Sozialistische Zeitung |
Die Länder der Dritten Welt protestierten bei der Welthandelskonferenz in Seattle erstmals sehr deutlich
gegen Regeln, die einseitig die Industrieländer bevorzugen; die Konferenz scheiterte. Doch die Ignoranz gehört zum Journalisten
wie der Plattfuß zum Oberkellner. Deshalb trat ein wichtiger Erfolg der Demonstrationen in den Zeitungen völlig in den
Hintergrund. US-Präsident Clinton und die Staatschefs der Industrieländer müssen sich ab jetzt eines ungeliebten Themas
annehmen: Viele kranke Menschen haben bisher keinen Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten, weil sie zu teuer sind. Das liegt allerdings
nicht an den Produktionskosten, sondern an Patenten, die Monopole sichern.
"Fluconazol" heißt ein Medikament der Viagra-Firma
Pfizer, mit dem Hirnhautentzündungen behandelt werden könnten, die durch AIDS verursacht wurden. In Kenya kostet die
Behandlung mit Fluconazol rund 11 Dollar pro Tag, es gibt nur den einen Anbieter, der das Mittel zu patentgeschützten Monopolpreisen
verkauft. In Thailand steht dasselbe Pfizer-Medikament nicht mehr unter Patentschutz, die Behandlung mit Generika (Imitationen) kostet dort nur
noch knapp 90 Cents pro Tag.
Das durchschnittliche Monatseinkommen eines Arbeiters in Kenya
beträgt ungefähr 150 Dollar, die Behandlung mit Fluconazol kostet monatlich etwa 300 Dollar. Da in Kenya der weit
überwiegende Teil der Bevölkerung nicht krankenversichert ist, bedeutet das: Zigtausende AIDS-Kranke mit
Hirnhautentzündung müssen in Kenya und anderswo sterben - in Thailand jedoch können sie behandelt werden und
überleben.
Ähnlich schlecht wie in Kenya sieht es in mehreren anderen
Ländern Afrikas für AIDS-Kranke aus. Verteilte man etwa in Mosambik das gesamte Sozialprodukt des Landes nur auf die AIDS-
Kranken, so erhielte dennoch jeder nur 2290 Dollar - viel zu wenig für eine ausreichende Behandlung bei den derzeit geltenden Preisen.
Das Medikament Fluconazol ist dabei nur ein Beispiel für viele lebenswichtige Medikamente, die in Ländern der Dritten Welt zu
tödlichen Preisen verkauft werden, obwohl ihre Produktion sehr, sehr wenig kostet. Der Grund: Die Arzneimittel sind patentiert. Und der
Patentschutz für neu erfundene Arzneimittel erfüllt im marktwirtschaftlichen System bekanntlich durchaus eine wichtige Funktion.
Die Pharmakonzerne können in der Zeit des Patentschutzes (freilich beträgt der in der Regel 20 Jahre) ihre Kosten für
Forschung und Entwicklung wieder hereinholen. Sie verlangen Monopolpreise, die weit über den gegenwärtigen Produktionskosten
liegen - in der Regel um das Zehnfache. Die Gewinne, die noch über die Kosten für Forschung und Entwicklung hinausgehen,
sorgen zudem für einen Anreiz zur zukünftigen Entwicklung neuer Medikamente. Ein durchaus nützlicher Mechanismus, klug
wie Einstein - und manchmal so tödlich wie Pest und Cholera.
Denn was taugt ein Patentrecht, das zwar die Entwicklung neuer
Medikamente und Wirkstoffe fördern kann, das aber dazu führt, diese - zumindest für lange Zeit - so teuer zu machen, dass
die meisten Menschen auf der Welt keinen Zugang zu ihnen haben? Diese Frage stellen inzwischen nicht mehr nur Mitglieder kleiner
Nichtregierungsorganisationen wie etwa Health Action International (HAI), sondern auch die Repräsentanten der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Vereinten Nationen. Selbst US-Präsident Clinton gab kürzlich beim WTO-Treffen in
Seattle seinem Sinneswandel Ausdruck: "Der Schutz des geistigen Eigentums ist sehr wichtig für moderne Wirtschaftsbeziehungen.
Wenn allerdings HIV- und AIDS-Epidemien sowie andere schwerwiegende Gesundheitskrisen um sich greifen, werden die USA ihre
Gesundheits- und Handelspolitik von nun an so gestalten, dass die Menschen in den ärmsten Ländern nicht ohne die Arzneimittel
bleiben, die sie so dringend benötigen. Ich hoffe, dies wird Südafrika und vielen anderen Staaten helfen, denen wir diese
Unterstützung versichert haben." Es klang, als schlachte er eine heilige Kuh.
Und tatsächlich: Dass es bisher nur die Länder Südafrika
und Thailand im Zusammenhang mit AIDS gewagt haben, Patentrechte zum Teufel zu schicken, liegt an den strengen internationalen
Verträgen im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO). Vor allem das Trips-Abkommen (Trade Related Aspects of Intellectual
Property Rights) verlangt von allen Unterzeichnerstaaten, dass sie geistiges Eigentum in Form von Patenten und Markenrechten schützen.
Das Abkommen legt dabei einen Mindeststandard fest, der mehr Schutz für geistiges Eigentum bietet, als selbst in den meisten
Industrienationen gewährt wird.
Ein Ausweg aus diesem grundsätzlich gewährten Schutz des
geistigen Eigentums sind Zwangslizenzen, die der Staat für die Produktion unentbehrlicher Medikamente - auch laut Trips-Abkommen -
vergeben kann. Aber Länder wie Südafrika oder Thailand, die auf diese Weise das Trips-Abkommen in ihrem Sinne auslegen,
wurden dafür bisher von der Europäischen Union (EU) und den USA, wo die Pharma-Multis beheimatet sind, mit höheren
Zöllen für ihre Exportgüter bestraft. Dabei war die Vergabe von Zwangslizenzen ihr gutes Recht, das unter anderem in den
Artikeln 30 und 31 des Trips-Abkommens auch ausdrücklich formuliert ist.
Ein weiteres Problem: Die Ausnahmen, die das Trips-Abkommen
zulässt, sind zu wenig bekannt. Es bedarf zudem nationaler Gesetze, um sie auszuschöpfen, und die Verabschiedung solcher Gesetze
nimmt viel Zeit in Anspruch.
Die US-Regierung selbst hat Zwangslizenzen schon in mindestens
fünf Fällen vergeben. In der Entscheidung 2183 des Obersten Gerichtshofs der USA etwa ging es um eine Zwangslizenz für
die Herstellung von Atomenergie. In allen Fällen ging es um den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung. Dabei ist es nach der
Rechtslage in den USA nicht einmal nötig, dass die Regierung eine Lizenz von dem fraglichen Unternehmen erwirbt. Der Standard
für die Kompensation der Zwangslizensierung wird in den Urteilen knapp formuliert: "was der Eigentümer verloren hat -
nicht, was der Lizenznehmer damit verdient".
Bei einer Konferenz über den "Zugang zu unentbehrlichen
Medikamenten in der globalisierten Ökonomie" in Amsterdam Ende November erläuterte die Generaldirektorin der
Weltgesundheitsorganisation (WHO), Gro Harlem Brundtlandt, warum ihre Behörde als "aktive Beobachterin" an der WTO-
Konferenz in Seattle teilnehmen werde: " Weil Arzneimittel und Gesundheitsdienste handelbar sind! Sie werden produziert, vermarktet
und in aller Welt verkauft - sie nü tzen einigen, aber zu viele erreichen sie gar nicht erst. Die Verträge, die den Handel regeln, sind
also der Schl üssel zum Problem." Um den Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten zu befördern, veröffentlicht die
WHO deshalb eine Liste dieser Arzneimittel, die seit 22 Jahren regelmäßig aktualisiert wird. Die Liste umfasst alle Medikamente,
die "die Gesundheitsbedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung befriedigen". Dennoch ist die WHO offensichtlich nicht
in der Position durchzusetzen, dass die Möglichkeiten, die das Trips-Abkommen für die Verbreitung dieser Medikamente bietet,
voll ausgeschöpft werden.
Mehrere Nichtregierungsorganisationen, unter anderem das in den USA
recht bekannte Consumer Project on Technology, verfassten deshalb einen offenen Brief an die WTO-Mitgliedstaaten. Darin fordern sie
für Entwicklungsländer den größtmöglichen Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten. Zu ihren
Vorschlägen gehört unter anderem eine internationale Pharmaforschung, die staatlich finanziert wird und deren Ergebnisse nicht
privat und gewinnorientiert vermarktet werden. Außerdem weisen die NGOs daraufhin, dass die Medikamentenliste der WHO viele
lebenswichtige Arzneien gar nicht aufführe. Der Grund: Auswahlkriterien für die Liste sind von vornherein nicht nur Sicherheit und
Effizienz, sondern auch der Preis der Produkte - viele sind einfach zu teuer für öffentliche Gesundheitspolitik, weil ihre
Monopolpreise patentgeschützt sind.
In ihrem offenen Brief weisen die NGOs auch auf die künftigen
Folgen streng geschützten "geistigen Eigentums" hin: Patentierte HIV-Medikamente, die die Übertragung des Virus von
der Mutter auf das Kind während der Geburt verhindern, werden zur Zeit nur sehr eingeschränkt verwendet. Dadurch werden in
den nächsten zehn Jahren ungefähr 30 Millionen sehr junge Menschen sterben, die mit relativ geringem Aufwand gerettet werden
könnten.
Dabei bleibt in vielen Fällen sogar fragwürdig, wer denn
eigentlich der rechtmäßige Eigentümer dieses so heiligen "geistigen Eigentums" ist, das das Trips-Abkommen
schützen soll. Ein Beispiel: "Paclitaxel " heißt eine Behandlung für Brust- und Eierstockkrebs. Erfunden haben
Paclitaxel Wissenschaftler, die von der US-Regierung bezahlt wurden. Verkauft wird das Mittel unter dem Namen "Taxol" von dem
Pharma-Konzern Bristol-Myers Squibb (BMS), der die Rechte daran für einen geringen Preis erworben hat.
BMS nutzt nun exzessiv seine Rechte auf die regierungsgesponsorten
Forschungsergebnisse und beansprucht die exklusive Vermarktung für sich. Allein mit dem Schnäppchen "Taxol" macht
der Konzern einen Jahresumsatz von mehr als einer Milliarde Dollar - obwohl er keinen Cent in die klinische Forschung gesteckt hat.
Christoph Ruhkamp