SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2009, Seite 28

"Ansteckende Neurosen"

Der Psychoanalytiker Paul Parin (1916—2009) und seine Arbeit über die „Partisanenkrankheit"

Paul Parin (geb. 20.September 1916 in Polzela, Österreich-Ungarn, heute Slowenien; gestorben am 18.Mai 2009 in Zürich) war ein schweizerischer Psychoanalytiker, Ethnologe und Schriftsteller slowenischer Abstammung.
Paul Parin wuchs in einer großbürgerlichen, jüdisch-assimilierten Familie auf dem elterlichen Gutsbesitz in Slowenien auf. Nach dem Studium der Medizin in Graz und Zagreb, das er 1942 mit der Promotion abschloss, arbeitete Parin 1944/45 als Chirurg bei den jugoslawischen Partisanen. In der Schweiz erweiterte er seine medizinische Ausbildung und wurde Neurologe und Psychoanalytiker mit eigener Praxis in Zürich.
Nach gemeinsamen Forschungsreisen vor allem in Afrika entwickelte er mit seiner Frau Goldy Parin-Matthèy (†1997) und Fritz Morgenthaler die Ethnopsychoanalyse. Seit Mitte der 60er Jahre wurden die Forscherautoren international bekannt, weil es ihnen gelungen war, die Methoden der Psychoanalyse in der Ethnologie anzuwenden. In der psychoanalytisch grundierten Feldforschungsstudie mit dem Titel Die Weißen denken zu viel (1963) wiesen sie nach, dass sich die in Europa und Nordamerika entwickelte und angewandte Psychoanalyse auch für die Arbeit mit Angehörigen anderer Herkunft eignete. Parin war einer der prominentesten Vertreter einer im Sinne radikaler Aufklärung politisch engagierten Psychoanalyse. Er hielt die Erinnerungen an seine Forschungsreisen in mehreren Büchern fest; dazu kamen in seiner letzten Lebenszeit noch eine Reihe von Erzählbänden.
Helmut Höge und Antonia Herrscher haben Paul Parin im Sommer 2008 über Jugoslawien im Zweiten Weltkrieg und die dortige Partisanenkrankheit interviewt.



Er wurde 92 Jahre alt. Seine ethnopsychoanalytischen Bücher, die er zusammen mit seiner Frau Goldy und seinem Freund Fritz Morgenthaler schrieb, waren in der Studentenbewegung quasi Pflichtlektüre. In den letzten 15 Jahren veröffentlichte er vor allem Erzählungen. Antonia Herrscher und ich interviewten ihn im Sommer 2008 über „Jugoslawien” und die dortige „Partisanenkrankheit”1948 hatte er, der zuvor als Arzt bei den „Tito- Partisanen” gearbeitet hatte, einen psychiatrischen Bericht über die in Jugoslawien nach dem Krieg bei demobilisierten Partisanen massenhaft aufgetretene „Partisanenkrankheit” veröffentlicht. Es war seine erste wissenschaftliche Veröffentlichung und diese Krankheit bezeichnete er in seinem Aufsatz als hysterische bzw. epileptische „Kampfanfälle” Sie bedeuteten für ihn das Gegenteil einer „Kriegsneurose": Während diese den davon Heimgesuchten vor weiteren Fronteinsätzen quasi schützt, legte jene nahe, dass der oder die an ihr Erkrankte nicht mit dem Kämpfen aufhören kann bzw. will. Das betraf damals etwa 120000 zumeist junge, ungebildete vom Land stammende Demobilisierte (ein Drittel davon waren Frauen).

Als Arzt bei den Partisanen

"Die Arbeit als Chirurg bei den Partisanen in Jugoslawien war eine wichtige Erfahrung für mich”, sagt Paul Parin im dem Interview. „Zunächst während des Krieges, im Januar 1946 war ich dann noch einmal in Jugoslawien, in Nordbosnien. Das war noch vor meiner Arbeit als Psychoanalytiker. Die ‘Partisanenkrankheit‘ war dann so interessant, dass ich alles aufgeschrieben habe.
In Jugoslawien — gegen Ende des Krieges — waren die Ärzte zunächst ratlos angesichts der plötzlich massenhaft auftretenden ‘PK‘: eine ‘ansteckende Epilepsie? Das gibt es doch nicht!‘ Ein Drittel der Kranken waren Frauen. Die demobilisierten Partisanen, die schon in der zuvor zusammengestellten Volksbefreiungsarmee gekämpft hatten, waren ratlos — sie drängten in ihre Einheiten zurück. 90% des Landes waren vom Krieg verwüstet, die Häuser ihrer Eltern zerstört, und ihre Eltern lebten vielleicht gar nicht mehr. Was sollten sie machen? Ihr Kampfanfall war auch ein Wunsch. In unserem Spital kam es immer wieder zu solchen Anfällen — einer umgekehrten Kriegsneurose. Das Spitalpersonal hielt sie fest, ich habe vorgeschlagen, lasst sie los, aber das ging nicht, sie verletzten sich bei ihren Anfällen. Besonders hat sich ein jugoslawischer Psychiater namens Klejn um sie gekümmert. Er hat dann später seine Praxis aufgegeben und ist Regisseur an der Belgrader Oper geworden. Ich habe einen Briefwechsel mit ihm über die PK geführt — Klejn hat ihren Sinngehalt genauso gesehen wie ich, auch in Bezug auf die Ansteckung.
Ich arbeitete erst in einem Spital in Montenegro, dann in einem auf einer Insel nahe Korcula, wo wir bis Februar 1945 in einem Franziskaner-Internat untergebracht waren. Dann wurde das Spital aufs Festland verlegt — nach Herzegnowy, wo wir das ehemalige Spital der königlich-jugoslawischen Marine übernahmen. Ich war der einzige Arzt dort für 660 Schwerverletzte und Typhuskranke. Zur chirurgischen Assistenz stand mir eine sehr gute Krankenschwester zur Seite. Die Tschetniks hatten ihren Mann und ihre Kinder erschossen.
Die Partisanenkrankheit ist in Slowenien, bei slowenischen Partisanen, nicht aufgetreten — es gab dort kein Sexualverbot. Zu wenig betont habe ich in meinem Artikel darüber, dass die Partisanenkrankheit ideologisch vorgebildet war — in Form von Trancezuständen. In Nordbosnien wurden die Töchter verheiratet. Wenn der Braut der Mann nicht gepasst hat, bekam sie „Zustände”, um der Ehe auszuweichen — bis ein Mann ausgesucht wurde, der ihr gepasst hat. Das habe ich nicht damals gewusst. Wahrscheinlich ist die Partisanenkrankheit dort entstanden. Schließlich waren 80000—120000 junge Leute praktisch geisteskrank."
Die Partisanenkrankheit war zuvor auch schon von Nadeshda Mandelstam beobachtet worden: Sie fuhr mit ihrem Mann 1922 nach Suchumi — auf dem Schiff befanden sich viele demobilisierte Leichtverwundete, die aus dem Bürgerkrieg zurückkehrten, und ständig kam es unter ihnen zu solchen „Kampfanfällen”
Zuletzt berichtete Ursula Hauser in Gesprächen mit Paul Parin von ähnlichen Symptomen. Sie hatte in Costa Rica ein psychoanalytisches Institut aufgebaut und in Nikaragua Miskito-Indianer behandelt. Diese waren früher von wiedertäuferischen Brüdergemeinen beeinflusst worden, hatten ansonsten jedoch derart isoliert gelebt, dass sie sich primär durch Inzest vermehrten. Ihr Stamm wurde dann in zwei Teile geteilt: die einen schlossen sich den Sandinistas an, die anderen den Contras. Nach Beendigung der Kämpfe kam es unter ihnen ebenfalls zu einer „ansteckenden Neurose” — ähnlich der Partisanenkrankheit.

Ansteckend

Wenn man Paul Parin folgt, dann hatte das rigide partisanische Sexualtabu in Jugoslawien — mit der Ausnahme von Slowenien — zur Folge, dass nach dem Krieg dort die „Partisanenkrankheit” epidemische Ausmaße annahm. Dabei bekamen die ehemaligen Kämpfer plötzlich massenhaft hysterische Kampfanfälle: „In früheren Kriegen hatten Kriegsneurosen stets den verborgenen Sinn, einem unerträglichen Geschehen zu entrinnen ... Bei Jugoslawiens Partisanen war es umgekehrt. Vielen war es unmöglich, den Kampf aufzugeben.” Es wurden deswegen Spezialkliniken dafür eingerichtet — jugoslawische Ärzte begannen mit der Erforschung dieser im Gegensatz zur „Kriegsneurose” bis dahin unbekannten Krankheit.
Von „Ansteckung” redet auch Roger Caillois in seinem Buch Méduse & Cie, in dem es um die „Mimese” geht, die er als tierisches Pendant zur menschlichen Mode begreift. Beides gründet sich für ihn „auf eine undurchsichtige Ansteckung” Gilles Deleuze und Félix Guattari sprechen bei der Banden-, Meuten- und Schwarmbildung von „Ansteckung”, insofern es dabei um ein „Werden” geht. Dieses kommt durch Bündnisse zustande: „Werden besteht gewiss nicht darin, etwas nachzuahmen oder sich mit etwas zu identifizieren; es ist auch kein Regredieren-Progredieren mehr; es bedeutet nicht mehr, zu korrespondieren oder korrepondierende Beziehungen herzustellen; und es bedeutet auch nicht mehr, zu produzieren, eine Abstammung zu produzieren oder durch Abstammung zu produzieren. Werden ist ein Verb, das eine eigene Konsistenz hat; es lässt sich auf nichts zurückführen und führt uns weder dahin, ‘zu scheinen‘ noch ‘zu sein‘. Das Werden ist eine Vermehrung, die durch Ansteckung geschieht. So wie beim Vampir — der sich ja auch nicht fortpflanzt, sondern ansteckt."
Dies scheint mir, bei allem Respekt vor marxistischen (politökonomischen) Analysen, auch für die 68er-Studentenbewegung zu gelten, die sich u.a. in Frankreich und Italien mit den Arbeitern verbündete. Es gab kaum ein Land auf der Welt, das nicht von dieser Protestbewegung erfasst worden wäre. Und das geschah eben auf dem Wege der Ansteckung: über die Protest-Formen, -Moden, -Musiken, ihre mediale Verbreitung und durch direkten Kontakt mit den Protestierenden selbst.
Wissenschaftlich kann es so etwas wie eine „ansteckende Neurose” nicht geben, dennoch kennen wir solche Phänomene schon seit langem: im Mittelalter die Veitstänze und in den 60er Jahren die Hysterien der Beatlesfans. Sogar bei frühen Sartre-Auftritten war es zu solchen hysterischen Ohnmachten gekommen. Daneben gilt das Lachen, aber auch das Gähnen, als ansteckend — nicht einmal Hunde können sich dem entziehen.
Um während der Studentenbewegung die Ansteckungsgefahr zu bannen, d.h. die Revolte an der Ausbreitung zu hindern, setzten die konservativen Kräfte in den meisten Ländern auf die heilsame Wirkung von Polizeiknüppeln. In der Protestbewegung selbst wusste man jedoch, dass gerade die Polizeiknüppel auf Demonstrantenschädel eine bewusstseinserweiternde Wirkung hatten — sogar auf unbeteiligte Fernsehzuschauer. Erst 20 Jahre später und nach dem „Zusammenbruch des Sozialismus” trauten sich Politiker wieder, die „68er” für alle Übel dieser Welt verantwortlich zu machen: Bei Tony Blair und Nicolas Sarkozy war dies sogar Teil ihres Regierungsprogramms. Auch die Universitätspräsidenten beeilten sich landauf landab, „die letzten Folgen von ‘68 zu beseitigen”, wie sie lauthals verkündeten. Die nächste Protestpest wird umso gewisser sein. Zumal es bis jetzt noch keinerlei Forschung darüber gibt, wie die Ansteckung wirklich erfolgt — geschweige denn, wie man sie im Keim ersticken kann.

Das Posttraumatische Syndrom

Durchgesetzt hat sich seitdem jedoch die andere Seite — mit einer anderen Begrifflichkeit: Als die US-Soldaten nach dem Vietnamkrieg nach Hause kamen, wurden sie von der kriegsmüden und in der Haltung zum Krieg gespaltenen Bevölkerung nicht gerade freudig empfangen. Sie organisierten sich und gründeten die gewerkschaftsähnliche Organisation der Vietnam Veterans. Mit ihrer Lobbyarbeit gelang ihnen 1980 die Anerkennung und damit Etablierung der PTSD — „Post-Traumatic-Stress-Disorder” (posttraumatischen Belastungsstörung) — durch die American Psychiatric Association. „Die PTSD-Diagnose bedeutete eine Würdigung ihrer psychologischen Leiden”, schrieb die Soziologin Eva Illuoz.

Der vollständige Text.


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