SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2009, Seite 24

Augusto Boal (1931—2009): „In jedem Menschen den Künstler finden"

Ein Nachruf auf den Erfinder des Zeitungstheaters

von Harald Etzbach

Brasilien Ende 50er, Anfang 60er Jahre: Das Land befindet sich in einer Übergangszeit. Die alten Eliten verteidigen verbissen ihre Privilegien, die politische Führung will mit dirigistischen Methoden eine ökonomische Modernisierung um jeden Preis durchsetzen. Die Lage der Mehrheit der Bevölkerung ist katastrophal. 40% aller Kinder im Nordosten, dem Armenhaus des Landes, sterben, bevor sie das erste Lebensjahr erreichen.
Kulturell ist das Land eine Provinz, das sich am „großen Bruder” im Norden und nach Europa orientiert. Im Teatro Brasileiro de Comédia, das den Geschmack der reichen Eliten bedient, spielen brasilianische Schauspieler mit italienischem Akzent. Fürs „einfache Volk” bleibt bestenfalls ein wenig Folklore aus Samba und Fußball.
Doch die Zeichen stehen auf Veränderung. Im Nordosten organisieren sich die Landlosen, Arbeiter- und Bauerngewerkschaften entstehen und der linksliberale Präsident João Goulart propagiert ab 1961 sogar eine Agrarreform. Eine Kampagne zur Alphabetisierung der 40 Millionen Analphabeten läuft an, durchgeführt in Tausenden von Volkskulturzentren.
Junge Intellektuelle und Künstler schließen sich der Kampagne begeistert an. In São Paulo wird 1956 das kleine Teatro de Arena gegründet. Leiter wird der gerade einmal 25-jährige Augusto Boal, der kurz zuvor aus New York zurückgekehrt ist, wo er Theaterwissenschaften und Chemie studiert hat.
Boal und seine Schauspieler arbeiten von Anfang an eng mit den Alphabetisierungsgruppen der Volkskulturzentren zusammen. Die Schauspieler gehen auf die Straße und in die Armenviertel, wo sie kurze Agitationsstücke zu aktuellen Anlässen (etwa zur kubanischen Revolution) aufführen. In einem kleinen Theatersaal im Zentrum der Stadt werden zunächst gesellschaftskritische Stücke ausländischer Autoren inszeniert, später dann vor allem eigene Werke, die sich in der Alltagssprache mit den Problemen der brasilianischen Realität beschäftigen.

Die Zeit der Militärdiktatur

Der Militärputsch 1964 beendet diese Experimente, Realismus ist auf den Spielplänen nicht mehr erlaubt. Boal geht mit seinem Theater in die Dörfer und Kleinstädte der Provinz. Aufgeführt werden jetzt Werke der klassischen Theaterliteratur — allerdings mit einer kritisch-subversiven Wendung:
"Wenn wir ein Stück von Lope de Vega oder von Molière spielten”, so erklärt Boal in einem Interview Mitte der 70er Jahre, „konnten wir von der Heuchelei der katholischen Kirche, von der brasilianischen Bourgeoisie sprechen, ohne dass die Zensurbehörden uns etwas hätten anhaben können. Keiner ihrer Beamten hätte es jemals gewagt, ein so berühmtes Stück wie Tartuffe zu verbieten, das auch auf den staatlichen Spielplänen stand."
Nach 1968 verschärft die Militärdiktatur die Repression. Für viele Künstler wird die Situation unhaltbar, sie verlassen das Land. Boal aber bleibt und entwickelt mit dem Zeitungstheater die erste Technik des „Theaters der Unterdrückten”, für das er später international bekannt werden sollte.
Im Zeitungstheater geht es darum, Zeitungen „gegen den Strich” zu lesen, Widersprüche zu entdecken, Ungesagtes zu ergänzen, Artikel in einen ungewohnten und damit erhellenden Kontext zu stellen und dies szenisch darzustellen. Mit dem Zeitungstheater beginnt die „Übereignung des Theaters an den Zuschauer” wie Boal selbst es nennt, eine Entwicklung, mit der er sich in den folgenden Jahren immer mehr von klassischen Formen des Theaters entfernt.

In Argentinien

Im März 1971 wird Boal von der Geheimpolizei verhaftet und gefoltert, kommt aber drei Monate später nach internationalen Protesten wieder frei. Kurz darauf geht er zusammen mit seiner Frau nach Argentinien ins Exil. Dort entwickelt er das Unsichtbare Theater, bei dem Stücke endgültig nicht mehr auf der Bühne gespielt werden, sondern an öffentlichen Orten. Dies geschieht ohne Wissen der Zuschauer, die schließlich ins Spiel einbezogen und damit zu Akteuren werden.
Ziel des Unsichtbaren Theaters ist es, gesellschaftliche Macht- und Gewaltverhältnisse deutlich zu machen und darüber mit den Zuschauer—Akteuren ins Gespräch zu kommen.
Bei einem längeren Aufenthalt in Peru entsteht Anfang der 70er Jahre die Idee zum Forumtheater: Eine Szene, in der eine Unterdrückungssituation dargestellt wird, wird aufgeführt — die Darsteller scheitern an ihr. Nun werden die Zuschauer aufgefordert, alternative Handlungsmöglichkeiten vorzuschlagen und diese auf der Bühne umzusetzen. Auf diese Weise ist das Forumtheater zugleich Diskussionsraum und Probehandeln im Hinblick auf politische Praxis.
1976 geht Boal nach Europa, zunächst nach Lissabon, später nach Paris, wo er eine rege Ausbildungstätigkeit mit Schauspielern und Theaterpädagogen entwickelt, was sich bis heute in der Existenz unzähliger Zentren und Workshops niederschlägt, die nach den Prinzipien des „Theaters der Unterdrückten” arbeiten.
1986 kann Boal endlich nach Brasilien zurückkehren. Anfang der 90er Jahre vertritt er vier Jahre lang die Arbeiterpartei (PT) im Stadtrat von Rio de Janeiro.
In dieser Zeit entsteht das Legislative Theater, eine Weiterentwicklung des Forumtheaters: Schauspieler erarbeiten mit sozialen Bewegungen szenische Darstellungen von Gesetzgebungsverfahren. Diese Szenen werden anschließend öffentlich aufgeführt, sodass die Bevölkerung Gelegenheit zu Kritik und Veränderungsvorschlägen hat, die dann zur Formulierung von Gesetzentwürfen aufgegriffen werden. Zwischen 1993 und 1996 werden so 50 Gesetzentwürfe erarbeitet, von denen schließlich 13 auch verabschiedet werden.
Boal arbeitet in dieser Zeit auch intensiv mit verschiedenen sozialen Bewegungen zusammen, insbesondere mit der Landlosenbewegung MST, aber auch mit Lehrern, Gewerkschaftern und Gefängnisinsassen.
Am 2.Mai 2009 ist Augusto Boal im Alter von 78 Jahren in Rio de Janeiro an den Folgen einer Leukämieerkrankung gestorben.


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