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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2009, Seite 15

Der Goldstone-Bericht

Israels Angst vor Kritik aus dem Westen

von Uri Avnery

Die Annahme des Goldstone-Berichts durch den UN-Menschenrechtsrat hat die israelische Regierung zu wütenden Protesten veranlasst. Allein der Gedanke an die Möglichkeit, Israel könne Kriegsverbrechen begehen, sei antisemitisch. Der Verfasser, Richard Goldstone, ist Südafrikaner jüdischer Herkunft und war bis 2003 Richter am südafrikanischen Verfassungsgericht. Von 1994 bis September 1996 war er Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof der Vereinten Nationen in Sachen Ex-Jugoslawien und Rwanda. Sein Bericht beschuldigt Israel und die Hamas, im Krieg Israels gegen den Gazastreifen (Operation „Gegossenes Blei”, 27.12.08—18.1.09) Kriegsverbrechen begangen zu haben.
Natürlich ist es die Schuld des Richters Richard Goldstone. Ihm muss man die Schuld geben, er ist an allen unangenehmen Problemen schuld, mit denen wir uns jetzt auseinandersetzen müssen.
Er ist schuld an den Schwierigkeiten, die wir sowohl mit der UNO in New York, als auch in Genf haben. Schuld an der Verschwörung, die darauf abzielt, unsere politischen und militärischen Führer vor das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu stellen; schuld an der Krise zwischen der Türkei und uns; schuld an den vielen Initiativen in aller Welt, die einen Boykott Israels organisieren. Nun ist er auch schuld an der existenziellen Bedrohung, der sich Mahmoud Abbas (Abu Masen) gegenübersieht.
Als der Goldstone-Bericht dem UN-Menschenrechtsrat vorgelegt wurde, entschied unsere Regierung, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um auch nur eine Debatte darüber zu verhindern. Die Debatte wurde natürlich von den Palästinensern verlangt. Als der Bericht veröffentlicht wurde, tat der palästinensische Vertreter in Genf das Selbstverständliche: Er verlangte, dass der Bericht mit der Aussicht debattiert würde, dass er dem Sicherheitsrat vorgelegt werde, der ihn dann dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag weiterreichen würde.
Was dann kam, konnte man voraussehen. Die israelische Regierung übte starken Druck auf die USA aus. Die USA taten dasselbe gegenüber Mahmoud Abbas. Abbas gab nach und instruierte seinen Vertreter in Genf dahingehend, seine Forderung nach einer Debatte zurückzuziehen.
In jeder anderen Angelegenheit wäre dies stillschweigend geschehen. Aber da es um den Gazakrieg ging, explodierte die palästinensische Öffentlichkeit. Während des Krieges konnte jeder Palästinenser der Westbank auf dem Sender Al-Jazeera und auf anderen arabischen Kanälen jeden Tag und jede Stunde die Grausamkeiten des Krieges miterleben, die übel zugerichteten Leichen von Frauen und Kindern, die zerstörten Schulen und Moscheen, die Bomben mit weißem Phosphor...
Für die Hamasführer war Abbas‘ Order, die Forderung zurückzuziehen, ein Geschenk Allahs. Sie fielen wütend über Abbas her. „Verräter”, „Kollaborateur”, „Subunternehmer der zionistischen Mörder” waren die moderateren Schimpfwörter. Sie fanden ein Echo unter vielen Palästinensern, die nicht unbedingt Hamasunterstützer sind.

Abbas‘ Abhängigkeiten

Abbas‘ legale Position ist unsicher. Nach der einen Version wäre seine Amtszeit längst zu Ende. Nach einer anderen wird sie in wenigen Monaten zu Ende gehen. Egal, wie es ist, er wird gezwungen sein, bald Wahlen abzuhalten. In dieser Situation kann er gegenüber einem wütenden Ausbruch der Öffentlichkeit gegen ihn nicht gleichgültig sein. Also zog er die logische Konsequenz: Er instruierte seinen Genfer Vertreter, er möge sein Ersuchen um eine Debatte des Goldstone-Berichts erneuern. Diese Debatte endete mit einer Resolution, den Bericht vor die UN-Vollversammlung zu bringen.
Unsere frustrierte Regierung reagierte wütend. Die orchestrierten Medien erklärten, Abbas sei eine „undankbare” Person, ja, ein Heuchler. Schließlich, war nicht er es, der die Israelis während des Gazakrieges gedrängt hatte, ihre Angriffe auf die Gazabevölkerung zu intensivieren, um Hamas zu stürzen? Diese Anklage goss Öl ins Feuer. Für die Palästinenser bedeutete sie, dass Abbas die von den Israelis begangenen Gräueltaten nicht genügten und noch mehr verlangte. Man kann sich kaum eine schlimmere Behauptung vorstellen.
Als ob dies nicht genug wäre, berichteten die israelischen Medien, Jerusalem habe der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) ein Ultimatum gestellt: Wenn das Ersuchen nach einer Debatte nicht zurückgezogen würde, dann würde Israel keine Zuteilung von Frequenzen für das zweite palästinensische Mobiltelefonnetz al-Wataniya genehmigen, unter deren Partnern — so wurde hämisch berichtet — sich auch Abbas‘ Söhne befinden. Solch eine Zuteilung von Frequenzen ist Hunderte Millionen von Dollar wert. Selbst in solch einer Sache sind die Palästinenser total von den israelischen Besatzungsbehörden abhängig.

Zwischen Hammer und Amboss

Die ganze Affäre wirft ein schonungsloses Licht auf die unmögliche Situation, in der sich die PA befindet. Zwischen Hammer und Ambos — tatsächlich sogar zwischen mehreren Hämmern und einem Ambos.
Der eine Hammer ist Israel. Der Ministerpräsident der PA, Salam Fayad, weist auf den wirtschaftlichen Fortschritt hin, der seiner Ansicht nach in der Westbank statt gefunden hat. Mehrere Straßensperren wurden beseitigt, ein imponierendes Einkaufszentrum wurde in Nablus eröffnet. Innerhalb von zwei Jahren, so sagte er, könnten die Palästinenser so weit sein, einen palästinensischen Staat zu errichten. Er ignoriert die Tatsache, dass die israelische Armee der De-facto-Souverän in den besetzten Gebieten ist und all diese Bemühungen von einem Augenblick zum anderen beenden kann. Die Straßenblöcke können wieder zurückversetzt und gar verdoppelt, die Städte unter Ausgangssperre gesetzt, das Einkaufszentrum zerstört werden. Jedes neue Einkaufszentrum vergrößert in der Westbank die Abhängigkeit vom Wohlwollen der Besatzungsbehörden.
Ein anderer Hammer sind die Amerikaner. Die PA lebt vom Geld aus den USA und dem ihrer europäischen Handlanger. Die Sicherheitskräfte der PA werden vom amerikanischen General Keith Dayton trainiert. Washington behandelt Abbas, wie es den afghanischen Präsidenten Hamid Karzei und den irakischen Ministerpräsidenten Nuri Kamal Maliki behandelt: Er ist „unser Hurensohn” Er existiert so lange, wie wir wollen — er verschwindet, wenn wir ihn nicht mehr brauchen.
Bei einem Zusammenstoß zwischen Washington und Jerusalem würde Ramallah profitieren. Aber, wie die Goldstone-Epidode zeigt, arbeiten die USA und Israel vorläufig noch völlig zusammen. Abbas hat keine andere Wahl, als nach der israelischen Flöte zu tanzen.
Der Ambos sind die Palästinenser. Im Augenblick ist die palästinensische Öffentlichkeit passiv. Sie ist müde, völlig fertig, frustriert, verzweifelt. Doch die Goldstone-Affäre zeigt, dass es unter der Oberfläche brodelt.
Abbas‘ ursprüngliche Order, das Ersuchen um eine Debatte über den Goldstone-Bericht zurückzuziehen, war auch ein Hindernis für die Bemühungen, die Spaltung zwischen den palästinensischen Fraktionen zu überwinden. Die israelischen Medien berichten mit Häme, der Hass zwischen Fatah und Hamas sei nun stärker als der Hass gegenüber den Israelis. Das ist kein einzigartiges Phänomen. Die irischen Freiheitskämpfer töteten einander mit Leib und Seele, als die Briten einen Kompromiss anboten. So etwas ist an vielen Orten geschehen.
Falls die Palästinenser werden wählen müssen, sind sie nicht zu beneiden. Auf der einen Seite wird Hamas als nichtkorrupte Bewegung angesehen, die dem Kampf gegen Israel weiterhin treu bleibt. Aber die fundamentalistischen religiösen Einschränkungen, die sie jetzt den Bewohnern des Gazastreifens, besonders den Frauen, auferlegen, sind für viele Palästinenser abschreckend. Auf der andern Seite wird die palästinensische Behörde von vielen als korrupt und als Kollaborateur angesehen, aber auch als die einzige Körperschaft, die amerikanische Unterstützung für die palästinensische Sache bekommt.

Abbas ist gefährlich

Was macht unsere Regierung aus dieser Situation? Naivlinge könnten sagen: Israel ist an der Eliminierung der extremen Hamas und der Stärkung des moderaten Abbas interessiert, der für den Frieden mit Israel arbeitet.
Wenn es so wäre, warum hindert die israelische Regierung Abbas daran, politisch etwas zu gewinnen, und wenn es nur symbolisch wäre? Warum wiederholen die israelischen Medien jeden Tag, Abbas sei fürs Frieden-Machen zu schwach? Warum unterbreitet Netanyahu Abbas Bedingungen, deren Akzeptanz für ihn politischer Selbstmord bedeuten würde (z.B. die Anerkennung Israels als der „Staat der jüdischen Nation")? Warum geht die Erweiterung der Siedlungen in Ostjerusalem und auf der Westbank mit erhöhter Geschwindigkeit weiter — unter Abbas‘ Augen?
Die politische und militärische Führung Israels besteht nicht aus dummen Leuten. Weit davon entfernt. Wenn sie etwas tut, dessen Konsequenzen klar vorausgesehen werden können, muss man vermuten, dass es genau das ist, was sie will, selbst wenn sie das Gegenteil behauptet. Wenn alle Regierungsaktionen Hamas stärken und Abbas schwächen, ist dann nicht genau das ihre Absicht?
Tatsächlich, für die augenblickliche israelische Politik ist Abbas gefährlich. Er genießt die Unterstützung von Präsident Obama, der Israel unter Druck setzt, es solle mit den Verhandlungen um „zwei Staaten für zwei Völker” beginnen, was mit dem Rückzug aus der Westbank und der Auflösung der meisten Siedlungen verbunden wäre. Das würde das Ende von 120 Jahren zionistischer Ausdehnung und sogar einen fundamentalen Wandel im Charakter Israels bedeuten.
Eine Machtwechsel in der Westbank würde von diesen „Gefahren” ablenken. Kein amerikanischer Druck für einen Kompromiss, keine Notwendigkeit für Verhandlungen, keine „Beschränkung” der Siedlungstätigkeit wären nötig, kein Kompromiss über Jerusalem. Die Besatzung könnte ungestört weitergehen. Dies kann in der Zukunft zu einer Katastrophe führen. Aber wer denkt schon an die Zukunft?


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