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Der Beitrag von Meinhard Creydt macht
zunächst den Eingangsfehler, dass er die Behauptungen der Auto- und Flugzeugbau-Lobbys
kaum hinterfragend referiert.
Die gesamte Autoindustrie hat
aktuell 780000 Arbeitsplätze — keineswegs, wie M.C. behauptet, ohne Zulieferer,
sondern einschließlich der gesamten Auto-Zulieferer. Das sind die Angaben des VDA —
des Verbands der Autoindustrie. Im eigentlichen Fahrzeugbau (Autoindustrie im engeren Sinn)
arbeiten weniger als die Hälfte.
Es gibt Sektoren, die deutlich
mehr „systemrelevant” sind, die aber kaum je angeführt werden. Zum Vergleich:
Im Maschinenbau arbeiten mehr als eine Million Menschen — ein Drittel mehr als in der
Autobranche. Im deutschen Gaststättengewerbe und in der Hotellerie sind mehr Menschen
beschäftigt als in der Autoindustrie plus den Autozulieferern.
Oder — wohl auch
„systemrelevant”, aber in diesem Zusammenhang ebenfalls nie erwähnt: Es gibt
1,2 Millionen Lehrerinnen und Lehrer, 80% mehr als in der Autobranche im weiten Sinn.
Würde man nur finnische Zustände an unseren Schulen und in unseren Kindergärten
herstellen (knapp 20 Schülerinnen und Schüler je Lehrkraft bzw. 10 Kinder auf eine
Erzieherin), so wäre allein das Plus an erforderlichen Beschäftigten
größer als die Zahl aller in der gesamten Autoindustrie Beschäftigten.
M.C. ahnt, dass es sich bei
der Behauptung, wonach „jeder siebte Arbeitsplatz von der Autoindustrie
abhänge”, um „eine Übertreibung” handeln könnte. Das ist
jedoch noch eine Untertreibung. Die Zahl ist eine bewusste Fälschung. Die Behauptung
beruht, so die Financial Times Deutschland (20.5.2009) „auf einem simplen Rechentrick
des Verbandes der Autoindustrie (VDA). Der VDA geht davon aus, dass ohne Autoindustrie ...
niemand mehr Auto fahren würde, weder deutsche Wagen noch ausländische Wagen. Damit
würden alle Jobs wegfallen, die irgendwie durch das Auto bedingt sind ... Nach
Berechnungen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI)
hängt dagegen nur jeder 20.Arbeitsplatz von der Autonachfrage ab..."
Auf die psychologischen und
massenpsychologischen Aspekte des Autofahrens ging ich in Veröffentlichungen
ausführlich ein (siehe Eisenbahn und Autowahn, 1992) und Verkehr. Umwelt. Klima —
Die Globalisierung des Tempowahns, Wien 2009). Es war nicht Aufgabe, darauf in einem gerafften
Text für ein europäisches Schieneninfrastrukturprogramm ausführlicher
einzugehen. Natürlich spielen diese Aspekte eine erhebliche Rolle. Völlig
einverstanden bin ich damit, dass die „in der Autokultur zur Geltung kommenden ...
Leidenschaften vom Mangel an menschlichem Bezug auf andere Menschen ... gekennzeichnet „
sind.
Man sollte aber auch zur
Kenntnis nehmen, dass diese Kultur sich fast auf ein Geschlecht konzentriert, denn sie haben
vor allem viel mit dem männlichen Machbarkeits- und Beherrschungswahn zu tun, weswegen es
in den genannten zwei Büchern je ein Kapitel zu „Patriarchat und
Autogesellschaft” gibt. Die von M.C. beschriebene „Faszination Auto”, der
„Genuss von Geschwindigkeit”, die „Freude am kraftvollen
Motorengeräusch”, sind eigentlich (fast) nur im Zusammenhang mit einem solchen,
männlich-dominanten Denken vorstellbar.
(Ich gestehe jedoch, dass ich
im ZDF-Nachtstudio vom 22.4.2009 ein Streitgespräch mit Frau Jutta Kleinschmidt zu
führen hatte, die ähnlich argumentierte. Allerdings handelt es sich da um eine
Rallye-Fahrerin, die auch ansonsten die Probleme der „postmodernen sehr gut verdienenden
Männerwelt” teilt, nämlich ein Pendelleben zwischen Monte Carlo, Kalifornien
und Bayern.)
Bei manchen Passagen zur
„Freude am Gleiten” schlage ich vor, sich mal anstelle des Autofahrens das
Fahrradfahren vorzustellen. Es passt oft weit besser. Vor allem handelt es sich um eine weit
freiere, weniger mit Zwängen verbundene Bewegungsform, die man auch aufrecht, statt in
gekrümmter, im Sportwagen gar in embryonaler, Haltung absolviert.
Fast alle Zitate, die derart
unbeleckt über das Autofahren schwadronieren, stammen aus der Zeit des unhinterfragten
Autowahns (Kob =1966; Hornickel = 1968; Klebelsberg = 1982; Straus = 1956). Sie haben ihren
Ursprung in Sätzen wie dem folgenden: „Wir erklären, dass sich die
Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der
Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die
Schlangen mit explosivem Atem gleichen ... ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu
laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.” Das Futuristische
Manifest, aus dem die Sätze stammen, konnte vom italienischen Faschismus nicht nur
vereinnahmt werden; ihr führender Kopf, Filippo Tommaso Marinetti, arbeitete ab 1924 als
Kulturminister im faschistischen Kabinett — und blieb Mussolini bis 1944 treu.
M.C. schreibt: „Das Auto
verdankt seine positive Besetzung der durch es möglichen Kontrolle in einer
unkontrollierten Umwelt. Die Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel befinden sich
gegenwärtig oft in einer ähnlichen Lage wie Versuchstiere, an denen man das Konzept
der gelernten Hilflosigkeit ausprobiert."
Das liest sich wie:
"Mit der Eisenbahn, so
sagte der Führer, habe die individuelle Freiheit des Verkehrs aufgehört ... Im
Kraftwagen habe der Mensch dann Verkehrsinstrumente erhalten, die wieder dienende Mittel zum
Zweck wurden. Nicht der Fahrplan vergewaltige seine Entschlüsse, sondern sein Wille
bediene sich des ihm ununterbrochen gehorchenden Verkehrsinstruments” (Wilfried Bade,
hochrangiger Mitarbeiter in Goebbels Reichspropagandaministerium).
Darüber hinaus stimmen
die Aussagen doch objektiv nicht. Die Durchschnittsgeschwindigkeit der Pkw-Fahrten in heutigen
BRD-Großstädten liegt bei 28—32 km/h, in der Stadt mit der höchsten Pkw-
Dichte, Los Angeles, bei rund 25 km/h. Das entspricht der Geschwindigkeit eines sportlichen
Radfahrers. Dort wo es ausgebaute, gut funktionierende moderne Eisenbahnen gibt, sind die
Entfernungen zwischen den großen städtischen Zentren per Shinkansen oder ICE oder
TGV weit schneller, bequemer, selbstbestimmter zurückzulegen als in einem Pkw mit Stop
& Go.
Im Übrigen müssen
die Verallgemeinerungen der angeblichen Vorzüge des Autos doch mit den konkreten Daten
korreliert werden: In Berlin hat die Mehrheit der Haushalte kein Auto. Dieser Anteil wuchs in
den letzten Jahren. Warum bloß? Haben die Leute die Vorzüge des „freien
Gleitens” noch nicht erfahren?
Generell gilt: Je besser die
öffentlichen Verkehrsmittel sind, desto niedriger ist die Pkw-Dichte. Da entscheiden sich
die Menschen doch sehr handfest. Es gilt oft sogar die Relation: Je niedriger das
durchschnittliche Einkommen, desto höher die Pkw-Dichte.
M.C. schreibt über die
„modernen Bürger” Sehen wir uns die weltweite Situation an. Es gibt aktuell
weltweit rund 600 Millionen Pkw. Fast 500 Millionen konzentrieren sich auf Nordamerika, Japan,
Australien und Europa. Oder auf 20% der Menschen. Oder auch: In den vier deutschen
Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern, NRW und Sachsen gibt es mehr Pkw als in
ganz Indien und ganz China. Es wird eine Weile dauern, bis auch nur die Hälfte dieser
modernen Weltenbürger die „zentralen, ideologischen, psychischen und kulturellen
Momente, die das Auto zu dem machen, was es heute ist” (M.C.), erfahren.
Bis dahin allerdings sind die
Städte endgültig zubetoniert, ist das Klima unwiederbringlich ruiniert.
Und was immer wieder vergessen
und verschwiegen wird: Die so blumig beschriebenen mit dem Pkw verbundenen Freiheiten sind mit
einer unendlich großen Unfreiheit für Millionen Menschen verbunden. Es ist allein
diese spezifische Form der Mobilität, die Pkw-Mobilität, die aktuell jährlich
eine Million Tote und mehr als 20 Millionen Schwerverletzte fordert.
In der hoch motorisierten und
„zivilisierten” EU (EU-27) — mit relativ wenigen Straßenverkehrsopfern!
— werden allein in einem Jahrzehnt mehr als 400000 Menschen im Straßenverkehr
getötet und mehr als sechs Millionen Menschen schwer verletzt. Die unterschiedliche
Verkehrsleistung berücksichtigt, müssten im gleichen Jahrzehnt im EU-
Eisenbahnverkehr 60000 Menschen getötet werden (real sind es weniger als 3000).
Wenn schon die hehren
Gefühle des Autofahrens derart ausführlich beschrieben werden, dann müssen doch
die ebenso realen Gefühle des Schmerzes und des Leids dieser Hunderttausende Menschen
ebenfalls gewürdigt werden.
Anderenfalls bleibt eine
solche Darstellung, was sie ist: ideologisch.
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