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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.1 vom 08.01.2000, Seite 13

Sackgasse im Kaukasus

Tschetschenien zwischen heiligem Krieg und russischem Imperialismus

Der Anthropologe und Journalist Leo Gabriel besuchte im November Inguschetien, Dagestan und Moskau. Er hatte die Gelegenheit, mit Politikern, Menschenrechtsorganisationen, inhaftierten islamischen Fundamentalisten und der Zivilbevölkerung über den Tschetschenienkrieg zu diskutieren. Die österreichische Zeitschrift die Linke sprach mit Leo Gabriel nach seiner Rückkehr aus dem Kaukasus.

Die russische Regierung nahm eine Serie von Bombenanschlägen in Moskau zum Anlass für das harte Vorgehen gegen Tschetschenien. Welche Eindrücke über die Urheberschaft der Attentate hast du bekommen?
Leo Gabriel: Unmittelbar nach den Bombenexplosionen wurden auch von der Presse in Moskau Zweifel angemeldet, ob das wirklich die tschetschenischen Rebellen waren oder ob das etwa auf das Konto des ehemaligen Geheimdienstchefs im ersten Tschetschenienkrieg und jetzigen Ministerpräsidenten Wladimir Putin gehe. Ich habe mir in Dagestan die Folgen eines Bombenattentats auf eine Militärsiedlung in Buinaksk genauer angesehen.
Der erste Unterschied zu den Anschlägen in Moskau ist der, dass dieses Attentat zielgerichtet in einer Militärsiedlung stattfand, während in Moskau wahllos Wohnhäuser in die Luft gejagt wurden. Zweiter Unterschied: In Dagestan wurde der Bombenanschlag über tschetschenische Radiostationen als Racheakt auf den Überfall der russischen Armee auf das Dorf Karamachy angekündigt. Die Attentate in Moskau dagegen wurden ohne Vorwarnung ausgeführt. Die tschetschenischen Organisationen bestritten zudem unmittelbar danach, dass sie mit den Anschlägen etwas zu tun gehabt hätten. Dritter Unterschied: Die Tage, an denen die Entscheidung über den Armeeeinsatz gegen Tschetschenien vorbereitet wurde, fielen mit einem Machtwechsel im Kreml zusammen - und da "passieren" diese Bombenanschläge. Aus einer politischen Logik heraus nützten die Bombenanschläge dem neuen russischen Ministerpräsidenten. Es ist allerdings auch nicht auszuschließen, dass die Tschetschenen einen Fehler gemacht haben.
Seltsam ist allerdings, dass bis heute keine Verantwortlichen genannt oder festgenommen werden konnten, obwohl doch der mächtige Geheimdienst mit der Aufklärung betraut wurde.

Was sind die wichtigsten politischen Strömungen innerhalb des tschetschenischen Widerstands?
Nach dem Ende des letzten Tschetschenienkriegs, den die russische Armee verlor, erhielt Tschetschenien unter Vermittlung von General Lebed einen gewissen Unabhängigkeitsstatus. Der Führer der Rebellen dieses Krieges, General Maschchadow, wurde zum Präsidenten gewählt. Der zweite Kandidat war Schamil Bassajew, der während des letzten Krieges durch seine Geiselnahme im Spital von Budjonowsk bekannt wurde.
Die Truppen, die Bassajew unterstanden, haben unabhängig von der Armee mit Aktivitäten begonnen. Sie spielten dabei mit politischen Kräften aus dem arabischen Raum zusammen, allen voran mit Khatab, von dem niemand weiß, woher er genau kommt. Da griff eine Art Terrorismus um sich - ich verwende den Begriff ungern - aber in diesem Fall trifft er zu, weil die Anschläge wahllos gegen zufällig vorbeikommende Ausländer und Ausländerinnen sowie gegen die eigene Zivilbevölkerung gerichtet waren, um Geld zu erpressen. Viele der Unabhängigkeitskämpfer, unter ihnen auch die, die auf Bassajews Seite standen, haben sich von diesen politischen Kräften entfernt. Man rechnet, dass vielleicht 20-30% der Bevölkerung Bassajew unterstützte, der Rest aber war gegen ihn. Das hat allerdings kaum eine Auswirkung, denn wenn ein "heiliger Krieg", ein Dschihad, ausgerufen wird, besteht eine Art Solidaritätsgebot. Die russische Regierung hat durch ihren Frontalangriff diese Solidarisierung erreicht: Sie setzten Maschchadow unter Druck, verlangten von ihm den Kopf Bassajews, um ihn und das Land zu verschonen. Dabei übersahen sie aber auch die im Kaukasus bestehenden politischen Gegebenheiten. Trotz der inneren Widersprüche würde niemand Bassajew an den Feind ausliefern.
In diesem Zusammenhang ist heftige Kritik an den tschetschenischen Regierungen seit dem ersten Krieg zu hören, bspw. dass sie das Land hätten verkommen lassen, sich selbst nur bedient hätten. Doch das mindert die Unterstützung des Unabhängigkeitskampfs nicht.


Kann es auch tschetschenisches Interesse gegeben haben, das harte Eingreifen der russischen Armee zu provozieren?

Das, was herauskam, wollte sicher niemand auf der tschetschenischen Seite. Auch Leute aus dem Umfeld Bassajews, etwa der Dolmetscher Khatabs, kritisierten die Entwicklung. Wenn die Anschläge allerdings von der russischen Seite verübt worden sind, dann haben sie sich damit die Tür zum Völkermord in Tschetschenien geöffnet. Zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert werden Menschen wegen ihrer Volkszugehörigkeit verfolgt. Ein Volk soll ausradiert werden. Das erste Mal waren es die Juden, das zweite Mal die Tschetschenen.


Wie hast du die Stimmung in Moskau erlebt?

In Moskau wird bei Straßensperren jeder, der auf Grund seines Aussehens ein Tschetschene sein könnte, festgehalten. Menschen werden denunziert und verhaftet, weil sie dunkelhäutig sind. Ich habe selbst am Flughafen gesehen, dass Kaukasier einfach so festgenommen werden. Der Rassismus gegen die Kaukasier ist natürlich irrational, weil ja auch die Russen und Russinnen nicht alle "Weiße" sind. Dem Rassismus liegt ein lange zurück reichendes Vorurteil zu Grunde. Der Kaukasus wurde erst im 19.Jahrhundert von Russland erobert, Stalin ließ die Tschetschenen und andere kaukasische Völker aussiedeln und gegeneinander ausspielen. Das geht bis zum Tschetschenienkieg 1994-96, als auch die Tschetschenen zum Feindbild wurden. Der Rassismus ist daher nicht neu.
Ein Unterschied im Aussehen zwischen den Angehörigen verschiedener kaukasischer Völker ist kaum noch erkennbar. Allein in Dagestan leben 30 verschiedene Völker.
In Moskau werde einfach gegen alle Angehörigen der kaukasischen Völker vorgegangen, kritisieren auch verschiedene Menschenrechtsorganisationen. Viele wurden eingesperrt und sind verschwunden. Sie trauen sich aber auch nicht zu protestieren, weil ihnen dann sofort unterstellt wird, dass sie den "tschetschenischen Terrorismus" unterstützen. Die offizielle russische Propaganda setzt Tschetschene mit Terrorist gleich. Selbst die Beschießung von Flüchtlingskonvois wird damit gerechtfertigt, dass es sich eben um "Terroristen" gehandelt habe.

Wenn die Vorurteile bereits so weit in die Geschichte zurückreichen, wurden dann nicht auch die Russen im Kaukasus als Kolonisatoren erlebt?

Nach dem letzten Krieg erwartete man, dass Tschetschenien - wie z.B. Kasachstan auch - in die Unabhängigkeit entlassen würde. Ab 1991 gab es bereits eine Unabhängigkeitsbewegung. Die Abgrenzung ging also zuerst von der tschetschenischen Seite aus. Wir haben die Menschen auch auf das Zusammenleben mit der russischen Bevölkerung angesprochen. Die tschetschenischen Männer und Frauen sagten alle, dass es keine Probleme mit Russen und Russinnen im Kaukasus gegeben habe. Sie betonten stets, dass Jelzin, Putin und die Militärs die Feinde wären, nicht aber die russische Zivilbevölkerung. Auch für den Fall, dass sie das nur aus taktischen Gründen gegenüber ausländischen Journalisten gesagt hätten, macht es doch einen Unterschied zu den russischen Männern und Frauen, die auch hier meinten, die Kaukasier seien alle Gauner und Banditen.

Anders als im ersten Tschetschenienkrieg hören wir von keiner Opposition in Moskau. Kannst du das bestätigen?

Das habe ich auch so erlebt. 70% der russischen Bevölkerung steht auf Putins Seite. Deshalb führt er diesen Krieg auch so weiter. Sein Kalkül ist aufgegangen: Als er Ministerpräsident wurde, war er ein Unbekannter, der auch nicht sonderlich sympathisch wirkte. Alle Meinungsumfragen bevorzugten damals Lushkow, der sich als direkter Gegenspieler von Präsident Jelzin stark machte und die Korruption im Umfeld des Präsidenten attackierte. In diesem Moment bestellte Jelzin den damaligen Geheimdienstchef Wladimir Putin zu sich, und die Situation in Tschetschenien verschärfte sich täglich. Für Putin ging die Rechnung auf.

Welche Rolle spielt der Islam im Kaukasus?

Besonders in der Nachbarrepublik Dagestan spielen heute fundamentalistische Strömungen eine wichtige Rolle. Die Wahabiten berufen sich auf einen Religionsstifter im 18.Jahrhundert, der eine Reformation des Islam forderte: Nicht mehr Heilige, Rituale und das ganze Brimborium, sondern allein das Wort des Koran sollte zählen. Allerdings sind die sog. Fundamentalisten nicht abgehoben, sondern gegenüber sozialen Fragen wesentlich engagierter als die korrupte Regierung Magomedow. Auf der anderen Seite haben sie kompromisslos harte Regeln: Eine Frau, die die Ehe bricht, wird gesteinigt, Dieben wird die Hand abgeschlagen.

Welche politischen Ziele haben die Islamisten?

Die religiösen Strukturen vermischen sich mit den politischen. Es gibt allerdings auch hier nicht einen Islam, sondern viele Strömungen. Die Wahabiten haben das Ziel eines tschetschenischen Gottesstaats. Aber die Frage ist immer, von welcher Strömung redet man gerade. Da machen die USA und ihre Experten, wie z.B. Samuel Huntington, mit seinem Krieg der Kulturen einen gewaltigen Fehler, wenn sie eine Konfrontation des Abendlands mit dem Islam an die Wand malen. Das wäre so, als würde man Reagan und Ortega gleichsetzen, nur weil sie beide aus dem Westen stammen.

Welche Rolle spielen denn die Wahabiten wirklich?

Der dagestanische Oppositionspolitiker Hadshilajew, der 1998 für zwei Stunden den Präsidentenpalast besetzte, ohne dass ihm etwas passiert ist, ging zu den Wahabiten. Aber auch Bassajew ist Wahabit. Russland beschuldigt die Wahabiten, Waffen aus Libyen, von Osama Bin Ladn und anderen Quellen zu beziehen, konnte allerdings keine Beweise dafür vorlegen. Vermeintliche schriftliche Beweise, die man mir zeigte, erwiesen sich als simple Bestätigungen, dass Gemeinden in arabischen Staaten einige hundert Dollar gespendet hatten, um den Glauben weiterzutragen.

Woher erhalten die tschetschenischen Kämpfer dann Unterstützung und Waffen?

Die tschetschenischen Unabhängigkeitskämpfer sind tatsächlich sehr gut bewaffnet. Drehscheibe sind nicht die Wahabiten, sondern ist Saudi-Arabien, das bekanntlich mit den USA eng verbündet ist. Vor dem Hintergrund, dass zu Beginn dieses Krieges durch Tschetschenien eine Pipeline geplant war, ergibt sich die wichtige Frage: Wie weit hat Saudi-Arabien bei der Missionierungswelle im Kaukasus und der Bewaffnung der Kämpfer die Zustimmung der USA? Oder aber handelt es sich um Oppositionelle in Saudi-Arabien, die diese Politik vorantrieben?
In der Zwischenzeit wurde in Istanbul beschlossen, dass die Erdölpipeline an Tschetschenien vorbeiführen soll, damit die Konzerne eine bessere Kontrolle darüber haben. Jetzt brauchen sie die Tschetschenen nicht mehr, aber das ist ja erst die jüngste Entwicklung.

Könnte ein unabhängiges Tschetschenien ökonomisch überhaupt existieren?

Tatsächlich ist es so, dass Russland zu einem Großteil für die Infrastruktur aufkommt. Damit kann es Druck auf die Bevölkerung ausüben, etwa durch die Lahmlegung der Energieversorgung. Die Dörfer, die es aus seiner Sicht "befreit" hat, werden bevorzugt, indem die Wasser- und Gasversorgung wieder instandgesetzt und Gehälter bezahlt werden.
Insgesamt leben in Tschetschenien vor allem Bergvölker, einige Clans haben sich auch in der Ebene niedergelassen. Die Ärmeren leben von der Schafzucht. Dort, wo das Land fruchtbarer ist, wird Landwirtschaft betrieben. Die tschetschenischen Völker wurden oft als "Juden des Kaukasus" bezeichnet, weil sie vor allem im Handel beschäftigt sind. Bis vor kurzem rechnete die tschetschenische Bevölkerung noch mit den Einnahmen aus der Erdölpipeline. Alle tschetschenischen Gesprächspartner haben mir versichert, dass das Land allein lebensfähig wäre. Aber das war noch vor dem Beschluss, die Pipeline nicht durch Tschetschenien zu führen.

Es leben heute hunderttausende tschetschenische Flüchtlinge in Flüchtlingslagern, wieviele Menschen sind in Tschetschenien noch zurückgeblieben?

Das Land wurde schon durch den ersten Krieg schwer angeschlagen. Vor zehn Jahren lebten 1,2 Millionen Menschen in Tschetschenien, nach dem Krieg von 1994-96 war die Bevölkerung auf 900.000 reduziert und während der Unabhängigkeit sind viele nach Russland gegangen. In den letzten Wochen flüchteten über 200.000 Menschen in die Nachbarrepublik Inguschetien. Man schätzt, dass es heute nur mehr etwa 300.000-350.000 Menschen in Tschetschenien gibt. Die Entvölkerungsstrategie hat gegriffen.
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