Sozialistische Zeitung |
Gibt es eine Demokratisierung in der Türkei?
Voraussetzung für eine Demokratisierung der Türkei ist die Veränderung des Systems. Zumindest müssen Schritte
in Richtung einer Zivilisierung unternommen werden. Ich kann nicht behaupten, dass Bemühungen in dieser Richtung bestehen. Denn in
der Türkei gilt immer noch die Verfassung, die von den Militärs geschaffen wurde.
Folglich sind auch die Gesetze in höchstem Grade antidemokratisch.
Insbesondere mit der Überführung Abdullah Öcalans in die Türkei hat jedoch eine Diskussion über
Demokratisierung begonnen. Aber es wird lediglich diskutiert, konkrete Schritte sind nirgends zu sehen. Zwei Maßnahmen dienten bisher
eher der Beruhigung der nationalen und internationalen Öffentlichkeit, als dass sie tatsächlich Auswirkungen hätten:
Erstens die Entfernung der Militärrichter aus den Organen des
Staatssicherheitsgerichts. Dies hat jedoch überhaupt keine Bedeutung. Denn die Staatssicherheitsgerichte verfügen über
Sondervollmachten und sind weiterhin abhängige Gerichte.
Zweitens wurde der Eindruck erweckt, als ob es eine Amnestie für
jene gäbe, die wegen der Äußerung ihrer politischen Meinung verurteilt wurden. Eine von ihnen bin ich. Am 1.November des
vergangenen Jahres sollte ich meine Haftstrafe antreten, die jedoch für drei Jahre ausgesetzt worden ist. Das ist eine Geiselnahme der
Gedanken und keine Amnestie. Wenn ich wieder etwas schreibe oder sage, muss ich diese Strafe absitzen.
Diese beiden Maßnahmen sind nur Fassade. Wenn die Türkei
zur Demokratisierung entschlossen ist, muss sie zuerst ihre Verfassung ändern.
Hat sich die Menschenrechtssituation verändert?
Die Verletzungen des Rechts auf unversehrtes Leben werden weiterhin ausgeübt. Anonyme Morde und Hinrichtungen ohne
Gerichtsurteil werden fortgesetzt. Einen relativen Rückgang gibt es nur bei der Anzahl derjenigen, die im Polizeigewahrsam
verschwinden. Verbote gegen die freie Meinungsäußerung finden weiterhin Anwendung. Darüber hinaus werden
Aktivitäten der Zivilgesellschaft, u.a. des Menschenrechtsvereins, behindert. Die systematische Folter besteht fort. Von Monat zu Monat
kann die Zahl dieser Menschenrechtsverletzungen zwar schwanken, aber im Prinzip hat sich die Linie der staatlichen Politik nicht
geändert.
Vor allem nach der Verhaftung von Öcalan und dem Waffenstillstand seitens der PKK ist der Eindruck entstanden, als gäbe
es keinen Krieg mehr in Kurdistan. Entspricht das den Tatsachen?
Seitens der PKK ist der Krieg zur Zeit beendet, aber die Morde an der Guerilla gehen weiter, die paramilitärischen Operationen in
Südkurdistan werden fortgesetzt. Menschen, die während der Operationen gegen die PKK festgenommen werden, sind weiterhin
einer systematischen Folter ausgesetzt. Der Staat gesteht den Kurden nur das Recht zu, das Reuegesetz in Anspruch zu nehmen. Da die Kurden
dies aber nicht tun, setzt der Staat seine Politik fort. Möglicherweise könnten einige Veränderungen eintreten, wenn die
demokratische Öffentlichkeit in ihren Bemühungen zur Beendigung des Krieges stärker wird. Doch wir als
Menschenrechtsaktivisten müssen dies zur Zeit als idealistisches Ziel bezeichnen, denn meiner Ansicht nach betreibt der Staat weiter
diesen Krieg.
In der bundesdeutschen Asyldiskussion wird immer wieder die Behauptung aufgeworfen, Kurden könnten im Westen der
Türkei eine sichere Zuflucht finden. Gibt es eine "sichere Fluchtalternative Westtürkei"?
Das ist absolut falsch. Die Kurden können überall in der Türkei - sei es in Kurdistan, sei es in den westlichen
Großstädten - Verfolgungen ausgesetzt sein. Fuat Ünlü war Kurde, er wurde im Zuge ohne Urteil in Istuanbul
hingerichtet. Ridvan Karakoc war Kurde und verschwand, nachdem er in Istanbul in Polizeigewahrsam genommen wurde. Zeynep Avci war
Kurdin und wurde im Polizeigewahrsam in Istanbul vergewaltigt. Die "Fluchtalternative Westtürkei" ist nichts als ein
Schwindel.
Wie steht es um die Rückkehrgefährdung von abgeschobenen Flüchtlingen?
Am meisten gefährdet sind jene, die zuvor schon in der Türkei gesucht wurden. Menschen, gegen die Behörden zuvor
ermittelten, deren Name in irgendeiner Akte getaucht ist. Die Bewohner von Dörfern, die in Brand gesetzt worden sind und deren
Angehörige sich der Guerilla angeschlossen haben. Fast alle Kurden sind mit diesem Problem konfrontiert. Alle Kurden sind potenziell
gefährdet.
Das Wanderkirchenasyl, an dem bis zu 450 kurdische Flüchtlinge teilgenommen haben, setzte sich für ein Bleiberecht in
Deutschland, aber auch für den Frieden in Kurdistan ein. Wie steht es um die Gefährdung der kurdischen Teilnehmerinnen und
Teilnehmer?
Diese Menschen sind einer besonderen Gefährdung ausgesetzt, denn
in der Türkei wird dauernd in der Presse über sie berichtet. Das Wanderkirchenasyl wird als Aktivität gewertet, die sich
gegen die Türkei richtet und ihr Ansehen im Ausland herabsetzt.
Was halten Sie von den Überlegungen in Kreisen der evangelischen Landeskirche im Rheinland, für die kurdischen
Flüchtlinge aus dem Wanderkirchenasyl eine begleitete Rückführung zu organisieren?
Das ist überhaupt keine Garantie für ihre Unversehrtheit, denn
die meisten können innerhalb von zwei Stunden, nachdem die Polizei am Flughafen sie aus dem Gewahrsam entlassen hat, wieder
festgenommen werden.
Die Landeskirche will bei der "begleiteten Rückführung" mit Menschenrechtsgruppen aus der Türkei
zusammenarbeiten. Wie stehen Sie zu der Absicht der Landeskirche?
Es ist ausgeschlossen, dass der Menschenrechtsverein etwas derartiges
akzeptiert, solange es in der Türkei immer noch Folter, Hinrichtungen ohne Urteil und das Verschwindenlassen von Menschen gibt. Selbst
wenn nur eine einzige Person gefährdet wäre, könnte der IHD derartiges nicht unterstützen.