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Die Bundes- und
Landtagswahlen vom 27.September und 30.August stellen eine historische Zäsur dar: DIE LINKE erzielt herausragende
Ergebnisse auf beiden Ebenen und etabliert sich als stabile fünfte Partei im Parlament. Die SPD wandert zurück
ins 30-Prozent-Ghetto, aus dem Willy Brandt sie 1972 herausgeholt hatte.
Beide Entwicklungen führen paradoxerweise dazu, dass
rechnerische Mehrheiten für Rot-Rot-Grün sich nicht mehr ohne weiteres in politische Mehrheiten umsetzen. So
geschehen im Saarland, wo eine „linke” Alternative zum deutlich abgewählten Peter Müller an den
Grünen scheiterte; so geschehen in Thüringen, wo Christoph Matschie sich über den Willen seiner eigenen
Partei hinwegsetzte. DIE LINKE gilt immer noch als Bürgerschreck, obwohl sie es gar nicht sein will; an ihr scheidet
sich die Frage nach mehr oder weniger Ausgaben für Soziales und nach der Haltung zum Krieg. Beide Fragen sorgen in
den Grünen und in der SPD für Sprengstoff.
Wenn man sich ein Urteil über die Wahlen in diesem
Herbst bilden will, darf man nicht nur auf die Bundestagswahlen schauen. Anders als hier nämlich, und mit Ausnahme
von Sachsen) hat es bei den Landtagswahlen Ende August und am 27.9. überall Stimmenmehrheiten für Rot-Rot-
Grün gegeben — selbst in Schleswig-Holstein, wo das Wahlgesetz es möglich machte, dass diese
Stimmenmehrheit sich nicht in eine Mehrheit der Landtagssitze übersetzte.
Ein Beispiel für das unterschiedliche Wahlverhalten
für den Bund und fürs Land ist Brandenburg: Hier wurde am selben Tag für Bund und Land gewählt. CDU
und FDP haben im Bund um 3,4 Prozentpunkte besser, die SPD hingegen um 1,6 Prozentpunkte schlechter abgeschnitten als im
Land, ein Abstand von 5 Prozentpunkten zulasten der SPD im Bund. DIE LINKE schnitt beides Mal ziemlich gleich ab, wurde
damit jedoch bei der Bundestagswahl in Brandenburg stärkste Partei, bei der Landtagswahl zweitstärkste Partei.
Bei der Bundestagswahl haben die bürgerlichen Parteien nicht gewonnen, sie haben sogar leicht verloren: 2005
erzielten Union und FDP zusammen noch 21.282.250 Stimmen; 2009 sanken sie auf 20.971.084 Stimmen (311.166 weniger). Das
Entscheidende, und für linke Politik wesentliche, Element bei dieser Wahl war, dass die SPD 6 Millionen Stimmen
verloren hat und mit 23% (9.990.488 Stimmen) auf den niedrigsten Stand seit Bestehen der Bundesrepublik gefallen ist. Ein
schlechteres Wahlergebnis hat die SPD nur 1890 eingefahren, als die Sozialistengesetze gerade abgeschafft waren, und in
den turbulenten Weimarer Jahren 1920, 1924, 1932 und 1933. Turbulent werden die Jahre wieder, und es bestätigt sich
erneut, dass die SPD eine Schönwetterpartei ist, dazu in der Lage, für die arbeitende Bevölkerung in
Zeiten guter Konjunktur Verbesserungen herauszuholen, aber unfähig, eine Alternative zum Kapitalismus zu entwerfen,
wenn dieser in die Krise gerät.
Die SPD hat keine Vorstellung davon, wie eine
Gesellschaft jenseits des Kapitalismus aussehen könnte. Früher wurde dieses Defizit durch programmatischen
Verbalradikalismus und Sonntagsreden überdeckt; seit Godesberg ist der Ballast abgeschafft.
Das kurze Zwischenhoch mit Willy Brandt verdankte sich
den Ostverträgen und einer nachholenden Demokratisierung und Modernisierung des Kapitalismus, aber das waren die
guten Zeiten. Der Amtsantritt Schröders war noch von Versprechungen für mehr soziale Gerechtigkeit begleitet;
als 2003 die Konjunktur nachließ und die Arbeitslosenzahlen auf den höchsten Stand seit 1997 schnellten,
kapitulierte Schröder, riss das Ruder herum und schoss dabei mit der Agenda 2010 weit über das Ziel hinaus
— nur um die Vermögenden nicht zu verprellen und ihnen auch in Krisenzeiten noch gute Einkünfte in Form
von Steuererleichterungen zu ermöglichen.
In der Krise folgt die Nach-Godesberg-SPD den
Anforderungen der Kapitalbesitzer und Vermögenden; 1930 war das noch anders, da brachte sie Brünings
Notverordnung zu Fall.
Elf Jahre war die SPD jetzt an der Regierung; in diesen
elf Jahren hat sie die Hälfte ihrer Wähler verloren und ist auf 500.000 Mitglieder geschrumpft (Ende der 70er
Jahre hatte sie über eine Million!). Die Schröder-Riege hat ihre Spuren hinterlassen: Politik wurde in seiner
Regierungszeit von oben mit Machtwörtern dekretiert ("Basta!"), die Meinung der Kreis- und
Bezirksvorsitzenden war nicht mehr gefragt, die untere und mittlere Funktionärsschicht spielte im parteilichen
Willenbildungsprozess keine Rolle mehr. Damit wurde auch der Rest an Verbindungen, die zwischen der Basis in den
Ortsvereinen, Gewerkschaften und Verbänden und der Parteispitze existierten, gekappt.
Die SPD ist heute keine Partei mehr, die einfachen Leuten
hilft, ihre Probleme zu lösen, sie ist nicht mehr die Partei derer, die im Rennen um die Wettbewerbsfähigkeit
zurückbleiben. Von gewerkschaftlich organisierten Arbeitern bekommt sie gerade noch 35% der Stimmen, von den nicht
gewerkschaftlich Organisierten 21%.
Seit Schröder predigt sie mehr
Eigenverantwortlichkeit, weniger Staat, mehr Privat. Sie lässt ihre Wähler in der Kälte stehen, hat sich
neuen Schichten zugewandt, die „in der Mitte” sitzen und ein dickeres Polster haben. Eine Arbeiterpartei ist
sie schon rein soziologisch nicht mehr. Die Mehrzahl ihrer Mitglieder sind Akademiker. Den größten Zulauf an
Wählern bekommt sie von Rentern und Beamten.
Sie ist in sich gespalten, weiß nicht mehr, ob sie
den Sozialstaat verteidigen oder ob sie ihn abschaffen soll. Um aus der SPD wieder eine genuine Vertretung der
Lohnabhängigen zu machen, müsste eine ganze neue Generation eintreten, die sie darauf verpflichtet. Das ist
nicht absehbar, deshalb wird sich die Erosion der Wähler und Mitglieder fortsetzen — was zwischenzeitliche
Erholungen nicht ausschließt.
Die SPD hinterlässt ein großes Loch. Bis in die Amtszeit von Rau hinein hat sie Teile der Gesellschaft
strukturiert; zwar nicht mehr mit Arbeitersport- und -kulturvereinen oder Selbsthilfeorganisationen wie in der Weimarer
Zeit, sondern mit karriereorientierten Seilschaften, die es verstanden, Pfründe unter ihre Kontrolle zu bekommen,
und mit sozialstaatlichen Regelungen, die trotz hoher Arbeitslosigkeit den meisten Menschen ein Auskommen
ermöglichte.
Der Wechsel zur Agenda 2010, die Konzentration auf die
Medienresonanz zulasten der parteiinternen Debatte und Willensbildung, und die Aushöhlung des Sozialstaats haben der
SPD den Boden unter den Füßen entzogen.
DIE LINKE füllt dieses Loch nicht. Sie hat nur ein
Sechstel der Stimmen gewonnen, die die SPD verloren hat, und sie hat in das Lager der Nichtwähler keinen Einbruch
erzielt, im Gegenteil, sie hat 350.000 Stimmen dahin abgegeben. Trotzdem hat sie einen bemerkenswerten Wahlsieg errungen,
5 Millionen Stimmern erobert und ist in allen Bundesländern über 5% gekommen.
Im Osten ist sie in Brandenburg sogar stärkste
Partei, in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern zweitstärkste Partei geworden. Sie hat einen stabilen Platz im
Fünfparteiensystem erobert. Aber sie ist — zumindest im Westen — eine Wahlpartei; im Osten soll ihre
Rolle als „Partei für den Alltag, nicht nur für den Wahltag” auch schwächer geworden sein.
Mit stolz geschwellter Brust geht DIE LINKE nun daran zu
überlegen, wie sie die SPD für gemeinsame Regierungskoalitionen gewinnen kann. Es ist ja nicht außerhalb
der Welt, dass bei den Landtagswahlen im kommenden Jahr in NRW die bürgerlichen Parteien weiter verlieren und die
SPD sich wieder ein wenig erholt. In der SPD fallen derzeit die Tabus, mit denen DIE LINKE belegt wurde.
Wenn DIE LINKE aber nur darauf schielt, wie sie sich mit
einstelligen Stimmergebnissen und null parlamentarischer Erfahrung in (westliche) Landesregierungen beamen kann, wird sie
auf die Nase fallen. Denn es fehlt ihr schlicht der gesellschaftliche Unterbau.
Es wird von der LINKEN mehr verlangt, als die
sozialdemokratischen Parolen zu verteidigen, die die SPD verlassen hat. Sie muss etwas tun, was die SPD seit dem Krieg
vernachlässigt hat: unter den vielen Verlierern der Krise wieder Solidarstrukturen schaffen. Und sie muss diese
verbinden mit etwas, was die SPD nie hatte: eine klare Vorstellung von einem gesellschaftspolitischen Ziel jenseits der
Profitorientierung — von einer Wirtschaft die nicht mehr auf fossilen Brennstoffen basiert, die die regionalen
Kreisläufe stärkt, die Industrie ökologisch umbaut, die Arbeitslosigkeit durch Arbeitszeitverkürzung,
technologischen Wandel und Formen der solidarischen Ökonomie senkt. Das beinhaltet konkrete Schritte auf dem Weg zu
mehr öffentlichem Eigentum und mehr direkte Mitsprache- und Kontrollrechte der Bevölkerung durch geeignete
Mechanismen der Partizipation.
Eine solche LINKE wäre allerdings auch in einer
Regierung Opposition.
Die Aufgabe der kommenden Wochen und Monate für DIE
LINKE wie für die sozialen Bewegungen wird sein, mit allen Mitteln die Kräfte der Gegenwehr zu stärken. In
Frankreich bilden sich wieder örtliche Komitees gegen die Privatisierung der Post (siehe Seite 10); wie wäre
es, wenn es hier etwas Ähnliches gäbe? Das wäre eine Gelegenheit, einen betrieblichen Kampf zu einer
gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung auszuweiten.
Nicht nur die SPD, auch die Gewerkschaften wissen nicht,
in welcher Perspektive sie ihre Kämpfe führen wollen. Michael Sommer und Berthold Huber beschwören die
Union als Stütze des Sozialstaats. Eine Perspektive für das eigene Handeln ist das nicht. Die Linken in Ver.di
und in der IG Metall versuchen, andere Perspektiven zu formulieren. Der Brückenschlag zwischen ihnen, den sozialen
Bewegungen und den oppositionell gesinnten Kräften in der LINKEN ist noch schwach, aber dringend nötig. Das
Sozialforum im Wendland hat ihn nicht geschafft, vielleicht kommt die Aktionskonferenz am 17.November in Stuttgart ein
Stück weiter.
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