SoZ - Sozialistische Zeitung |
Beim 200. Todestag des Dichters Schiller,
beklatschte die Berliner Prominenz, ganz im feinen Stil, im Smoking und im
„kleinen Schwarzen”, nicht das Wollen des Dichters, sondern vielmehr
sich selbst. Zu seinem 250.Geburtstag wird sicher wieder in diesem Sinne
gejubelt werden.
"Die Arbeit
an der Kulturnation ist eine geistige Aufgabe”, sagte die damalige
Kulturstaatsministerin Weiss in ihrer Festtagsrede (9.5.05), „und sie ist
eine europäische Aufgabe. Der Weg ist das Ziel. Wir müssen uns immer
wieder neu fragen. Schiller reicht uns dabei die Hand.” Spätestens an
dieser Stelle sollte ein Freund des Dichters laut aufschreien. Schiller soll
für einen Weg missbraucht werden, der nicht der seinige gewesen wäre.
Vielleicht, wenn er der Rede der Ministerin hätte beiwohnen können,
wäre sein skeptischer Blick irritiert im festlichen Saale herum geirrt,
dessen Stille schließlich durch die pathetischen Worte des Dichters in
Erschütterung geraten wären: „Sie wollen”, hätte er
gefragt, „Allein in ganz Europa — sich dem Rade / Des
Weltverhängnisses, das unaufhaltsam / In vollem Laufe rollt,
entgegenwerfen? / Mit Menschenarm in seine Speichen fallen? / Sie werden nicht!
Schon flohen Tausende / Aus Ihren Ländern froh und arm.” (Don
Carlos.)
Schiller und
Goethe lebten nämlich in einer Zeit der bürgerlichen Revolution, die
in Frankreich mit Schwung Realität, in Deutschland aber nur durch wenig
große Dichter und Denker gedanklich antizipiert wurde, da Deutschland unter
der Kleinstaaterei und ökonomischer Rückständigkeit litt.
Schillers
Egmont, der Don Carlos oder sein Wilhelm Tell, wie sein historisches Werk
über die Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der
Spanischen Regierung sind deutsche Zukunftsbilder aus fremden Vergangenheiten.
Es geht ihm um die freiheitliche Entfaltung des einzelnen Menschen in
freiheitlicher Gesellschaft. Er zeichnete mit seinen Werken Bilder einer
Revolution, die er, gemeinsam mit Goethe, für Deutschland als notwendig und
heilsam erachtete, die allerdings, infolge der ökonomischen und politischen
Rückständigkeit des Landes, nicht Realität werden konnten.
Schiller war
kein „Klassiker”, der nur im Staub der griechischen Dramen
wühlte, um an deren Gestaltungsfülle zu partizipieren. Sein Bezug zur
griechischen Antike verfolgte einen ganz pragmatischen Zweck, der zur Tat und
— was Schiller in seinen theoretischen Schriften betont — besonders
zur Erziehung der Menschen beitragen sollte. Wenn die Revolution nicht
tatsächlich das Volk in demokratischer Lebensweise schulen konnte, so
sollte die Schulung zumindest auf der Bühne erfolgen. Die Köpfe der
Menschen sollten demokratisch erzogen werden. Sozusagen eine Demokratie ohne
Unterbau sollte auf diese Weise geschaffen werden. Die Kunst sollte die Freiheit
in den Köpfen antizipieren, damit sie in Zukunft Realität werde.
Schiller wollte zu Freiheit und Demokratie erziehen. Wer erziehen will, muss
wissen, wohin er seine Zöglinge ziehen will. Die dazu nötige Botschaft
brannte in Schiller lichterloh. Er forderte von den Menschen Mut und den Willen
zur Befreiung vom Naturrecht des Adels und dessen Leibeigen- und Knechtschaft:
„Der Landmann stürzt sich mit der nackten Brust, / Ein freies Opfer,
in die Schar der Lanzen, / Er bricht sie, und des Adels Blüte fällt, /
Es hebt die Freiheit siegend ihre Fahne” (Wilhelm Tell).
Schillers
Botschaft war getragen von Vernunft und Liebe: „Kann ich dafür, wenn
eine knechtische / Erziehung schon in meinem jungen Herzen / Der Liebe zarten
Keim zertrat?"
Die Ex-Staatsministerin Weiss, die sich in ihrer Lobpreisung des deutschen
Dichters derartig banale menschliche Botschaften verbat, glaubte ihrerseits eine
viel wichtigere Verbindung zum Bejubelten herstellen zu können. „Wie
Schiller”, sagte sie, „haben auch wir das Gefühl, in einer Zeit
des Niedergangs und der nationalen Demütigung zu leben."
Moment, wird
möglicherweise im Auditorium jemand der Kenner des Dichters gedacht haben,
bei Schiller konnte es mitnichten eine nationale Demütigung gegeben haben.
Wo war die Nation, die hätte gedemütigt werden können? Schillers
Dramen, besonders Wallenstein und Die Jungfrau von Orleans, wollten geradezu die
Kämpfe der Völker um die nationale Einheit, um ihr Werden zur Nation
zeigen. Da muss die Ministerin wohl etwas übersehen haben. Sie hat nichts
übersehen. Sie weiß genau, dass Figuren wie Schiller schließlich
nur vereinnahmt werden, um ein großes Wir-Gefühl zu stiften. Warum wir
das brauchen? „Der Patriotismus der alten Bundesrepublik war ein
Wirtschaftspatriotismus, der sich in dem stolzen Wort Exportweltmeister zeigte.
Jetzt, wo diese merkantilen Grundlagen des Nationalgefühls erschüttert
sind, scheint die Verlockung auf, den etwas angestaubten Schrein der
Kulturnation aufzupolieren."
Schiller hat
lange Zeit im verstaubten Schrein, wenn auch im falschen, also nicht neben dem
Goethes, gelegen. Keiner wollte seine längst verwesten Gedanken über
die Freiheit hören. Joseph Goebbels hatte diesen Schrein der deutschen
Kulturnation übrigens auch geöffnet. In seiner Rede zur Schiller-
Gedächtnisfeier in Weimar am 10.November 1934 nannte er ihn einen
großen dichterischen „Vorkämpfer unserer Revolution” Der
Irrationalismus der Nazis wollte an Schillers Werk saugen.
Die idealisierte Stilisierung des positiven Helden als Repräsentanten
der Citoyenseite des Bürgers, der gegen die Adelsrechte zu kämpfen
wusste, musste bei Schiller ihr unerreichbares Vorbild im Griechentum, in der
griechisch antiken Lebensweise suchen. Für Schiller war dieses Vorbild eine
ästhetische Konsequenz aus der großzügigen und trotzdem
realistischen, politischen und zugleich menschlichen Atmosphäre, die sich
in den griechischen Tragödien entfalten konnte, weil sie tatsächlich
in der griechischen Polis von den Freien gelebt wurde. Gleichgültig welche
Frage in der griechischen Tragödie zum Gegenstand des Konflikts wurde, sie
konnte stets als Angelegenheit öffentlichen Interesses auch öffentlich
behandelt werden. Die Zerrissenheit des bürgerlichen Menschen in Citoyen
und Bourgeois, den die griechische Polis nicht kannte, die aber mit der
Französischen Revolution bereits deutlich in Erscheinung trat, ließ
Schiller zu den Stilmitteln der klassischen Antike Zuflucht nehmen, um den
Citoyen als die Seite zu idealisieren, die den Bourgeois zügeln und
erziehen müsse.
Schillers Größe und Kühnheit besteht darin, dass er,
unbekümmert um die Widersprüche, in die er sich verwickeln musste, die
bürgerliche Gesellschaft rücksichtslos kritisierte und dennoch keinen
Augenblick lang versäumte, sie als Fortschritt gegenüber der feudalen
Gesellschaft zu preisen.
"Freiheit
und Gleichheit! hört man schallen, / Der ruhge Bürger greift zur
Wehr, / Die Straßen füllen sich, die Hallen, / Und Würgerbanden
ziehn umher, / Da werden Weiber zu Hyänen / Und treiben mit Entsetzen
Scherz, / Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen, / Zerreißen sie des
Feindes Herz. / Nichts Heiliges ist mehr, es lösen / Sich alle Bande
frommer Scheu” (Das Lied von der Glocke).
Dieser
Betrachtung der Ambivalenz der bürgerlichen Gesellschaft — einerseits
fortschrittliche Produktion, andererseits Vereinsamung und Entfremdung der
Menschen — schlossen sich knapp fünfzig Jahre später Marx und
Engels an: „Die Bourgeoisie”, schrieben sie, „wo sie zur
Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen
Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den
Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig
zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen
als das nackte Interesse, als die gefühllose bare
Zahlung.” (Kommunistisches Manifest.)
Schiller, wie
auch Goethe, zogen freilich andere Schlussfolgerungen aus der ambivalenten
Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Sie verstiegen sich in eine
ästhetisierende Betrachtung der gesellschaftlichen Entwicklung, bemerkten
sie doch, wie unmöglich sich ihr Wunsch nach echter Freiheit von
bürgerlicher Entfremdung in ihrer Zeit verwirklichen ließ.
Der dynamische
Veränderungsprozess, in Gang gesetzt durch gewaltige Umwälzungen in
der produktiven Kraft der Gesellschaft, deren immer differenziertere
Arbeitsteilung den einzelnen Menschen stets weiter vom gattungsmäßigen
Ziel des Arbeits- und Lebenszwecks entfernte, war bereits für Schiller und
Goethe erkennbar geprägt durch eine allgemeine Verrohung der menschlichen
Beziehungen. Die Faktizität des Wissens war gefragt. Die Intellektuellen
glaubten nicht mehr an die Erkennbarkeit der Totalität des Seins. Ihr
Interesse für seine Dynamik und ontologische Beschaffenheit verringerte
sich signifikant. Stattdessen warfen sie sich mit ganzer Kraft auf ihr
Spezialgebiet, ihre Wissenschaft und Begabung. Mit ihren vielfältigen
Spezialisierungen rückten sie zunehmend vom Kern des menschlichen Seins ab,
der Gesellschaftlichkeit und Gattungsmäßigkeit beinhaltet. Sie
partikularisierten, statt zu individualisieren.
Schiller erkannte die beiden Seiten der bürgerlichen Gesellschaft und
spürte, wie ihr Fortschritt die Menschlichkeit in ihrem Wachstum
behinderte. Dieses Hindernis hätte er nicht durch bessere PISA-
Beurteilungen aus der Welt schaffen wollen, sondern durch verstärkten
Citoyengeist, durch Vertrauen in Gott und erzieherische Wunder, die er sich von
der Bühne erhoffte. Schiller hätte Theaterbühnen errichtet, statt
sie zu schließen, wie das heute unter der Regie der Kulturminister
geschieht.
Schillers
idealistischer Freiheitskampf stützte sich auf die von ihm gewünschte
Befreiung des Citoyen vom Bourgeois — was freilich ein unerfüllbarer
Wunsch bleiben musste. Nicht der „Freiheit des Marktes”, nicht der
„Freiheit des Bourgeois”, nicht der „Freiheit der
Egoisten” galt Schillers Wirken. Freiheit, das war für Schiller die
Pflicht des Einzelnen, dem Allgemeinen und Gattungsmäßigen zu dienen,
um dergestalt als Citoyen menschlich tatsächlich individualisieren zu
können.
Als würde
sich Schiller an den heutigen jungen Intellektuellen wenden, der in Bachelor-
und Master-Studiengängen eng an die Arbeitswelt des Bourgeois angepasst
werden soll, so aktuell klingen seine Worte: „Bald wird seine
Berufswissenschaft als ein Stückwerk ihn anekeln; Wünsche werden in
ihm aufwachen, die sie nicht zu befriedigen vermag, sein Genie wird sich gegen
seine Bestimmung auflehnen. Als Bruchstück erscheint ihm jetzt alles, was
er tut, er sieht keinen Zweck seines Wirkens, und doch kann er Zwecklosigkeit
nicht ertragen. Das Mühselige, das Geringfügige in seinen
Berufsgeschäften drückt ihn zu Boden, weil er ihm den frohen Mut nicht
entgegensetzen kann, der nur die helle Einsicht, nur die geahndete Vollendung
begleitet. Er fühlt sich abgeschnitten, herausgerissen aus dem Zusammenhang
der Dinge, weil er unterlassen hat, seine Tätigkeit an das große Ganze
der Welt anzuschließen.” (Was heißt und zu welchem Ende studiert
man Universalgeschichte?)
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