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Die Massenproteste und die gescheiterten Verhandlungen der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle haben weltweit viele Linke als
Erfolg gewertet. Ein Hoffnungsschimmer ist am dunklen Horizont der neuen Weltordnung aufgetaucht. Er inspiriert und hat im Dezember und
Januar die Köpfe zahlreicher Kritiker der politischen Ökonomie, Internationalisten und Menschenrechtsaktivisten aus den
Metropolen und der Dritten Welt rauchen lassen.
Alle machen sich Gedanken darüber, wie es nach Seattle weitergehen
kann. Sowohl in der Bewertung der jüngsten Ereignisse als auch im Ausblick auf kommende Szenarien überschneiden sie sich
teilweise, weisen aber auch deutliche Differenzen auf.
"Der Fehlschlag der WTO-Ministerrunde in Seattle war in mehr als
einer Hinsicht ein historischer Einschnitt", meint die indische Menschenrechtsaktivistin Vandana Shiva, ehemalige Quantenphysikerin und
Trägerin des alternativen Nobelpreises. Sie gilt als vehemente Kritikerin der undemokratischen Entscheidungsstrukturen und sieht in der
Kombination von Rebellion auf der Straße und einer solchen innerhalb der WTO den "Beginn einer neuen, demokratischen
Bewegung".
Sie verliert zwar kein Wort über die Dissonanzen zwischen den USA
und der EU. Aber einige Handelsminister aus Asien, Afrika, Lateinamerika und der Karibik haben nach Ansicht von Shiva eine politische
Antwort gegeben und ihre Unterstützung für den hinter verschlossenen Türen ausgehandelten "Konsens"
verweigert. "Solange die Bedinungen der Transparenz, Offenheit und Beteiligung nicht gesichert sind, werden die
Entwicklungsländer nicht Teil des Konsens sein", bewertet sie die WTO-internen Ereignisse von Seattle.
"Während die Polizei Seattle in ein Kriegsgebiet
verwandelte", hätten die Medien Protestierende als Vertreter von "Partikularinteressen" disqualifiziert, die den
gemeinnützigen Zielen der WTO entgegenstehen würden, so Shiva.
Doch ihrer Meinung nach haben die Demonstrierenden in ihrer
Unterschiedlichkeit gezeigt, dass sie in der Lage sind, sich quer über Sektoren und Regionen hinweg zu einigen. "Sie verteidigen
allgemeine Interessen und allgemeine Rechte aller Menschen, überall. Die Politik des ‚teile und herrsche, Konsumenten gegen
Farmer, den Norden gegen den Süden, Arbeiter gegen Umweltschützer auszuspielen, ist fehlgeschlagen", lautet ihr
abschließendes Resümé.
"Die Dinge haben sich definitiv verändert", meint auch
der Franzose Pierre Rousset in der Zeitschrift International Viewpoint. Vor fünf Jahren haben die Gründungsstaaten die WTO mit
äußerster Diskretion konstituiert. Kritik haben damals nur kleine Gruppen, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, zur
Sprache gebracht. "Aber Seattle, die Eröffnung der Jahrtausendrunde zu Handelsfragen im Dezember 1999, war eines der am
meisten von den Medien beachteten Ereignisse auf diesem Planeten."
Natürlich gilt das Augenmerk Roussets ebenfalls den Protesten auf
der Strasse - nicht nur in Seattle, sondern in weltweit mehreren Städten und Regionen. "Wann haben wir das letzte Mal eine solche
internationale Dynamik und eine Konvergenz von mannigfaltigem Widerstand gegen die herrschende Ordnung gesehen?", fragt er.
Tiefe Krise
"Angesichts des wachsenden Massenprotests ist es den
tonangebenden Regierungen in der WTO nicht einmal gelungen, sich auf eine Tagesordnung für die Jahrtausendrunde zu einigen", so
Rousset zum Zusammenspiel von Protest und Widersprüchen im Lager der Triade (USA, EU und Japan). Aus dieser Situation
hätten auch die Länder des Südens ihre Konsequenz gezogen und gewagt, ihre eigenen Interessen deutlich zu machen.
Monatelange Vorbereitungen im Genfer Hauptquartier der WTO konnten
das Scheitern nicht verhindern, "sie brachten noch nicht einmal eine einfache, gemeinsame Erklärung zustande, um wenigstens den
Anschein zu wahren", bewertet Rousset die Qualität des Rückschlags. Rousset kann sich vorstellen, dass "heute und
morgen auch andere Siege möglich sind, wenn die Dynamik der zivilen und sozialen Mobilisierung beibehalten wird." Viel mehr
als die Effizienz der WTO sei dann in Frage gestellt.
Betrachtet man die WTO als Instrument, um die kapitalistische Peripherie
zu kontrollieren, gilt die Einigkeit der G7-Staaten als Voraussetzung. Doch schon die Situation in diesen Ländern ist von
unterschiedlichen Klassenkompromissen geprägt, die einige Regierungen davon abhalten, öffentliche Gesundheits- und
Bildungssysteme vollständig zu zerstören bzw. sie im Sinne der Dienstleistungskonzerne komplett zu privatisieren.
Erst die WTO ermöglicht mit ihrem international gültigen
Regelwerk einen weitergehenden Ausverkauf des öffentlichen Sektors und eine Überwindung dieser nationalen Vorbehalte.
Die kapitalistische Globalisierung hat demnach nicht nur Auswirkungen im
kommerziellen, industriellen und finanziellen Bereich. Sie fordert auch tiefe soziale Umschichtungen, die in den Augen Roussets innerhalb der
regulierenden Klasse schon zu einer "Schwächung und Marginalisierung einiger traditioneller Eliten" geführt haben.
Ganz zu schweigen von den unterdrückten Klassen, die durch "diesen profunden Prozess bedroht werden, der ihr Leben
ungeschützter und ihre Identität fragmentierter werden lässt".
Der Neoliberalismus hat nach dem Fall der Berliner Mauer etwas mehr als
zehn Jahre gebraucht, um seine Dominanz zu entfalten. "Aber in dieser Dekade hat er bereits seine erste große Krise
produziert", meint Rousset. Eine Krise, die "ein Licht auf die ökonomischen, sozialen und politischen Widersprüche der
kapitalistischen Globalisierung wirft und zeigt, wie unsicher die Stabilisierung der neuen Erscheinungsform der bürgerlichen Herrschaft
bleibt".
Diese Herrschaft, die sich in einem einzigen, unverhohlenen Gesetz
für Finanzwelt, Industrie und Handel manifestiert, "kann nur funktionieren, wenn es keinen nenneswerten, kollektiven Widerstand
gibt", schlussfolgert Rousset.
Anders als Vandana Shiva hebt er jedoch hervor, dass "unser Erfolg
[in Seattle] daher rührt, dass es schon signifikante Unstimmigkeiten zwischen den Regierungen des Nordens gab, die durch die
Finanzkrisen vertieft worden sind". Und die nächste Krise steht bevor.
Etwas zurückhaltender als Vandana Shiva und Pierre Rousset in der
Bewertung der Proteste gegen die WTO gibt sich Lee Changgeun, Mitarbeiter des südkoreanischen PICIS-Newsletter: "Wir sollten
der vielen Selbstkomplimente über die Resultate überdrüssig werden und die Ereignisse von Seattle genauer und ruhiger
analysieren, als Basis für die Planung unserer zukünftigen Aktionen."
Er sieht die Gefahr, dass die amerikanische Regierung sich nun noch
stärker für Arbeits- und Sozialstandards in der WTO einsetzt - gegen die Interessen der Länder der Dritten Welt. Damit
würde die WTO die Forderungen eines großen Teils der Demonstranten erfüllen, die der US-amerikanische
Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO gestellt hat.
Doch "diese Forderungen dienen nur dem Anstieg der Macht und
Autorität der WTO", so Changgeun. Stattdessen schlägt er vor, den Einfluss "progressiver Deklarationen und
Verträge, wie die Deklaration der Menschenrechte und die Arbeitsstandards der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, zu
stärken … und dafür zu kämpfen, dass sie auf nationalem Level akzeptiert werden. Wir glauben, dass dies die minimale
Strategie ist, um der Freihandelsordnung der WTO zu widerstehen".
Ungeachtet des Scheiterns der WTO-Verhandlungen in Seattle habe die
südkoreanische Regierung "ihre Politik der Liberalisierung und Marktöffnung fortgesetzt", erklärt Changgeun.
"Wir werden uns dieser Position der Regierung entschlossen entgegenstellen, genauso wie … allen Plänen, die Macht der WTO zu
stärken".
Triumph der Straße
Der Bundeskongress entwicklungspolitischer Aktionsgruppen (BUKO) und
das Freiburger Informationszentrum 3.Welt (iz3w) werten es als "großen Erfolg", dass "weder die Weltpresse noch die
TeilnehmerInnen des WTO-Treffens den Widerstand gegen die Freihandelspolitik übergehen konnten".
Sie sehen darin auch den Triumph eines "konfrontativen
Vorgehens" gegenüber dem "lobbyistischen Schmusekurs der Nichtregierungsorganisationen". In ihren Augen
bestätigen die Erfahrungen von Seattle, dass "gepflegte Dialogrunden zwischen NGOs und den Regierungen ein wenig geeignetes
und keinesfalls ausreichendes Mittel sind, um Sand ins Getriebe des globalen Kapitalismus zu streuen".
"Emanzipatorische Veränderungen lassen sich … nur durch die
Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, durch Druck von unten erreichen", lautet das Resümee von BUKO
und iz3w. Die Gefahr eines langfristigen Scheiterns der WTO-Verhandlungen wegen des innerkapitalistischen Konfliktpotentials sehen sie
nicht, denn ihrer Ansicht nach "wird wohl keine der verhandelnden Regierungen … aus dem WTO-System ausscheren, auch wenn sie ihre
Partikularinteressen nicht voll verwirklichen kann".
Dementsprechend sind für den BUKO und das iz3w Nationalstaaten
ganz pauschal "konstitutiver Bestandteil dieser Weltordnung" und "treiben als Wettbewerbsstaaten die neoliberale Offensive
aktiv voran".
Spätestens hier stellt sich die Frage, mit welchem Ziel "Druck
von unten" ausgeübt werden soll. Denn gerade viele Bewegungen in den Ländern der Dritten Welt setzen den Hebel an der
Politik ihrer Regierungen an, fordern von ihnen protektionistische Maßnahmen und kritisieren den Einstieg in den
"Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt".
Sowohl die Widersprüche zwischen den Triadenmächten als
auch die zu den Regierungen der Dritten Welt sind die zentralen Punkte, wo soziale, ökologische und gewerkschaftliche Bewegungen
heute intervenieren können.
Sie können diese Widersprüche zum Tanzen bringen, indem sie
z.B. ihre Regierungen dazu zwingen, die Mitgliedschaft in der WTO zu quittieren, die Ernährungssicherheit der eigenen
Bevölkerung über eine import- und exportorientierte Wirtschaftspolitik zu stellen, den Schuldendienst an private und institutionelle
Gläubiger einzufrieren und stattdessen für die Befriedigung der Grundbedürfnisse aufzukommen.
Es ist und bleibt ein wichtiger Unterschied, ob protektionistische
Maßnahmen von Regierungen aus Drittweltländern oder denen der Triadenmächte eingefordert werden. Das ist kein
Persilschein, denn auch in einigen Schwellenländern, z.B. in Südafrika, gibt es Regierungen, die ihren Protektionismus auf Kosten
ärmerer Nachbarstaaten betreiben wollen. Als Grundlage für eine Bewertung von "nationalem" Protektionismus
könnte die Position in der weltwirtschaftlichen Rangordnung herangezogen werden.
Vor allem auf dem Hintergrund einer wirtschaftspolitischen
"Rekolonialisierung", für die die WTO wie kaum eine andere Organisation steht, sind Schutzzölle in der Dritten Welt
eine der wenigen Möglichkeiten, eigenständige Wirtschaftsstrukturen zu erhalten.
Dabei geht es nicht darum, Position für die kapitalistischen Eliten in
den Ländern der Dritten Welt zu ergreifen, sondern um einen ersten Schritt, der weitergehende Perspektiven eröffnen kann und
zunächst den Zielen der WTO entgegensteht. Welche anderen Möglichkeiten hat eine Bewegung gegen den Freihandel unter den
gegebenen Voraussetzungen, als die Widersprüche im Lager derer zu nutzen, die sich anschicken, weltweit alle Lebensbereiche der
Profitmaximierung unterzuordnen?
Interessant könnte dabei auch die Rolle einiger NGOs werden, die
die WTO noch nicht vollständig als "legitimen" Verhandlungspartner ansehen. Nicht jeder Dialog mit der WTO und ihren
Regierungen ist von vorneherein als Mittel der Verhandlung anzusehen und auszuschließen.
Die Frage ist letztendlich, wem gegenüber sich diese
"Lobbys" verantwortlich fühlen und wo sie eingebunden sind: in den Bewegungen oder bei ihren Ansprechpartnern in
Regierungen, Unternehmen, IWF, Weltbank und WTO. Hier schließt natürlich eine weitere Frage an: Wie ist es möglich, eine
Attraktivität zu entwickeln, die langfristig größer ist als die der großzügigen Geldsummen von Wirtschaft und
Regierungen?
Gerhard Klas