sie wiederholen ihre Lügen zwar nicht, tun aber alles, um Stimmung gegen uns zu
machen.
Und so war von Anfang an
unklar, worin die Straftat überhaupt bestehen sollte. Es hat sich erwiesen, dass das
ganze Verfahren ein schlechter Scherz ist. Das Bedrohliche für uns persönlich ist
jedoch, dass so ein Staat alle Zeit der Welt hat: Fünf Jahre sind seit der
„schrecklichen Tat” vom Juni 2004 schon vergangen. So ein Staat kann dich durch
ein Verfahren schleifen, wenn er will, bis an dein Lebensende.
Stefan Schmidt: Als ich anfing bei Cap Anamur, habe ich zu Elias gesagt: Ich
möchte fünf Jahre lang dieses Schiff fahren, fünf Jahre lang etwas tun für
Cap Anamur. Dass ich das vor einem Gericht tun muss, das wusste ich nicht. Die fünf Jahre
sind jetzt um, und wenn wir noch in Berufung gehen müssen, kann es leicht sein, dass ich
das endgültige Urteil gar nicht mehr erlebe. Ich bin immerhin schon 67 Jahre alt.
Wie wäre das, wenn ihr jetzt vorbestraft werden würdet, wissend, dass ihr
vollkommen unschuldig seid und die Anklage absurd ist?
Elias Bierdel: Das ist für uns, das kann ich für uns beide sagen,
überhaupt keine Frage von persönlicher Befindlichkeit, mal abgesehen davon, dass wir
natürlich keinen Tag mehr ins Gefängnis wollen. Da waren wir mal kurz, das war
interessant, das brauchen wir aber nicht mehr. Was die Geldstrafe anbelangt, da kann ich nur
darüber lachen. Woher sollen wir das denn nehmen, das ist völlig absurd. Wenn wir
einen Vergleich akzeptieren und das quasi ehrenvoll auf uns nehmen würden — auch
den Makel vorbestraft zu sein — das wäre für uns persönlich nicht das
Problem. Ich weiß ja, was wir gemacht haben, da gibt es nichts wovon wir uns distanzieren
müssten, also wäre mir so ein Eintrag egal. Jeder der will, kann verstehen, was hier
passiert ist.
Das Wichtige aus unserer Sicht
ist aber, dass wir nicht erlauben dürfen, dass dieses Urteil ein Signal an die
Schifffahrt wird. Wenn sogar humanitäre Helfer aus Deutschland so bestraft werden, dann
ist völlig klar, dass kein normaler Fischer das durchsteht. Für uns ist das ganz
besonders dringlich, denn vor derselben Richterin stehen sieben tunesische Fischer — wir
haben uns im Gerichtssaal getroffen —, die im August 2007 das Pech hatten, dass ein Boot
vor ihren Augen sinkt. Sie verhielten sich vollkommen korrekt und informierten über Funk
die Behörden. Diese befahlen ihnen, nichts anzufassen, sie würden schon kommen. Als
dann keiner kam, taten die Fischer das einzig menschlich mögliche, sie nahmen die
Schiffbrüchigen an Bord, und nun stehen sie vor derselben Kammer und werden als Schlepper
angeklagt. Ihre Boote sind beschlagnahmt, ihre Familien ohne Einkommen. Wir fühlen uns
mit in der Verantwortung für diese Fischer. Es gibt nicht wenige Verfahren dieser Art.
Daher ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass ein Urteil kommt, das klarstellt, dass das,
was wir getan haben, nicht verboten sein darf.
Ich will hier etwas Wichtiges
betonen: Natürlich ist es gemein und ungerecht, wie man da mit uns umspringt, wir beide
wissen jedoch, dass das viel größere Unrecht, worüber wir hier sprechen
müssten, vorwiegend andere trifft. Das können wir überall sehen: Im
Gefängnis hatten wir letzten Endes eine Sonderbehandlung als Weiße, als
Europäer, du gehst doch nicht unter auf dieser Welt mit einem europäischen Pass.
Es gibt viele da draußen,
die will niemand sehen, die sterben da zu Hunderten und zu Tausenden, und wir sollen denken,
das sei normal so. Das ist doch der Punkt, um den es hier geht, dass wir das als Menschen
nicht ertragen wollen.
In diesen fünf Jahren seid ihr sehr aktiv geworden? In welcher Weise?
Stefan Schmidt: Als uns das passiert ist, wussten wir zunächst überhaupt
nicht, wie uns geschieht, daher wollten wir einfach mal sehen, ob das ein Sonderfall ist. Wir
haben einen Verein gegründet, der sich speziell mit der Situation an Europas
Außengrenzen beschäftigt (Borderline Europe, www.borderline-europe.de). Besonders
viel kann man nicht tun, aber man kann informieren, und Elias und ich werden oft eingeladen in
Schulen und in Universitäten, um zu erzählen, was wir erlebt haben. Wir hoffen, dass
das wenigstens vielen Leuten mal die Augen öffnet.
Habt ihr das Gefühl, dass das Wirkung zeigt?
Stefan Schmidt: Die direkte Wirkung ist natürlich schlecht messbar, aber wir
stellen fest, dass doch ganz viele Leute betroffen sind und fragen, was können wir tun?
Ich denke mal, so fängt das an.
Beim evangelischen Kirchentag gab es ein Treffen mit Wolfgang Schäuble, stimmt
das?
Stefan Schmidt: Ja. Herr Schäuble saß mit mir zusammen auf dem Podium,
und ich hab mich bei ihm bedankt, dass er uns damals vor fünf Jahren
unterstützt hat und dass er jetzt versprochen hat, sich wieder für uns einzusetzen,
also dass er sieht, dass wir uns damals korrekt verhalten haben. Mehr kann man im Moment von
einem Politiker nicht erwarten.
Elias Bierdel: Da bin ich vielleicht ein bisschen anderer Meinung, unbeschadet der
Persönlichkeit von Wolfgang Schäuble. Politiker sind in so einer Frage nicht
verlässlich. Menschenrechte stehen da meist nicht im Vordergrund, deshalb hat man uns
komplett hängen lassen. Beim Prozess gegen die tunesischen Fischer war vom ersten
Prozesstag an der tunesische Botschafter anwesend, er stellte den Gerichtspräsidenten
scharf zur Rede. Bei unserem Prozess kam erst am letzten Tag die Generalkonsulin von Neapel.
Sie hatte offensichtlich keine Ahnung, was hier überhaupt passiert.
Damals, vor fünf Jahren,
haben sich zwei Regierungen — in Person die Innenminister Otto Schily und Beppe Pisanu
— verabredet, wie man mit uns umspringen sollte. Am 6.Juli 2004 haben sie sich bei einem
Treffen in Sheffield ganz offensichtlich zu einem, sagen wir mal, illegalen Tun verabredet,
denn ab diesem Tag kamen plötzlich von verschiedenen Regierungsstellen, deutschen und
italienischen, falsche Dokumente ins Spiel. Ich kann das, was ich hier sage, mit Dokumenten
belegen. Man sollte mal bedenken, mit welchen Methoden die Regierungen mit der Frage umgehen:
Was tun wir mit den Menschen an den Außengrenzen, die zu uns wollen?
Wie sah die deutsch-italienische Zusammenarbeit konkret aus?
Elias Bierdel: Beim Treffen in Sheffield hieß es, man wolle einen
„gefährlichen Präzedenzfall verhindern” Die Folge waren Dokumente, die
eindeutig glatte Falschmeldungen sind, die sich aber zu einem schlüssigen Bild
ergänzen. So dass man sagen könnte, ein Staatsanwalt hatte gar keine andere Wahl,
als aufgrund dieser Angaben ein Verfahren zu eröffnen, denn der hat sich vielleicht auch
nicht vorgestellt, dass das tatsächlich samt und sonders und von Beginn an gegen uns
konstruierte, böswillige Verdrehungen sind. Jetzt sind wir alle schlauer, und der
Staatsanwalt signalisiert uns zwischen den Zeilen, dass auch er unter diesem Verfahren leidet.
Aber was hilfts mir, was hilft das uns und der ganzen Angelegenheit, er nimmt seine
Rolle eben wahr und fordert gegen uns diese drakonische Strafe zur Abschreckung.
Könntest du ein Beispiel nennen für ein gefälschtes Dokument?
Elias Bierdel: Ja. Ein deutscher Regierungsdirektor fabrizierte eine Falschmeldung
betreffend einen Journalisten, der an Bord der Cap Anamur war. Die These der Behörden war
von Anfang an, wir würden illegale Migranten aus Malta nach Italien einschleusen wollen.
Um dieses Konstrukt zu stützen, legte der Regierungsdirektor Papiere vor, die einen
falschen Reiseweg beschreiben: Angeblich war der Journalist an Bord eines Flugzeugs nach
Malta. Das stimmt nicht, er war am fraglichen Tag an Bord eines Flugzeugs nach Tunesien, ich
saß neben ihm, deshalb weiß ich das, und wir haben die Dokumente, die das beweisen.
Die ergänzende Meldung
der italienischen Seite lautet, dass die Cap Anamur im fraglichen Zeitraum an einer bestimmten
Stelle, Hurd Bank, vor Malta, geankert hat. Das ist absoluter Quatsch und frei erfunden; an
der besagten Stelle könnte unser Schiff aus technischen Gründen gar nicht ankern. An
dem Beispiel sieht man, wie eine Aktion mit gefälschten Beweisen kriminalisiert wird. Von
da an haben alle möglichen Instanzen versucht, sich zu der politisch vorgegebenen Linie
konform zu verhalten.
An uns wird offensichtlich
etwas vollzogen, zur Abschreckung, so wie jetzt Flüchtlinge einfach mit Kriegsschiffen
massenweise nach Libyen deportiert werden, bevor sie überhaupt die Chance haben, in
irgendeinem Land anzukommen, dass ihnen Schutz und Hilfe bieten könnte. Wir wissen jetzt,
Europa möchte das nicht mehr.
Der Aufschrei aus Europa bezüglich der Abschiebungen nach Libyen fehlt. Wie siehst
du diese Entwicklung?
Elias Bierdel: Es beunruhigt mich, weil ich sehe, wie Europa sich in Richtung
polizeistaatlicher Methoden verändert. Die brutale Abwehr von Migrantinnen und Migranten,
von Flüchtlingen an der Außenmauer der Europäischen Union erinnert mich stark
an meine Kindheit. Ich bin nämlich unmittelbar an der Mauer in Berlin aufgewachsen
— auf der Westseite, aber ich kenne all das, Stacheldraht, Schießbefehl, von Kind
an und ich kann nur sagen, die Schandmauer ist nicht weg. Die steht jetzt nur wo anders, z.B.
in Ceuta und Melilla, und wir müssen überlegen, warum und in wessen Namen hier
Menschen gehindert werden, an unser Territorium auch nur heranzukommen — um den Preis
ihres Todes. In meinem Namen nicht. Darum versuchen wir, uns dagegen zu engagieren.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
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