Sozialistische Zeitung

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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.1 vom 08.01.2000, Seite 15

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Eine wirkliche Debatte um den Zeitpunkt des Jahrhundertwechsels hat es diesmal nicht gegeben. Die Welt der Technik hat mit ihrer Präponderanz dafür gesorgt, dass es beim Übergang ins dritte Jahrtausend nur ein wichtiges Thema gab: die möglichen Computerpannen. Was hätte nicht alles passieren können: Wasser und Strom konnten ausfallen, die Kreditkartenautomaten streiken, Flugzeuge vom Himmel stürzen, die Schienennahverkehrsysteme zusammenbrechen, Züge wegen nicht mehr kontrollierter Weichenstellungen quer durch die Lande und aufeinander zurasen, Raketen sich in den Bunkern selbständig aus den Halterungen lösen und auf der Suche nach den ihnen eingegebenen Zielen um die Welt fliegen, Atomkraftwerke außer Kontrolle geraten - Horrorvisionen einer automatisierten Welt, in der der Mensch die Technik erst zum Fetisch erhebt, um ihr dann die Kontrolle über den Ablauf der Ereignisse zu übertragen. (So gesehen wird sie allmählich Religionsersatz.)
Der Computer hat entschieden, dass der Zahlensprung von 99 auf 00 der entscheidende ist, nicht der von 00 auf 01. Seit der Jahrhundertwende 1699-1701 tobt der Streit, wann der Wechsel zu feiern sei, Sylvester 99 oder Sylvester 00. Dabei habe sich, so wollen Millenniums-Autoren herausgefunden haben, die gelehrte Welt in ihrer Mehrzahl für den Jahreswechsel von 00 auf 01 ausgesprochen. Schließlich feiert man den 20.Geburtstag, nachdem 20 Jahre vergangen sind, nicht wenn das 20.Lebensjahr beginnt. Ein acht Monate altes Baby zählt 0 Jahre.
Der 2000.Geburtstag unserer Zeitrechnung wäre demnach Sylvester 2000 zu feiern, nicht Sylvester 1999. So erklärte das Royal Greenwich Observatory, das jahrhundertelang den Weltzeitstandard festgelegt hat, folgerichtig zum Jahreswechsel: "Das neue Jahrtausend beginnt am 1.Januar 2001."
Bis zum Jahrhundertwechsel 1899-1901 konnten sich die Gelehrten durchsetzen und den Primat der Zahlentheorie über das wirkliche Leben feiern. Kaiser Wilhelm soll damals offiziell erklärt haben, das 20.Jahrhundert habe am 1.Januar 1900 begonnen. Nur wenige Wissenschaftler pflichteten ihm bei, unter ihnen Sigmund Freud. In ihrer Mehrzahl müssen sie sich über ihn und seine Einfältigkeit lustig gemacht haben. Doch er hatte die Volksseele auf seiner Seite. Die wollte immer schon die Schnapszahl feiern und schert sich wenig um Zahlenspielereien. Jetzt hat ihr der Computer Recht gegeben - und den Gelehrten Unrecht.
Noch einer hat sich an die Zahlenspiele nicht gehalten, der Begründer unserer Zeitrechnung. Zu seiner Zeit feierte man sowieso keine Zahl, man erwartete den Weltuntergang, Jesus verkündete ihn als ein Ereignis, das er und seine Mitmenschen noch erleben würden. Andere Richtungen des jüdischen Glaubens, wie die Essener, verwandten viel Sorgfalt auf seine Berechnung. Sie stützten sich dabei auf die Weissagung des Propheten Daniel aus der Zeit der babylonischen Gefangenschaft und kamen zum Schluss, es müsse im Jahr 70 v.u.Z. stattfinden. Als nichts passierte, ließen sie sich nicht beirren, sondern rechneten neu - und kamen auf das Jahr 70 u.Z. Und in einem gewissen Sinn kann die Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer und die darauffolgende Zerstreuuung des jüdischen Volkes tatsächlich als ein Untergang gedeutet werden.
Das Jahr 0 hat es nicht gegeben. Dieses Jahr trug die Nummerierung 754 ab urbe condita, seit der Gründung Roms, was der Beginn der damaligen Zeitrechnung war.
Auf die Idee, die Zeitrechnung umzustellen und mit Christi Geburt zu beginnen, kam man erst nach dem Ende des (West-)Römischen Reiches, im 6.Jahrhundert. Damals beauftragte Papst Johannes I. den Mönch Dionys den Kurzen (Exiguus), eine Chronologie der christlichen Zeit zu verfassen. Dionys berechnete die Geburt Jesu auf den 25.Dezember des Jahres 753 a.u.c. Mit der neuen Zeitrechnung begann er acht Tage später, am 1.Januar 754 - das Datum von Christi Beschneidung -, der im römischen wie im christlichen Kalender der Neujahrstag ist. Das Jahr 754 bezeichnete er aber als 1 Anno Domini - und nicht als Jahr 0. So kommt es, dass Jesus Ende des Jahres 1 seinen 1.Geburtstag feierte, und nicht seinen 2., wie wir es heute rechnen.
Dionys der Kurze kannte die Null nicht - sie wurde in Europa erst auf Anregung des Jahrtausendpapstes Sylvester II. zusammen mit dem arabischen Zahlensystem in Europa eingeführt. Das ist der ganze Kern des Gelehrtenstreits um den "wahren" Jahrhundertwechsel. Jesus ist einfach zu alt für unsere heutige, auf dem Dezimalsystem beruhende Zeitrechnung. Und die stellt ja bloß eine Konvention dar, ein System von Vereinbarungen über die mathematische Sprache und kalendarische Normen, die sich dem Naturgeschehen nur annähern, es nicht widergeben.
Angela Klein
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