Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.1 vom 08.01.2000, Seite 16

Eine Alternative ist möglich

Ausblick auf ein neues Millennium

Wer sich angesichts der bekannten Verwerfungen des Kapitalismus nicht mit kosmetischen Korrekturen zufrieden gibt, sondern eine grundsätzliche gesellschaftliche Alternative einfordert, den/die pflegt man seit den Tagen von Maggie Thatcher und Ronald Reagan in den angelsächsischen Ländern mit gerade mal vier Buchstaben abzuservieren: TINA. Tina war der Spitzname von Frau Thatcher, aber auch ihr Programm. Auch heute noch, wo zumindest kaum noch jemand Maggie Thatchers Spitznamen kennt, ist TINA Programm. Es ist eine der im englischsprachigen Raum so populären Abkürzungen und steht für: ‘There Is No Alternative‘ (Es gibt keine Alternative). Diese Botschaft wird den Menschen mit gewaltigem Propagandaaufwand ins Hirn gehämmert, so dass sie mittlerweile unausgesprochen jede politische Debatte mit bestimmt. In der Einleitung zu seinem Buch "Whose Millenium? Theirs or Ours?" bezeichnet es der amerikanische Journalist Daniel Singer als sein vordringliches Ziel, die Macht von TINA zu brechen. Die folgenden Passagen sind dem 11.Kapitel "Reinventing Democracy" (Die Demokratie neu erfinden) entnommen.

Zwar wird immer wieder hartnäckig behauptet, jegliche Alternative sei undenkbar. Dennoch fällt es nicht schwer, sich eine radikal andere sozialistische Gesellschaft als Resultat einer langen, komplizierten Periode des Übergangs vorzustellen. Es ist der Weg dahin, der die wirklichen Probleme aufwirft. [...] In einer klassenlosen Gesellschaft, in der die Arbeitsteilung nur noch eine funktionale Bedeutung hat, ist der Staat, weil überflüssig, abgestorben. Die Menschen haben viel Zeit zu ihrer freien Verfügung, Produktions- und Kommunikationsinstrumente haben ihren Charakter grundlegend verändert. Sie haben sich frei gemacht vom Terror des Wettbewerbs und dienen nun der Kooperation. Die Organisation von Produktion und Konsum ist nur noch von den Bedürfnissen der Menschen und dem Respekt vor der Natur geleitet. Unter diesen Bedingungen hört selbst die Komplexität der Tätigkeiten - einst als Schreckgespenst aufgebaut - auf, ein ernsthaftes Hindernis für demokratische Kontrolle von unten zu sein. Auf internationaler Ebene? Genau, denn nur im weltweiten Maßstab ist eine entwickelte sozialistische Gesellschaft überhaupt vorstellbar. Übrigens wird diese Welt keineswegs so langweilig sein, wie mancher sich das vorstellen mag. Zwar sind die Menschen unsere heutigen Widersprüche los; dafür werden sie ihre eigenen spezifischen Widersprüche und leidenschaftlichen Debatten haben. [...]
Das reale Problem ist nicht, wie diese Gesellschaft aussehen wird, sondern wie wir dahin kommen - und zwar selbstverständlich auf demokratischem Wege. Jeder Schritt auf diesem Weg hängt davon ab, dass die Bewegung von unten mit jedem Schritt vorwärts auch ihr Bewusstsein erweitert. Lasst uns annehmen, dass die arbeitenden Menschen in Frankreich oder Italien die gesellschaftliche Kontrolle übernehmen und dass diese Bewegung dann auf die Masse der Länder Westeuropas ansteckende Wirkung hat, sich somit eine solide Basis für das Experiment schafft. [...] In gewissem Sinne würde das Experiment unter unvergleichlich günstigeren Vorzeichen [als 1917 in Russland] beginnen, nämlich in einem Land, das weder durch einen weltweiten Konflikt verwüstet, noch, so unsere optimistische Annahme, durch einen Bürgerkrieg ausgeblutet ist. Im Unterschied zur damaligen Dominanz einer wenig gebildeten russischen Bauernschaft im Jahr 1917 gibt es in Westeuropa eine recht entwickelte und gebildete arbeitende Bevölkerung. Würden sich Teile der Manager und des Technikerpersonals für Boykott oder Emigration entscheiden, gäbe es genügend Leute, die an ihre Stelle treten könnten.
Dieser Vorteil sollte allerdings nicht überbewertet werden. Um was es wirklich geht, ist der Übergang eines zwar in sich selbst hoch differenzierten, dennoch festgefügten Systems - des Kapitalismus - in ein anderes mit einer völlig anderen Logik und Struktur. Ein solcher Übergang würde von seinem Charakter her mit der Zerschlagung, Umwälzung und Abschaffung von Institutionen, Bindungen und Gewohnheiten einhergehen, die nachhaltiger mit dem entwickelten Kapitalismus Westeuropas verwachsen sind, als das damals im rückständigen Russland der Fall war.
Von Anfang an muss etwas getan werden und zwar von Grund auf da, wo Formen direkter Demokratie eingeübt werden können. Das gilt insbesondere für die Arbeitswelt. Selbst wenn in den zu vergesellschaftenden Fabriken und Büros das Prinzip der Ein-Mann-Leitung noch eine Weile anhalten wird, werden die Manager nicht nur von der Belegschaft gewählt oder bestätigt; die Belegschaften werden auch ein gewichtiges Wort in den Debatten und Diskussionen über Fragen wie die Organisation der Produktion, das Arbeitstempo, die Verteilung der Arbeit und die Formen der Bezahlung mitzureden haben. Die arbeitenden Menschen sollten die Kontrolle über die Produktionsprojekte wie auch über die Buchhaltung ausüben. Nur so werden sie von Beginn an spüren, dass etwas getan wird, um den in den Unternehmen herrschenden Despotismus zu brechen. Sie werden spüren, dass eine neue Ära angebrochen ist, die letztendlich zu einer Gesellschaft führen wird, in der Expansion zum Zwecke der Auspressung von Mehrarbeit nicht länger die Regel sein wird und in der der Mensch deshalb nicht der Maschine unterworfen ist. [...]

Neuen Wein in alte Schläuche

Natürlich gibt es keine unumstößlichen Vorschriften darüber, welche Form eine Institution annehmen sollte, welche Garantien sie bereithalten und welche Wahlmodalitäten zur Anwendung kommen sollen. Dies wird selbstverständlich von Kontinent zu Kontinent, von Land zu Land, abhängig von historischen Traditionen, einschließlich der Traditionen der Arbeiterbewegung sehr unterschiedlich aussehen. Natürlich hat das viel mit der Art und Weise zu tun, wie die Macht übernommen wurde. Niemand glaubt heute an eine Revolution des kurzen Bruches, eine Erstürmung des Winterpalais, nach der sich alles in die richtige Richtung entwickelt. Abhängig vom Ausmaß der Reaktion und des Widerstands kann sich der Übergang der Macht in mehr oder weniger milder Form vollziehen. Im Falle relativer Kontinuität wird das Problem sein: Wie bringen wir neuen Wein in alte Schläuche? Dort, wo ein wirklicher Bruch stattfindet, sind Neuerungen einfacher zu machen. In jedem Fall aber werden die Neulinge die bestehenden Institutionen so umgestalten müssen, dass sie sich für ihre Aufgabe eignen: die Umgestaltung der Gesellschaft.
Nehmen wir z.B. an, dass eines der zwei Organe der künftigen Volksmacht ... oder eine der beiden Kammern der Volksvertretung auf landesweiter Ebene die Delegierten von Arbeiterräten umfaßt, die im ganzen Land an den Arbeitsplätzen gewählt worden sind. Dies hätte einige Vorteile. Der Staat ist nämlich nicht in der Lage, direkt und unmittelbar die Produktion zu leiten. Dazu sind nur die arbeitenden Menschen selbst, die "assoziierten Produzenten" imstande. Für eine bestimmte Zeit wären sie aber darauf angewiesen, dass eine zentrale Planungsinstanz ihnen bei der Koordinierung ihrer Kooperationstätigkeit, bei der Verteilung der Mittel und bei der Planung der zukünftigen Aufgaben behilflich ist. Wenn sich die Produktion immer stärker von der Befriedigung sozialer Bedürfnisse leiten lässt, wird sich auch die Rolle der zentralen Planungsinstanz Schritt für Schritt wandeln. [...]
Die Arbeiterräte werden sich wohler fühlen, wenn dieses Planungsgremium ein integraler Bestandteil von ihnen oder gar ein Instrument wird, das den Entscheidungen jener Versammlungen, die ihre Interessen verkörpern, unterworfen ist. Selbstverständlich würde es daneben noch eine andere Kammer geben - eine, die auf territorialer Basis gewählt und für solche Bereiche wie Bildung, Gesundheit, Wohnen und Kultur oder auch Justiz, öffentliche Ordnung, Verteidigung und Außenpolitik zuständig ist. [...]
Eine Regierung, die solch einen Übergang leitet, sollte all diese Mittel und natürlich noch weitere nutzen, um die Volksvertreter möglichst eng an die Basis zu binden. In ihr Rüstzeug könnte sie eine neue Methode, die "Subsidiarität", einbauen. [...] Das Wörterbuch definiert sie als "das Prinzip, wonach eine zentrale Instanz eine ergänzende Funktion haben und nur jene Aufgaben übernehmen sollte, die nicht von einer mittleren oder lokalen Ebene effektiver wahrgenommen werden könnten." Im EU-Jargon ist das nur ein Kniff, mit sich dem EU- Skeptiker der Übertragung von Kompetenzen nach Brüssel widersetzen. In einer Übergangsgesellschaft, die versucht, ihre Institutionen und Lebensgewohnheiten durch eine Bewegung von unten umzubilden, und die sich davor fürchtet, von einem übermächtigen Staat überwältigt zu werden, könnte sie ein äußerst sinnvolles Prinzip sein. Bei einer kooperativen Produktionsweise, die auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ausgerichtet ist, könnte wirklich eine ganze Menge auf lokaler oder regionaler Ebene getan werden. Damit ließen sich Bürokratie reduzieren und Transportkosten vermeiden. Das gilt noch stärker für den Bereich der Wohlfahrt und der sozialen Dienste.
Einiges kann so getan werden, aber nicht alles. Das bringt uns zurück zur Notwendigkeit einer wie auch immer gearteten Form von Staatsgewalt während der Periode des Übergangs. Die naheliegendsten Gründe wurden bereits erwähnt. Planung für die Wirtschaft als ganzes muss selbstredend auf landesweiter Ebene erfolgen. [...] Aber der Übergang zu einer radikal anderen Gesellschaft ist ein viel tiefgreifenderer Umbruch. Er beinhaltet die völlige Umgestaltung zahlloser Berufe, der Organisation der Produktion und der Arbeitswerkzeuge und schließlich im Endeffekt eine Veränderung der Denkweisen.
Fangen wir mit dem einfachsten Beispiel an, der Waffenproduktion. Auch eine Regierung des Übergangs wird sie für eine Weile wegen der Gefahr der Einkreisung und Intervention von außen beibehalten müssen. Aber sie sollte sofort aus dem internationalen Waffenhandel aussteigen. Sie sollte keine Ausflüchte machen und sich hinter Argumenten wie dem drohenden Verlust von Arbeitsplätzen verstecken. Viel komplexer und umfassender ist das Problem der Werbung. Die neue Gesellschaft braucht Menschen, die die Öffentlichkeit über Qualitäten und Defekte, über Vorteile und Nachteile verschiedener Produkte informieren. Sie wird aber keinen Bedarf an den Diensten jener Armee von Überredungskünstlern haben, die uns heutzutage tagtäglich davon zu überzeugen versuchen, dass wir gerade die eine und nicht die andere ... Zahnpasta lieben. [...] Das ganze Muster von Produktion und Konsumtion wäre auf den Kopf gestellt und schließlich bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet. Ganz nebenbei, die gegenwärtige Struktur von Schlüsselbranchen wie Medien, Sport und Unterhaltung würde schlicht und einfach zusammenbrechen. [...]

Kooperation statt Wettbewerb
Auch in der neuen Gesellschaft wäre es natürlich gut, viele Wissenschaftlerteams zu haben, die auf dem gleichen Arbeitsgebiet tätig sind. Der große Unterschied wäre allerdings - weil Profit nicht länger die Triebkraft wäre -, dass sich der Wettbewerb in Kooperation verwandelt. Ist erst mal eine Entdeckung gemacht, wird das Ergebnis allgemein zugänglich. [...] Die ganze Forschung würde ihren Charakter ändern: die Grundlagenforschung erst allmählich infolge von veränderten Zielsetzungen und anderen Finanzierungsformen, die angewandte Forschung aber unmittelbar infolge völlig neuer Aufgabenstellungen. Gegenwärtig ist das Ziel die Produktion von Waren mit einem Markennamen, einem kurzen Lebenszyklus und rasend schnellem Innovationstempo. Verschwendung ist Teil des Systems. In der neuen Gesellschaft wird das Ziel die Erzeugung nützlicher Produkte mit langer Lebensdauer sein, die menschlichen Bedürfnissen dienen und nicht dem Profit. Das Augenmerk wird sich auf die Qualität und den behutsamen und sparsamen Einsatz von Mensch und Natur richten.

Lustvolle kreative Zerstörung
Überhaupt können die Spezialisten - nicht die Hexenmeister unter ihnen - in den Bereichen Elektronik und Informationstechnologie durch die Entwicklung entsprechender Roboter plus der zugehörigen Software dazu beitragen, eine Menge monotoner Arbeit überflüssig zu machen, und letztlich dabei mitwirken, dass die Maschinen den Menschen unterworfen werden. Dazu müssen sie allerdings Partei ergreifen und zu dem Entschluss kommen, dass ihre Aufgabe nicht darin besteht, die Reichen reicher zu machen, sondern darin, die normalen Menschen, einschließlich ihrer selbst, in die Lage zu versetzen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.
Obwohl auf diese Weise in den frühen Jahren des Übergangs Millionen von Jobs verloren gingen, wäre das, ganz anders als es momentan im Gefolge von "Downsizing-Prozessen" der Fall ist, für die betroffenen Menschen kein Grund für düstere Stimmungslagen. Das, was dann geschähe, käme wohl dem nahe, was man als lustvolle "kreative Zerstörung" bezeichnen könnte. Denn das schrittweise Verschwinden von Jobs, die von der alten gesellschaftlichen Strukturen geprägt sind, würde Raum schaffen für die Schaffung neuer Tätigkeiten, die eingebunden sind in ein System tendenziell lebenslanger Fort- und Weiterbildung, verbesserter sozialer Dienstleistungen und einer Stadtplanung, die deutlich weiter gesteckte Ziele hat als die Beseitigung von Slums. [...]
Eine Regierung des Übergangs zu einer anderen Gesellschaft, der notgedrungen noch die Züge der alten Gesellschaft anhaften, hätte aber noch gegen schlimmere Widrigkeiten anzukämpfen. Per Definition könnte sie nicht einfach die bestehenden Institutionen übernehmen und die Dinge so weiterführen, wie sie sind. Es ist ihre Aufgabe, sie von Grund auf zu verändern. Dabei wird sich die Regierung des Übergangs nicht nur mit dem Widerstand der Kapitalisten konfrontiert sehen. Sie hätte es mit der Logik des bestehenden Systems zu tun, der Macht der Gewohnheit und der Kraft der Trägheit. Es wurde schon richtig festgestellt, dass es einfacher ist "die Ausbeuter zu enteignen" und die Fabriken zu übernehmen, als die alten Arbeitsmethoden abzuschaffen und die tief verwurzelten hierarchischen Befehlsstrukturen zu überwinden. Kurz gesagt, die Aufgabe von Bewegung und Regierung ist es, die Staatsgewalt zu übernehmen, die Institutionen so zu verändern, dass man die Arbeit fortführen kann, und dann sofort mit dem Niederreißen der Grundlagen zu beginnen, auf denen ihre Macht als Staat fußt. Diese Aufgabe der "permanenten Revolution" - falls man so einen drastischen Begriff überhaupt für einen langwierigen Prozess gebrauchen mag, der Rückschläge und Fortschritte, unterbrochen von Perioden der Konsolidierung, beinhaltet - kann nur mit der nachhaltigen Unterstützung einer Volksbewegung bewältigt werden.

Aus: Daniel Singer, Whose Millennium? Theirs or Ours?, New York (Monthly Review Press) 1999. Daniel Singer ist Europa- Korrespondent der linken US-amerikanischen Zeitschrift "The Nation".

zum Anfang