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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.2 vom 20.01.2000, Seite 11

Wie weiter nach Seattle?

Linke Reaktionen auf das Scheitern der WTO-Runde

"Kapitalistische Globalisierung zerschneidet das soziale Gewebe und schwächt die Klasse der Lohnabhängigen, indem sie die Prekarität verallgemeinert: sie versucht, kollektive Rechte, die in den vergangenen Kämpfen erstritten wurden, zu zerstören und zu ersetzen - am besten durch elementare, auf Sicherheit und Individualität ausgerichtete Ketten. Aber sie schafft auch Bedingungen für neue Solidarität: Internationale Institutionen verbreiten dieselbe neoliberale Politik auf allen Gebieten, in allen Lebensbereichen und allen Teilen der Welt. Die laufende Kampagne gegen die WTO sollte so lange anhalten wie die Millenniumrunde selbst. Das gibt uns die Möglichkeit, eine neue globale Solidarität zu entwickeln und einen neuen Internationalismus zu beleben."

Pierre Rousset, ‘The world according to the WTO‘, International Viewpoint, Januar 2000

Die Massenproteste und die gescheiterten Verhandlungen der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle haben weltweit viele Linke als Erfolg gewertet. Ein Hoffnungsschimmer ist am dunklen Horizont der neuen Weltordnung aufgetaucht. Er inspiriert und hat im Dezember und Januar die Köpfe zahlreicher Kritiker der politischen Ökonomie, Internationalisten und Menschenrechtsaktivisten aus den Metropolen und der Dritten Welt rauchen lassen.
Alle machen sich Gedanken darüber, wie es nach Seattle weitergehen kann. Sowohl in der Bewertung der jüngsten Ereignisse als auch im Ausblick auf kommende Szenarien überschneiden sie sich teilweise, weisen aber auch deutliche Differenzen auf.
"Der Fehlschlag der WTO-Ministerrunde in Seattle war in mehr als einer Hinsicht ein historischer Einschnitt", meint die indische Menschenrechtsaktivistin Vandana Shiva, ehemalige Quantenphysikerin und Trägerin des alternativen Nobelpreises. Sie gilt als vehemente Kritikerin der undemokratischen Entscheidungsstrukturen und sieht in der Kombination von Rebellion auf der Straße und einer solchen innerhalb der WTO den "Beginn einer neuen, demokratischen Bewegung".
Sie verliert zwar kein Wort über die Dissonanzen zwischen den USA und der EU. Aber einige Handelsminister aus Asien, Afrika, Lateinamerika und der Karibik haben nach Ansicht von Shiva eine politische Antwort gegeben und ihre Unterstützung für den hinter verschlossenen Türen ausgehandelten "Konsens" verweigert. "Solange die Bedinungen der Transparenz, Offenheit und Beteiligung nicht gesichert sind, werden die Entwicklungsländer nicht Teil des Konsens sein", bewertet sie die WTO-internen Ereignisse von Seattle.
"Während die Polizei Seattle in ein Kriegsgebiet verwandelte", hätten die Medien Protestierende als Vertreter von "Partikularinteressen" disqualifiziert, die den gemeinnützigen Zielen der WTO entgegenstehen würden, so Shiva.
Doch ihrer Meinung nach haben die Demonstrierenden in ihrer Unterschiedlichkeit gezeigt, dass sie in der Lage sind, sich quer über Sektoren und Regionen hinweg zu einigen. "Sie verteidigen allgemeine Interessen und allgemeine Rechte aller Menschen, überall. Die Politik des ‚teile und herrsche‘, Konsumenten gegen Farmer, den Norden gegen den Süden, Arbeiter gegen Umweltschützer auszuspielen, ist fehlgeschlagen", lautet ihr abschließendes Resümé.
"Die Dinge haben sich definitiv verändert", meint auch der Franzose Pierre Rousset in der Zeitschrift International Viewpoint. Vor fünf Jahren haben die Gründungsstaaten die WTO mit äußerster Diskretion konstituiert. Kritik haben damals nur kleine Gruppen, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, zur Sprache gebracht. "Aber Seattle, die Eröffnung der Jahrtausendrunde zu Handelsfragen im Dezember 1999, war eines der am meisten von den Medien beachteten Ereignisse auf diesem Planeten."
Natürlich gilt das Augenmerk Roussets ebenfalls den Protesten auf der Strasse - nicht nur in Seattle, sondern in weltweit mehreren Städten und Regionen. "Wann haben wir das letzte Mal eine solche internationale Dynamik und eine Konvergenz von mannigfaltigem Widerstand gegen die herrschende Ordnung gesehen?", fragt er.

Tiefe Krise
"Angesichts des wachsenden Massenprotests ist es den tonangebenden Regierungen in der WTO nicht einmal gelungen, sich auf eine Tagesordnung für die Jahrtausendrunde zu einigen", so Rousset zum Zusammenspiel von Protest und Widersprüchen im Lager der Triade (USA, EU und Japan). Aus dieser Situation hätten auch die Länder des Südens ihre Konsequenz gezogen und gewagt, ihre eigenen Interessen deutlich zu machen.
Monatelange Vorbereitungen im Genfer Hauptquartier der WTO konnten das Scheitern nicht verhindern, "sie brachten noch nicht einmal eine einfache, gemeinsame Erklärung zustande, um wenigstens den Anschein zu wahren", bewertet Rousset die Qualität des Rückschlags. Rousset kann sich vorstellen, dass "heute und morgen auch andere Siege möglich sind, wenn die Dynamik der zivilen und sozialen Mobilisierung beibehalten wird." Viel mehr als die Effizienz der WTO sei dann in Frage gestellt.
Betrachtet man die WTO als Instrument, um die kapitalistische Peripherie zu kontrollieren, gilt die Einigkeit der G7-Staaten als Voraussetzung. Doch schon die Situation in diesen Ländern ist von unterschiedlichen Klassenkompromissen geprägt, die einige Regierungen davon abhalten, öffentliche Gesundheits- und Bildungssysteme vollständig zu zerstören bzw. sie im Sinne der Dienstleistungskonzerne komplett zu privatisieren.
Erst die WTO ermöglicht mit ihrem international gültigen Regelwerk einen weitergehenden Ausverkauf des öffentlichen Sektors und eine Überwindung dieser nationalen Vorbehalte.
Die kapitalistische Globalisierung hat demnach nicht nur Auswirkungen im kommerziellen, industriellen und finanziellen Bereich. Sie fordert auch tiefe soziale Umschichtungen, die in den Augen Roussets innerhalb der regulierenden Klasse schon zu einer "Schwächung und Marginalisierung einiger traditioneller Eliten" geführt haben. Ganz zu schweigen von den unterdrückten Klassen, die durch "diesen profunden Prozess bedroht werden, der ihr Leben ungeschützter und ihre Identität fragmentierter werden lässt".
Der Neoliberalismus hat nach dem Fall der Berliner Mauer etwas mehr als zehn Jahre gebraucht, um seine Dominanz zu entfalten. "Aber in dieser Dekade hat er bereits seine erste große Krise produziert", meint Rousset. Eine Krise, die "ein Licht auf die ökonomischen, sozialen und politischen Widersprüche der kapitalistischen Globalisierung wirft und zeigt, wie unsicher die Stabilisierung der neuen Erscheinungsform der bürgerlichen Herrschaft bleibt".
Diese Herrschaft, die sich in einem einzigen, unverhohlenen Gesetz für Finanzwelt, Industrie und Handel manifestiert, "kann nur funktionieren, wenn es keinen nenneswerten, kollektiven Widerstand gibt", schlussfolgert Rousset.
Anders als Vandana Shiva hebt er jedoch hervor, dass "unser Erfolg [in Seattle] daher rührt, dass es schon signifikante Unstimmigkeiten zwischen den Regierungen des Nordens gab, die durch die Finanzkrisen vertieft worden sind". Und die nächste Krise steht bevor.
Etwas zurückhaltender als Vandana Shiva und Pierre Rousset in der Bewertung der Proteste gegen die WTO gibt sich Lee Changgeun, Mitarbeiter des südkoreanischen PICIS-Newsletter: "Wir sollten der vielen Selbstkomplimente über die Resultate überdrüssig werden und die Ereignisse von Seattle genauer und ruhiger analysieren, als Basis für die Planung unserer zukünftigen Aktionen."
Er sieht die Gefahr, dass die amerikanische Regierung sich nun noch stärker für Arbeits- und Sozialstandards in der WTO einsetzt - gegen die Interessen der Länder der Dritten Welt. Damit würde die WTO die Forderungen eines großen Teils der Demonstranten erfüllen, die der US-amerikanische Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO gestellt hat.
Doch "diese Forderungen dienen nur dem Anstieg der Macht und Autorität der WTO", so Changgeun. Stattdessen schlägt er vor, den Einfluss "progressiver Deklarationen und Verträge, wie die Deklaration der Menschenrechte und die Arbeitsstandards der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, zu stärken … und dafür zu kämpfen, dass sie auf nationalem Level akzeptiert werden. Wir glauben, dass dies die minimale Strategie ist, um der Freihandelsordnung der WTO zu widerstehen".
Ungeachtet des Scheiterns der WTO-Verhandlungen in Seattle habe die südkoreanische Regierung "ihre Politik der Liberalisierung und Marktöffnung fortgesetzt", erklärt Changgeun. "Wir werden uns dieser Position der Regierung entschlossen entgegenstellen, genauso wie … allen Plänen, die Macht der WTO zu stärken".

Triumph der Straße
Der Bundeskongress entwicklungspolitischer Aktionsgruppen (BUKO) und das Freiburger Informationszentrum 3.Welt (iz3w) werten es als "großen Erfolg", dass "weder die Weltpresse noch die TeilnehmerInnen des WTO-Treffens den Widerstand gegen die Freihandelspolitik übergehen konnten".
Sie sehen darin auch den Triumph eines "konfrontativen Vorgehens" gegenüber dem "lobbyistischen Schmusekurs der Nichtregierungsorganisationen". In ihren Augen bestätigen die Erfahrungen von Seattle, dass "gepflegte Dialogrunden zwischen NGOs und den Regierungen ein wenig geeignetes und keinesfalls ausreichendes Mittel sind, um Sand ins Getriebe des globalen Kapitalismus zu streuen".
"Emanzipatorische Veränderungen lassen sich … nur durch die Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, durch Druck von unten erreichen", lautet das Resümee von BUKO und iz3w. Die Gefahr eines langfristigen Scheiterns der WTO-Verhandlungen wegen des innerkapitalistischen Konfliktpotentials sehen sie nicht, denn ihrer Ansicht nach "wird wohl keine der verhandelnden Regierungen … aus dem WTO-System ausscheren, auch wenn sie ihre Partikularinteressen nicht voll verwirklichen kann".
Dementsprechend sind für den BUKO und das iz3w Nationalstaaten ganz pauschal "konstitutiver Bestandteil dieser Weltordnung" und "treiben als Wettbewerbsstaaten die neoliberale Offensive aktiv voran".
Spätestens hier stellt sich die Frage, mit welchem Ziel "Druck von unten" ausgeübt werden soll. Denn gerade viele Bewegungen in den Ländern der Dritten Welt setzen den Hebel an der Politik ihrer Regierungen an, fordern von ihnen protektionistische Maßnahmen und kritisieren den Einstieg in den "Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt".
Sowohl die Widersprüche zwischen den Triadenmächten als auch die zu den Regierungen der Dritten Welt sind die zentralen Punkte, wo soziale, ökologische und gewerkschaftliche Bewegungen heute intervenieren können.
Sie können diese Widersprüche zum Tanzen bringen, indem sie z.B. ihre Regierungen dazu zwingen, die Mitgliedschaft in der WTO zu quittieren, die Ernährungssicherheit der eigenen Bevölkerung über eine import- und exportorientierte Wirtschaftspolitik zu stellen, den Schuldendienst an private und institutionelle Gläubiger einzufrieren und stattdessen für die Befriedigung der Grundbedürfnisse aufzukommen.
Es ist und bleibt ein wichtiger Unterschied, ob protektionistische Maßnahmen von Regierungen aus Drittweltländern oder denen der Triadenmächte eingefordert werden. Das ist kein Persilschein, denn auch in einigen Schwellenländern, z.B. in Südafrika, gibt es Regierungen, die ihren Protektionismus auf Kosten ärmerer Nachbarstaaten betreiben wollen. Als Grundlage für eine Bewertung von "nationalem" Protektionismus könnte die Position in der weltwirtschaftlichen Rangordnung herangezogen werden.
Vor allem auf dem Hintergrund einer wirtschaftspolitischen "Rekolonialisierung", für die die WTO wie kaum eine andere Organisation steht, sind Schutzzölle in der Dritten Welt eine der wenigen Möglichkeiten, eigenständige Wirtschaftsstrukturen zu erhalten.
Dabei geht es nicht darum, Position für die kapitalistischen Eliten in den Ländern der Dritten Welt zu ergreifen, sondern um einen ersten Schritt, der weitergehende Perspektiven eröffnen kann und zunächst den Zielen der WTO entgegensteht. Welche anderen Möglichkeiten hat eine Bewegung gegen den Freihandel unter den gegebenen Voraussetzungen, als die Widersprüche im Lager derer zu nutzen, die sich anschicken, weltweit alle Lebensbereiche der Profitmaximierung unterzuordnen?
Interessant könnte dabei auch die Rolle einiger NGOs werden, die die WTO noch nicht vollständig als "legitimen" Verhandlungspartner ansehen. Nicht jeder Dialog mit der WTO und ihren Regierungen ist von vorneherein als Mittel der Verhandlung anzusehen und auszuschließen.
Die Frage ist letztendlich, wem gegenüber sich diese "Lobbys" verantwortlich fühlen und wo sie eingebunden sind: in den Bewegungen oder bei ihren Ansprechpartnern in Regierungen, Unternehmen, IWF, Weltbank und WTO. Hier schließt natürlich eine weitere Frage an: Wie ist es möglich, eine Attraktivität zu entwickeln, die langfristig größer ist als die der großzügigen Geldsummen von Wirtschaft und Regierungen?
Gerhard Klas


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