SoZ - Sozialistische Zeitung |
Brasilien Ende 50er, Anfang 60er Jahre: Das Land befindet sich
in einer Übergangszeit. Die alten Eliten verteidigen verbissen ihre Privilegien, die
politische Führung will mit dirigistischen Methoden eine ökonomische Modernisierung
um jeden Preis durchsetzen. Die Lage der Mehrheit der Bevölkerung ist katastrophal. 40%
aller Kinder im Nordosten, dem Armenhaus des Landes, sterben, bevor sie das erste Lebensjahr
erreichen.
Kulturell ist das Land eine
Provinz, das sich am „großen Bruder” im Norden und nach Europa orientiert. Im
Teatro Brasileiro de Comédia, das den Geschmack der reichen Eliten bedient, spielen
brasilianische Schauspieler mit italienischem Akzent. Fürs „einfache Volk”
bleibt bestenfalls ein wenig Folklore aus Samba und Fußball.
Doch die Zeichen stehen auf
Veränderung. Im Nordosten organisieren sich die Landlosen, Arbeiter- und
Bauerngewerkschaften entstehen und der linksliberale Präsident João Goulart propagiert ab
1961 sogar eine Agrarreform. Eine Kampagne zur Alphabetisierung der 40 Millionen Analphabeten
läuft an, durchgeführt in Tausenden von Volkskulturzentren.
Junge Intellektuelle und
Künstler schließen sich der Kampagne begeistert an. In São Paulo wird 1956 das
kleine Teatro de Arena gegründet. Leiter wird der gerade einmal 25-jährige Augusto
Boal, der kurz zuvor aus New York zurückgekehrt ist, wo er Theaterwissenschaften und
Chemie studiert hat.
Boal und seine Schauspieler
arbeiten von Anfang an eng mit den Alphabetisierungsgruppen der Volkskulturzentren zusammen.
Die Schauspieler gehen auf die Straße und in die Armenviertel, wo sie kurze
Agitationsstücke zu aktuellen Anlässen (etwa zur kubanischen Revolution)
aufführen. In einem kleinen Theatersaal im Zentrum der Stadt werden zunächst
gesellschaftskritische Stücke ausländischer Autoren inszeniert, später dann vor
allem eigene Werke, die sich in der Alltagssprache mit den Problemen der brasilianischen
Realität beschäftigen.
Der Militärputsch 1964 beendet diese Experimente, Realismus ist auf den
Spielplänen nicht mehr erlaubt. Boal geht mit seinem Theater in die Dörfer und
Kleinstädte der Provinz. Aufgeführt werden jetzt Werke der klassischen
Theaterliteratur — allerdings mit einer kritisch-subversiven Wendung:
"Wenn wir ein Stück
von Lope de Vega oder von Molière spielten”, so erklärt Boal in einem
Interview Mitte der 70er Jahre, „konnten wir von der Heuchelei der katholischen Kirche,
von der brasilianischen Bourgeoisie sprechen, ohne dass die Zensurbehörden uns etwas
hätten anhaben können. Keiner ihrer Beamten hätte es jemals gewagt, ein so
berühmtes Stück wie Tartuffe zu verbieten, das auch auf den staatlichen
Spielplänen stand."
Nach 1968 verschärft die
Militärdiktatur die Repression. Für viele Künstler wird die Situation
unhaltbar, sie verlassen das Land. Boal aber bleibt und entwickelt mit dem Zeitungstheater die
erste Technik des „Theaters der Unterdrückten”, für das er später
international bekannt werden sollte.
Im Zeitungstheater geht es
darum, Zeitungen „gegen den Strich” zu lesen, Widersprüche zu entdecken,
Ungesagtes zu ergänzen, Artikel in einen ungewohnten und damit erhellenden Kontext zu
stellen und dies szenisch darzustellen. Mit dem Zeitungstheater beginnt die
„Übereignung des Theaters an den Zuschauer” wie Boal selbst es nennt, eine
Entwicklung, mit der er sich in den folgenden Jahren immer mehr von klassischen Formen des
Theaters entfernt.
Im März 1971 wird Boal von der Geheimpolizei verhaftet und gefoltert, kommt aber drei
Monate später nach internationalen Protesten wieder frei. Kurz darauf geht er zusammen
mit seiner Frau nach Argentinien ins Exil. Dort entwickelt er das Unsichtbare Theater, bei dem
Stücke endgültig nicht mehr auf der Bühne gespielt werden, sondern an
öffentlichen Orten. Dies geschieht ohne Wissen der Zuschauer, die schließlich ins
Spiel einbezogen und damit zu Akteuren werden.
Ziel des Unsichtbaren Theaters
ist es, gesellschaftliche Macht- und Gewaltverhältnisse deutlich zu machen und
darüber mit den Zuschauer—Akteuren ins Gespräch zu kommen.
Bei einem längeren
Aufenthalt in Peru entsteht Anfang der 70er Jahre die Idee zum Forumtheater: Eine Szene, in
der eine Unterdrückungssituation dargestellt wird, wird aufgeführt — die
Darsteller scheitern an ihr. Nun werden die Zuschauer aufgefordert, alternative
Handlungsmöglichkeiten vorzuschlagen und diese auf der Bühne umzusetzen. Auf diese
Weise ist das Forumtheater zugleich Diskussionsraum und Probehandeln im Hinblick auf
politische Praxis.
1976 geht Boal nach Europa,
zunächst nach Lissabon, später nach Paris, wo er eine rege Ausbildungstätigkeit
mit Schauspielern und Theaterpädagogen entwickelt, was sich bis heute in der Existenz
unzähliger Zentren und Workshops niederschlägt, die nach den Prinzipien des
„Theaters der Unterdrückten” arbeiten.
1986 kann Boal endlich nach
Brasilien zurückkehren. Anfang der 90er Jahre vertritt er vier Jahre lang die
Arbeiterpartei (PT) im Stadtrat von Rio de Janeiro.
In dieser Zeit entsteht das
Legislative Theater, eine Weiterentwicklung des Forumtheaters: Schauspieler erarbeiten mit
sozialen Bewegungen szenische Darstellungen von Gesetzgebungsverfahren. Diese Szenen werden
anschließend öffentlich aufgeführt, sodass die Bevölkerung Gelegenheit zu
Kritik und Veränderungsvorschlägen hat, die dann zur Formulierung von
Gesetzentwürfen aufgegriffen werden. Zwischen 1993 und 1996 werden so 50
Gesetzentwürfe erarbeitet, von denen schließlich 13 auch verabschiedet werden.
Boal arbeitet in dieser Zeit
auch intensiv mit verschiedenen sozialen Bewegungen zusammen, insbesondere mit der
Landlosenbewegung MST, aber auch mit Lehrern, Gewerkschaftern und Gefängnisinsassen.
Am 2.Mai 2009 ist Augusto Boal
im Alter von 78 Jahren in Rio de Janeiro an den Folgen einer Leukämieerkrankung
gestorben.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |