SoZ - Sozialistische Zeitung |
Nach einem dreijährigen Prozess wurden der Kapitän Stefan Schmidt und Elias
Bierdel, die ehemaligen Leiter der Hilfsorganisation Cap Anamur von der Beihilfe zur illegalen Einwanderung
freigesprochen; die Anklage gegen den Ersten Offizier, Wladimir Daschkewitsch, wurde komplett fallen gelassen. Die
Staatsanwaltschaft hatte je vier Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von 400.000 Euro gefordert. In einem
ähnlichen Prozess wird am 17.November ein Urteil gefällt: Angeklagt sind tunesische Fischer, die im August 44
Menschenleben retteten.
Was war vor fünf Jahren geschehen? Im Juni 2004
hatte Stefan Schmidt, pensionierter Kapitän und Freiwilliger für die deutsche Hilfsorganisation Cap Anamur, 37
afrikanische Schiffbrüchige nahe Lampedusa vor dem sicheren Tod gerettet. Der Hafen von Lampedusa war zu klein, also
steuerte man Porto Empedocle in Südsizilien an.
Kurz vor der Einfahrt in den Hafen kam der Schock: Die
italienischen Behörden — vermutlich auf obersten Befehl aus dem Innenministerium — verwehrten dem
deutschen Hilfsschiff die Einfahrt. Die Folge: Das Schiff lag tagelang knapp außerhalb der italienischen
Gewässer. Tag und Nacht bewachten italienische Sicherheitsbehörden den deutschen Frachter. Die Situation wurde
untragbar, einige der Schiffbrüchigen drohten damit, sich über Bord zu werfen, der Kapitän entschied in
den Hafen einzufahren.
Sofort nach der Anlandung wurden Elias Bierdel, Stefan
Schmidt und der erste Offizier verhaftet. Die Schiffbrüchigen brachte man direkt in ein Abschiebelager, binnen
weniger Wochen wurden alle, bis auf zwei, nach Ghana abgeschoben, obwohl ihre Nationalität nie endgültig
festgestellt wurde. Fünf Tage waren Elias Bierdel, Stefan Schmidt und Wladimir Daschkewitsch in Haft, eineinhalb
Jahre später, im November 2006 eröffnete das Gericht von Agrigent den Prozess.
Die Angeklagten Elias Bierdel und Stefan Schmidt sahen
nicht allein dem Urteilsspruch entgegen. Neben den zahlreichen sizilianischen Unterstützern war auch eine Delegation
aus Lübeck im spätsommerliche Agrigent eingetroffen. Lübeck ist nicht nur die Heimat des Kapitäns
Stefan Schmidt, es ist auch der Heimathafen des Schiffes Cap Anamur. Die Bürger der Stadt hatten den Umbau des
Schiffs zu einer „humanitäre Einheit”, komplett mit Krankenstation, finanziell und moralisch
unterstützt; einige waren anwesend, als es am 29.Februar 2004 in See stach. Seither wurde es zunächst von den
Italienern beschlagnahmt, später von Cap Anamur verkauft.
Am Abend vor der Urteilsverkündung überreichten
Vertreter der Humanistischen Union, des Lübecker Forums für Flüchtlinge und Pastor Kai Gusek von der
Lübecker Diakonie eine Grußbotschaft ihrer Stadtpräsidentin, Gabriele Schopenhauer, dem Agrigentiner
Präfekten, Umberto Postiglione. Dieser gab sich jovial und interessiert. Wortreich gab er zu verstehen, dass er sich
nicht zu den Prozessen gegen die Cap Anamur und die tunesischen Fischer äußern wollte und ließ
durchblicken, dass dort, wo Rauch ist, auch Feuer sein muss, sprich, die Prozesse nicht ohne Grund eröffnet worden
seien. Italien hätte schon Tausende Menschen gerettet, und das Mittelmeer, so der Präfekt, sei in
„Frontex-Zonen” unterteilt, die verteidigt werden müssen. Das ist ein kleiner Irrtum, denn
„Frontex-Zonen” gibt es nicht, vielmehr gibt es SAR-Zonen (Sicherheits- und Rettung).
Nach der Begegnung mit dem Präfekten gestalteten Vertreter der Delegation gemeinsam mit der NGO Borderline Europe
vor der Agrigenter Präfektur eine Gedenkfeier für die vielen unbekannten toten Flüchtlinge, zeitgleich gab
es ähnliche Feiern in Kiel und Lübeck.
Kurz darauf, um Mitternacht, brachte die Küstenwache
rund 15 nordafrikanische Flüchtlinge in den Hafen von Agrigent, Porto Empedocle. Ganz in der Nähe ertranken in
denselben Tagen sieben Flüchtlinge vor der Küste von Gela.
Laut Berichten von Fortress Europe überquerten in
den Tagen rund um die Cap Anamur-Urteilsverkündung rund 250 Menschen den Kanal von Sizilien, rund 100 davon
erreichten Malta. Von Anfang Mai bis Anfang Juli wurden 1122 Flüchtlinge direkt nach Libyen abgeschoben — die
Abschiebungen scheinen weniger zu werden, sagt Fortress Europe.
Wie dramatisch die Lage im Kanal von Sizilien ist, zeigte
sich Ende Oktober: Ein Schiff mit 298 Menschen an Bord schlug am Freitag, dem 23.Oktober, Alarm. Das zuständige
Malta griff nicht ein und auch Libyen schickte keine Rettung. Daraufhin sandte die italienische Küstenwache den
Öltanker Antignano als Beistand. Erst am Montag, bereits in italienischen Gewässern, konnten die
Flüchtlinge bei äußerst widrigen Wetterbedingungen (Windstärke 20 Knoten) in Boote der italienischen
Küstenwache umsteigen. Ein Mann konnte nur noch tot geborgen werden. Die Flüchtlinge kommen allesamt aus
Eritrea und Somalia.
Bis Mitte Dezember wird das Gericht die
Urteilsbegründung veröffentlichen, dann hat die Staatsanwaltschaft theoretisch 45 Tage lang die
Möglichkeit, Einspruch zu erheben. Doch ein „gutes Ende” ist das mitnichten, der Fall markiert den
Beginn einer skrupellosen und teils gesetzeswidrigen massiven Abschottungspolitik Italiens und der EU. Allein in den
letzten Jahren gehen die Opfer dieser Politik in die Zehntausende. Obwohl die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft
allesamt entkräftet wurden, bangte Vittorio Porzio, der neapolitanische Verteidiger, bis zuletzt: „Zwei und
zwei sind vier in der Mathematik, doch leider nicht in der Justiz."
Am 17. November wird das Gericht von Agrigent das Urteil
im Prozess gegen die sieben tunesische Fischer fällen: Sie retteten im August 2007 44 Menschen das Leben vor
Lampedusa und wurden wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise” angeklagt.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |