SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2009, Seite 23

Faszination Auto?

Eine Erwiderung

von Winfried Wolf

Der Beitrag von Meinhard Creydt macht zunächst den Eingangsfehler, dass er die Behauptungen der Auto- und Flugzeugbau-Lobbys kaum hinterfragend referiert.
Die gesamte Autoindustrie hat aktuell 780000 Arbeitsplätze — keineswegs, wie M.C. behauptet, ohne Zulieferer, sondern einschließlich der gesamten Auto-Zulieferer. Das sind die Angaben des VDA — des Verbands der Autoindustrie. Im eigentlichen Fahrzeugbau (Autoindustrie im engeren Sinn) arbeiten weniger als die Hälfte.
Es gibt Sektoren, die deutlich mehr „systemrelevant” sind, die aber kaum je angeführt werden. Zum Vergleich: Im Maschinenbau arbeiten mehr als eine Million Menschen — ein Drittel mehr als in der Autobranche. Im deutschen Gaststättengewerbe und in der Hotellerie sind mehr Menschen beschäftigt als in der Autoindustrie plus den Autozulieferern.
Oder — wohl auch „systemrelevant”, aber in diesem Zusammenhang ebenfalls nie erwähnt: Es gibt 1,2 Millionen Lehrerinnen und Lehrer, 80% mehr als in der Autobranche im weiten Sinn. Würde man nur finnische Zustände an unseren Schulen und in unseren Kindergärten herstellen (knapp 20 Schülerinnen und Schüler je Lehrkraft bzw. 10 Kinder auf eine Erzieherin), so wäre allein das Plus an erforderlichen Beschäftigten größer als die Zahl aller in der gesamten Autoindustrie Beschäftigten.
M.C. ahnt, dass es sich bei der Behauptung, wonach „jeder siebte Arbeitsplatz von der Autoindustrie abhänge”, um „eine Übertreibung” handeln könnte. Das ist jedoch noch eine Untertreibung. Die Zahl ist eine bewusste Fälschung. Die Behauptung beruht, so die Financial Times Deutschland (20.5.2009) „auf einem simplen Rechentrick des Verbandes der Autoindustrie (VDA). Der VDA geht davon aus, dass ohne Autoindustrie ... niemand mehr Auto fahren würde, weder deutsche Wagen noch ausländische Wagen. Damit würden alle Jobs wegfallen, die irgendwie durch das Auto bedingt sind ... Nach Berechnungen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) hängt dagegen nur jeder 20.Arbeitsplatz von der Autonachfrage ab..."
Auf die psychologischen und massenpsychologischen Aspekte des Autofahrens ging ich in Veröffentlichungen ausführlich ein (siehe Eisenbahn und Autowahn, 1992) und Verkehr. Umwelt. Klima — Die Globalisierung des Tempowahns, Wien 2009). Es war nicht Aufgabe, darauf in einem gerafften Text für ein europäisches Schieneninfrastrukturprogramm ausführlicher einzugehen. Natürlich spielen diese Aspekte eine erhebliche Rolle. Völlig einverstanden bin ich damit, dass die „in der Autokultur zur Geltung kommenden ... Leidenschaften vom Mangel an menschlichem Bezug auf andere Menschen ... gekennzeichnet „ sind.
Man sollte aber auch zur Kenntnis nehmen, dass diese Kultur sich fast auf ein Geschlecht konzentriert, denn sie haben vor allem viel mit dem männlichen Machbarkeits- und Beherrschungswahn zu tun, weswegen es in den genannten zwei Büchern je ein Kapitel zu „Patriarchat und Autogesellschaft” gibt. Die von M.C. beschriebene „Faszination Auto”, der „Genuss von Geschwindigkeit”, die „Freude am kraftvollen Motorengeräusch”, sind eigentlich (fast) nur im Zusammenhang mit einem solchen, männlich-dominanten Denken vorstellbar.
(Ich gestehe jedoch, dass ich im ZDF-Nachtstudio vom 22.4.2009 ein Streitgespräch mit Frau Jutta Kleinschmidt zu führen hatte, die ähnlich argumentierte. Allerdings handelt es sich da um eine Rallye-Fahrerin, die auch ansonsten die Probleme der „postmodernen sehr gut verdienenden Männerwelt” teilt, nämlich ein Pendelleben zwischen Monte Carlo, Kalifornien und Bayern.)
Bei manchen Passagen zur „Freude am Gleiten” schlage ich vor, sich mal anstelle des Autofahrens das Fahrradfahren vorzustellen. Es passt oft weit besser. Vor allem handelt es sich um eine weit freiere, weniger mit Zwängen verbundene Bewegungsform, die man auch aufrecht, statt in gekrümmter, im Sportwagen gar in embryonaler, Haltung absolviert.
Fast alle Zitate, die derart unbeleckt über das Autofahren schwadronieren, stammen aus der Zeit des unhinterfragten Autowahns (Kob =1966; Hornickel = 1968; Klebelsberg = 1982; Straus = 1956). Sie haben ihren Ursprung in Sätzen wie dem folgenden: „Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen ... ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.” Das Futuristische Manifest, aus dem die Sätze stammen, konnte vom italienischen Faschismus nicht nur vereinnahmt werden; ihr führender Kopf, Filippo Tommaso Marinetti, arbeitete ab 1924 als Kulturminister im faschistischen Kabinett — und blieb Mussolini bis 1944 treu.
M.C. schreibt: „Das Auto verdankt seine positive Besetzung der durch es möglichen Kontrolle in einer unkontrollierten Umwelt. Die Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel befinden sich gegenwärtig oft in einer ähnlichen Lage wie Versuchstiere, an denen man das Konzept der gelernten Hilflosigkeit ausprobiert."
Das liest sich wie:
"Mit der Eisenbahn, so sagte der Führer, habe die individuelle Freiheit des Verkehrs aufgehört ... Im Kraftwagen habe der Mensch dann Verkehrsinstrumente erhalten, die wieder dienende Mittel zum Zweck wurden. Nicht der Fahrplan vergewaltige seine Entschlüsse, sondern sein Wille bediene sich des ihm ununterbrochen gehorchenden Verkehrsinstruments” (Wilfried Bade, hochrangiger Mitarbeiter in Goebbels Reichspropagandaministerium).
Darüber hinaus stimmen die Aussagen doch objektiv nicht. Die Durchschnittsgeschwindigkeit der Pkw-Fahrten in heutigen BRD-Großstädten liegt bei 28—32 km/h, in der Stadt mit der höchsten Pkw- Dichte, Los Angeles, bei rund 25 km/h. Das entspricht der Geschwindigkeit eines sportlichen Radfahrers. Dort wo es ausgebaute, gut funktionierende moderne Eisenbahnen gibt, sind die Entfernungen zwischen den großen städtischen Zentren per Shinkansen oder ICE oder TGV weit schneller, bequemer, selbstbestimmter zurückzulegen als in einem Pkw mit Stop & Go.
Im Übrigen müssen die Verallgemeinerungen der angeblichen Vorzüge des Autos doch mit den konkreten Daten korreliert werden: In Berlin hat die Mehrheit der Haushalte kein Auto. Dieser Anteil wuchs in den letzten Jahren. Warum bloß? Haben die Leute die Vorzüge des „freien Gleitens” noch nicht erfahren?
Generell gilt: Je besser die öffentlichen Verkehrsmittel sind, desto niedriger ist die Pkw-Dichte. Da entscheiden sich die Menschen doch sehr handfest. Es gilt oft sogar die Relation: Je niedriger das durchschnittliche Einkommen, desto höher die Pkw-Dichte.
M.C. schreibt über die „modernen Bürger” Sehen wir uns die weltweite Situation an. Es gibt aktuell weltweit rund 600 Millionen Pkw. Fast 500 Millionen konzentrieren sich auf Nordamerika, Japan, Australien und Europa. Oder auf 20% der Menschen. Oder auch: In den vier deutschen Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern, NRW und Sachsen gibt es mehr Pkw als in ganz Indien und ganz China. Es wird eine Weile dauern, bis auch nur die Hälfte dieser modernen Weltenbürger die „zentralen, ideologischen, psychischen und kulturellen Momente, die das Auto zu dem machen, was es heute ist” (M.C.), erfahren.
Bis dahin allerdings sind die Städte endgültig zubetoniert, ist das Klima unwiederbringlich ruiniert.
Und was immer wieder vergessen und verschwiegen wird: Die so blumig beschriebenen mit dem Pkw verbundenen Freiheiten sind mit einer unendlich großen Unfreiheit für Millionen Menschen verbunden. Es ist allein diese spezifische Form der Mobilität, die Pkw-Mobilität, die aktuell jährlich eine Million Tote und mehr als 20 Millionen Schwerverletzte fordert.
In der hoch motorisierten und „zivilisierten” EU (EU-27) — mit relativ wenigen Straßenverkehrsopfern! — werden allein in einem Jahrzehnt mehr als 400000 Menschen im Straßenverkehr getötet und mehr als sechs Millionen Menschen schwer verletzt. Die unterschiedliche Verkehrsleistung berücksichtigt, müssten im gleichen Jahrzehnt im EU- Eisenbahnverkehr 60000 Menschen getötet werden (real sind es weniger als 3000).
Wenn schon die hehren Gefühle des Autofahrens derart ausführlich beschrieben werden, dann müssen doch die ebenso realen Gefühle des Schmerzes und des Leids dieser Hunderttausende Menschen ebenfalls gewürdigt werden.
Anderenfalls bleibt eine solche Darstellung, was sie ist: ideologisch.


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