SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2009, Seite 10

Der Streik der Unsichtbaren

IG BAU ruft Beschäftige des Reinigungsgewerbes zum Erzwingungsstreik auf

von Jochen Gester

Nach einer Reihe von Warnstreiks in der ersten Oktoberhälfte, in die 357 Objekte einbezogen waren, hat eine Urabstimmung im Reinigungsgewerbe den Weg frei gemacht für den ersten unbefristeten Erzwingungssteik, den es überhaupt in dieser Branche gibt.
Am Dienstag, dem 20.Oktober, wurde gewerkschaftliches Neuland betreten. Um Null Uhr gab die IG BAU den Startschuss für einen Streik der Gebäudereinigerinnen, für den 96,7% der gewerkschaftlich Organisierten gestimmt hatten. In der Branche sind 860.000 Beschäftigte registriert. Etwa 90% der Beschäftigten arbeiten im Bereich der Unterhalts-/Innenreinigung, wo Vollzeitarbeitsstellen die Ausnahme sind. Viele Reinigungskräfte arbeiten lediglich 2—3 Stunden pro Tag und haben mehrere Jobs, um halbwegs über die Runden zu kommen. Etwa 80% der Beschäftigten sind weiblich, viele haben einen Migrationshintergrund.
Ende September war der Mindestlohntarifvertrag für 450.000 Beschäftigte ausgelaufen, die Verhandlungen wurden nach sechs Runden ohne Ergebnis beendet. Die IG BAU fordert 8,7% Lohnerhöhung für 12 Monate, eine zusätzliche Altersvorsorge und die schrittweise Angleichung der Ost- an die Westlöhne. Das letzte Angebot der Unternehmer lag nach Berechnungen der Gewerkschaft bei 1,8% im Westen und 2,1% im Osten. Die Reinigungsunternehmen waren bei ihrem Angbebot davon ausgegangen, dass sie keinen Mindestlohn mehr zahlen müssen. Der IG-BAU-Vorsitzende Klaus Wiesehügel äußerte die Befürchtung, ohne eine Einigung auf einen Mindestlohntarifvertrag, der mindestens das aktuelle Niveau halte, werde es dazu kommen, dass die Lohnuntergrenzen bei Neueinstellungen im Westen auf unter 6 Euro, im Osten auf unter 5 Euro fallen. Gegenwärtig liegt die Lohnuntergrenze im Westen bei 8,15, im Osten bei 6,58 Euro.
Die Arbeitsbedingungen sind hart. Die Gewerkschafterin Angelika W., der von der TU wegen Teilnahme am Streik gekündigt wurde — die Kündigung wurde in der Zwischenzeit gerichtlich für ungültig erklärt —, hat in drei Stunden 100 Räume zu reinigen. Die Arbeit beginnt um 5.30 Uhr. Geputzt werden muss außer den Fußböden alles, auch die Fenster. Besonders belastend sei die Arbeit mit den schweren Bohner- und Schamponiermaschinen und das Tragen der Wassereimer. Sie habe mittlerweile einen kaputten Rücken und zwei Bandscheibenvorfälle.
Susanne Neumann, Bezirksvorsitzende des Emscher-Lippe-Au- Kreises in NRW, beschrieb den Unmut ihrer Kolleginnen: Ihre Arbeit werde von niemandem honoriert, weder durch Respekt noch durch einen angemessen Lohn. Es sei an der Zeit klarzumachen: „Wir machen zwar Dreck. Aber wir sind kein Dreck, und das wird die Bevölkerung jetzt merken."
Am ersten Streiktag beteiligten sich rund 2200 Gebäudereinigerinnen an 134 Objekten. In Berlin waren das u.a. prominente Adressen wie die Technische Universität, der Deutsche Bundestag, das Berliner Abgeordnetenhaus, der BND und das Schönebeger Rathaus. Überall machten sich die Streikenden aus dem hinterlassenen Staub. Die IG BAU will eine flexible Streiktaktik anwenden. Sie verzeichnet nach eigenen Angaben seit Streikbeginn einen „ungalublichen Mitgliederzuwachs” und eine große Bereitschaft der Beschäftigten, den Arbeitskampf auf neue Objekte auszuweiten. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad lag vor Beginn des Arbeitskampfs bei 12,5%.
Der „Streik der Unsichtbaren” wird wohl einen langen Atem benötigen. Die jetzt Sichtbaren brauchen dafür sichtbare Solidarität, die von einer Solidaritätserklärung, über gemeinsame Besuche der örtlichen Streiklokale bis zur praktischen Unterstützung der Streikenden reichen kann.


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