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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2009, Seite 24

Friedrich Schiller zum 250.Geburtstag

"Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus"

von Jürgen Meier

Friedrich Schiller wurde am 10.November 1759 geboren.

Beim 200. Todestag des Dichters Schiller, beklatschte die Berliner Prominenz, ganz im feinen Stil, im Smoking und im „kleinen Schwarzen”, nicht das Wollen des Dichters, sondern vielmehr sich selbst. Zu seinem 250.Geburtstag wird sicher wieder in diesem Sinne gejubelt werden.
"Die Arbeit an der Kulturnation ist eine geistige Aufgabe”, sagte die damalige Kulturstaatsministerin Weiss in ihrer Festtagsrede (9.5.05), „und sie ist eine europäische Aufgabe. Der Weg ist das Ziel. Wir müssen uns immer wieder neu fragen. Schiller reicht uns dabei die Hand.” Spätestens an dieser Stelle sollte ein Freund des Dichters laut aufschreien. Schiller soll für einen Weg missbraucht werden, der nicht der seinige gewesen wäre. Vielleicht, wenn er der Rede der Ministerin hätte beiwohnen können, wäre sein skeptischer Blick irritiert im festlichen Saale herum geirrt, dessen Stille schließlich durch die pathetischen Worte des Dichters in Erschütterung geraten wären: „Sie wollen”, hätte er gefragt, „Allein in ganz Europa — sich dem Rade / Des Weltverhängnisses, das unaufhaltsam / In vollem Laufe rollt, entgegenwerfen? / Mit Menschenarm in seine Speichen fallen? / Sie werden nicht! Schon flohen Tausende / Aus Ihren Ländern froh und arm.” (Don Carlos.)
Schiller und Goethe lebten nämlich in einer Zeit der bürgerlichen Revolution, die in Frankreich mit Schwung Realität, in Deutschland aber nur durch wenig große Dichter und Denker gedanklich antizipiert wurde, da Deutschland unter der Kleinstaaterei und ökonomischer Rückständigkeit litt.
Schillers Egmont, der Don Carlos oder sein Wilhelm Tell, wie sein historisches Werk über die Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung sind deutsche Zukunftsbilder aus fremden Vergangenheiten. Es geht ihm um die freiheitliche Entfaltung des einzelnen Menschen in freiheitlicher Gesellschaft. Er zeichnete mit seinen Werken Bilder einer Revolution, die er, gemeinsam mit Goethe, für Deutschland als notwendig und heilsam erachtete, die allerdings, infolge der ökonomischen und politischen Rückständigkeit des Landes, nicht Realität werden konnten.
Schiller war kein „Klassiker”, der nur im Staub der griechischen Dramen wühlte, um an deren Gestaltungsfülle zu partizipieren. Sein Bezug zur griechischen Antike verfolgte einen ganz pragmatischen Zweck, der zur Tat und — was Schiller in seinen theoretischen Schriften betont — besonders zur Erziehung der Menschen beitragen sollte. Wenn die Revolution nicht tatsächlich das Volk in demokratischer Lebensweise schulen konnte, so sollte die Schulung zumindest auf der Bühne erfolgen. Die Köpfe der Menschen sollten demokratisch erzogen werden. Sozusagen eine Demokratie ohne Unterbau sollte auf diese Weise geschaffen werden. Die Kunst sollte die Freiheit in den Köpfen antizipieren, damit sie in Zukunft Realität werde. Schiller wollte zu Freiheit und Demokratie erziehen. Wer erziehen will, muss wissen, wohin er seine Zöglinge ziehen will. Die dazu nötige Botschaft brannte in Schiller lichterloh. Er forderte von den Menschen Mut und den Willen zur Befreiung vom Naturrecht des Adels und dessen Leibeigen- und Knechtschaft: „Der Landmann stürzt sich mit der nackten Brust, / Ein freies Opfer, in die Schar der Lanzen, / Er bricht sie, und des Adels Blüte fällt, / Es hebt die Freiheit siegend ihre Fahne” (Wilhelm Tell).
Schillers Botschaft war getragen von Vernunft und Liebe: „Kann ich dafür, wenn eine knechtische / Erziehung schon in meinem jungen Herzen / Der Liebe zarten Keim zertrat?"

Patriotismus

Die Ex-Staatsministerin Weiss, die sich in ihrer Lobpreisung des deutschen Dichters derartig banale menschliche Botschaften verbat, glaubte ihrerseits eine viel wichtigere Verbindung zum Bejubelten herstellen zu können. „Wie Schiller”, sagte sie, „haben auch wir das Gefühl, in einer Zeit des Niedergangs und der nationalen Demütigung zu leben."
Moment, wird möglicherweise im Auditorium jemand der Kenner des Dichters gedacht haben, bei Schiller konnte es mitnichten eine nationale Demütigung gegeben haben. Wo war die Nation, die hätte gedemütigt werden können? Schillers Dramen, besonders Wallenstein und Die Jungfrau von Orleans, wollten geradezu die Kämpfe der Völker um die nationale Einheit, um ihr Werden zur Nation zeigen. Da muss die Ministerin wohl etwas übersehen haben. Sie hat nichts übersehen. Sie weiß genau, dass Figuren wie Schiller schließlich nur vereinnahmt werden, um ein großes Wir-Gefühl zu stiften. Warum wir das brauchen? „Der Patriotismus der alten Bundesrepublik war ein Wirtschaftspatriotismus, der sich in dem stolzen Wort Exportweltmeister zeigte. Jetzt, wo diese merkantilen Grundlagen des Nationalgefühls erschüttert sind, scheint die Verlockung auf, den etwas angestaubten Schrein der Kulturnation aufzupolieren."
Schiller hat lange Zeit im verstaubten Schrein, wenn auch im falschen, also nicht neben dem Goethes, gelegen. Keiner wollte seine längst verwesten Gedanken über die Freiheit hören. Joseph Goebbels hatte diesen Schrein der deutschen Kulturnation übrigens auch geöffnet. In seiner Rede zur Schiller- Gedächtnisfeier in Weimar am 10.November 1934 nannte er ihn einen großen dichterischen „Vorkämpfer unserer Revolution” Der Irrationalismus der Nazis wollte an Schillers Werk saugen.

Griechentum

Die idealisierte Stilisierung des positiven Helden als Repräsentanten der Citoyenseite des Bürgers, der gegen die Adelsrechte zu kämpfen wusste, musste bei Schiller ihr unerreichbares Vorbild im Griechentum, in der griechisch antiken Lebensweise suchen. Für Schiller war dieses Vorbild eine ästhetische Konsequenz aus der großzügigen und trotzdem realistischen, politischen und zugleich menschlichen Atmosphäre, die sich in den griechischen Tragödien entfalten konnte, weil sie tatsächlich in der griechischen Polis von den Freien gelebt wurde. Gleichgültig welche Frage in der griechischen Tragödie zum Gegenstand des Konflikts wurde, sie konnte stets als Angelegenheit öffentlichen Interesses auch öffentlich behandelt werden. Die Zerrissenheit des bürgerlichen Menschen in Citoyen und Bourgeois, den die griechische Polis nicht kannte, die aber mit der Französischen Revolution bereits deutlich in Erscheinung trat, ließ Schiller zu den Stilmitteln der klassischen Antike Zuflucht nehmen, um den Citoyen als die Seite zu idealisieren, die den Bourgeois zügeln und erziehen müsse.

Bürgerliche Ambivalenz...

Schillers Größe und Kühnheit besteht darin, dass er, unbekümmert um die Widersprüche, in die er sich verwickeln musste, die bürgerliche Gesellschaft rücksichtslos kritisierte und dennoch keinen Augenblick lang versäumte, sie als Fortschritt gegenüber der feudalen Gesellschaft zu preisen.
"Freiheit und Gleichheit! hört man schallen, / Der ruh‘ge Bürger greift zur Wehr, / Die Straßen füllen sich, die Hallen, / Und Würgerbanden ziehn umher, / Da werden Weiber zu Hyänen / Und treiben mit Entsetzen Scherz, / Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen, / Zerreißen sie des Feindes Herz. / Nichts Heiliges ist mehr, es lösen / Sich alle Bande frommer Scheu” (Das Lied von der Glocke).
Dieser Betrachtung der Ambivalenz der bürgerlichen Gesellschaft — einerseits fortschrittliche Produktion, andererseits Vereinsamung und Entfremdung der Menschen — schlossen sich knapp fünfzig Jahre später Marx und Engels an: „Die Bourgeoisie”, schrieben sie, „wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‘bare Zahlung‘.” (Kommunistisches Manifest.)
Schiller, wie auch Goethe, zogen freilich andere Schlussfolgerungen aus der ambivalenten Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Sie verstiegen sich in eine ästhetisierende Betrachtung der gesellschaftlichen Entwicklung, bemerkten sie doch, wie unmöglich sich ihr Wunsch nach echter Freiheit von bürgerlicher Entfremdung in ihrer Zeit verwirklichen ließ.
Der dynamische Veränderungsprozess, in Gang gesetzt durch gewaltige Umwälzungen in der produktiven Kraft der Gesellschaft, deren immer differenziertere Arbeitsteilung den einzelnen Menschen stets weiter vom gattungsmäßigen Ziel des Arbeits- und Lebenszwecks entfernte, war bereits für Schiller und Goethe erkennbar geprägt durch eine allgemeine Verrohung der menschlichen Beziehungen. Die Faktizität des Wissens war gefragt. Die Intellektuellen glaubten nicht mehr an die Erkennbarkeit der Totalität des Seins. Ihr Interesse für seine Dynamik und ontologische Beschaffenheit verringerte sich signifikant. Stattdessen warfen sie sich mit ganzer Kraft auf ihr Spezialgebiet, ihre Wissenschaft und Begabung. Mit ihren vielfältigen Spezialisierungen rückten sie zunehmend vom Kern des menschlichen Seins ab, der Gesellschaftlichkeit und Gattungsmäßigkeit beinhaltet. Sie partikularisierten, statt zu individualisieren.

...und das Bildungsideal

Schiller erkannte die beiden Seiten der bürgerlichen Gesellschaft und spürte, wie ihr Fortschritt die Menschlichkeit in ihrem Wachstum behinderte. Dieses Hindernis hätte er nicht durch bessere PISA- Beurteilungen aus der Welt schaffen wollen, sondern durch verstärkten Citoyengeist, durch Vertrauen in Gott und erzieherische Wunder, die er sich von der Bühne erhoffte. Schiller hätte Theaterbühnen errichtet, statt sie zu schließen, wie das heute unter der Regie der Kulturminister geschieht.
Schillers idealistischer Freiheitskampf stützte sich auf die von ihm gewünschte Befreiung des Citoyen vom Bourgeois — was freilich ein unerfüllbarer Wunsch bleiben musste. Nicht der „Freiheit des Marktes”, nicht der „Freiheit des Bourgeois”, nicht der „Freiheit der Egoisten” galt Schillers Wirken. Freiheit, das war für Schiller die Pflicht des Einzelnen, dem Allgemeinen und Gattungsmäßigen zu dienen, um dergestalt als Citoyen menschlich tatsächlich individualisieren zu können.
Als würde sich Schiller an den heutigen jungen Intellektuellen wenden, der in Bachelor- und Master-Studiengängen eng an die Arbeitswelt des Bourgeois angepasst werden soll, so aktuell klingen seine Worte: „Bald wird seine Berufswissenschaft als ein Stückwerk ihn anekeln; Wünsche werden in ihm aufwachen, die sie nicht zu befriedigen vermag, sein Genie wird sich gegen seine Bestimmung auflehnen. Als Bruchstück erscheint ihm jetzt alles, was er tut, er sieht keinen Zweck seines Wirkens, und doch kann er Zwecklosigkeit nicht ertragen. Das Mühselige, das Geringfügige in seinen Berufsgeschäften drückt ihn zu Boden, weil er ihm den frohen Mut nicht entgegensetzen kann, der nur die helle Einsicht, nur die geahndete Vollendung begleitet. Er fühlt sich abgeschnitten, herausgerissen aus dem Zusammenhang der Dinge, weil er unterlassen hat, seine Tätigkeit an das große Ganze der Welt anzuschließen.” (Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?)

Jürgen Meier ist Schriftsteller und wohnt in Hildesheim. Zuletzt erschien von ihm: Eiszeit in Deutschland (Verlag Westfälisches Dampfboot). Er hat das Theaterstück Die kräftigen Dritten geschrieben


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