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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.5 vom 02.03.2000, Seite 12

Tschetschenien-Krieg

Die USA als Komplizen

Seit September haben russische Bomberflugzeuge und Kampfhubschrauber pro Tag bis zu hundert Angriffe auf Grosny und die südlichen Berge Tschetscheniens gefahren, ohne von Luftabwehrsystemen behindert zu werden. Artilleriegranaten, Bomben und Raketen regnen seit Weihnachten auf Grosny hinab. Mehr als 250.000 Flüchtlinge strömten seit September in die Nachbarrepublik Inguschetien.
Während die USA den Terror des serbischen Diktators Slobodan Milo?sevi´c gegen die Bevölkerung Kosovas ausführlich beschrieben, um den mörderischen Luftkrieg gegen Belgrad im Namen der "Humanität" und der "Respektierung der Menschenrechte" zu rechtfertigen, konnte Washingtons Reaktion auf den brutalen militärischen Feldzug Russlands gegen die Unabhängigkeit Tschetscheniens und seiner Bevölkerung kaum verschiedener sein.
Russlands Einfall in Tschetschenien wurde vom Westen mit faktischem Schweigen beantwortet. Als sich der Konflikt verschärfte, begann Washington diplomatischen Tadel gegen Moskaus "exzessive" und "unangemessene" Anwendung von Gewalt zu verteilen.
Die Kritik aus den USA ist jüngst lauter und beharrlicher geworden - zum Teil infolge des Drucks seitens der internationalen Öffentlichkeit und ihrer Besorgnis über das Ausmaß der Gewaltanwendung Russlands. Doch die politischen Führer des Westens haben Russland versichert, dass keine spezifischen Aktionen unternommen werden, um das Abschlachten der Tschetschenen zu verhindern. Die Kritik an Russlands militärischer Taktik wird routinemäßig durch den Hinweis auf Russlands Recht, den "internationalen Terrorismus" zu bekämpfen, abgeschwächt.

Washingtons wirkliche Sorge

Der stellvertretende US-Außenminister Strobe Talbot stellte am 22.Oktober fest, dass Washingtons Hauptsorge sei, dass der "zunehmende Verlust an zivilen Menschenleben die Sicherheit und Stabilität der Region gefährdet", und dass die USA ein Interesse an einer friedlichen Beilegung des Konflikts hätten. Der letzte Krieg Russlands in Tschetschenien, 1994-96, habe gezeigt, dass es keine rein militärische Lösung des Problems geben könne und "entschiedene und bewusste Bemühungen um einen ernsthaften politischen Dialog" unternommen werden müssten. "Wir rufen die russische Regierung und die verantwortungsbewussten tschetschenischen Führer dringend auf, einen politischen Dialog zu eröffnen, der im Interesse des tschetschenischen Volkes an einem normalen, friedlichen Leben, im Interesse des Friedens und der Sicherheit der Region und im Interesse der fortlaufenden Reformen in Russland ist", so Talbot.
Talbots Botschaft war, dass Washington die Anstrengungen Moskaus, die Bestrebungen des tschetschenischen Volkes nach nationaler Selbstbestimmung zunichte zu machen, unterstützt, aber besorgt ist, dass der Weg, den Moskau dabei einschlägt, nicht zum Erfolg führen kann. Was Washington mehr beunruhigt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Moskaus brutale Taktik dazu führen wird - und wahrscheinlich bereits geführt hat -, dass innerhalb der tschetschenischen Befreiungsbewegung die militantesten islamischen Elemente eine große Gefolgschaft gewinnen und die Kontrolle über die Unabhängigkeitsbewegung übernehmen. Washington fürchtet, dass "verantwortungsbewusste" Tschetschenenführer wie Präsident Maschchadow, der möglicherweise zu einem Kompromiss mit Moskau bereit wäre, ausgebootet werden.
Nicht nur, dass eine militante islamische Führung außerhalb der Kontrolle sowohl der USA als auch Russlands liegen würde - und vielleicht "Schurkenstaaten" wie Afghanistan und den Iran um politischen, militärischen und wirtschaftlichen Beistand bittet -, Washington fürchtet auch, dass ihr unbeugsamer Kampf um Unabhängigkeit Anhänger unter den Massen der an Erdölvorkommen reichen neuen unabhängigen Republiken des Kaukasus und Zentralasiens finden wird.
Doch Washingtons Hauptanliegen ist - in Talbots Worten - die "Fortsetzung der Reformen in Russland", d.h. die Restauration und Konsolidierung des Kapitalismus.
Eine erneute Niederlage in Tschetschenien wie 1994-96 könnte zu einer ernstlichen Destabilisierung des russischen politischen Establishments führen. Zumindest könnte Interimspräsident Putin die Präsidentschaftswahlen im März verlieren oder nicht überzeugend genug gewinnen und so Russland ohne einen stabilen Nachfolger Boris Jelzins lassen. Eine militärische Niederlage könnte massive soziale Unruhen auslösen.
Seit September versuchen die russischen Politiker die Unterstützung der Bevölkerung für den Krieg durch die Aufstachelung des russischen Nationalismus und eines antitschetschenischen Rassismus aufrechtzuerhalten, indem sie die Empörung über eine Reihe von "terroristischen" Bombenanschlägen in Moskau (die sofort Tschetschenen angelastet wurden, doch möglicherweise von russischen Sicherheitskräften begangen wurden) ausnutzten, systematisch das Ausmaß der Verluste der russischen Truppen verheimlichten und einen schnellen Sieg versprachen.
Doch mit der Fortdauer des Krieges ist es zunehmend schwieriger geworden, die Wahrheit zu verheimlichen. Soldaten haben den offiziellen Zahlen offen widersprochen, und immer mehr Familien sind vom Tod russischer Soldaten betroffen.
Am 26.Januar wurde offiziell zugegeben, dass im Gefecht mit hoch motivierten tschetschenischen Guerillakämpfern 1055 Soldaten gefallen sind und 3000 Soldaten verwundet wurden. Nach inoffiziellen Schätzungen sollen die Verluste doppelt so hoch sein. Am 1.Februar trat ein Regierungsdekret in Kraft, dass die Einberufung von 20000 Reservisten beinhaltet, womit sich die Zweifel an den offiziellen Verlustziffern erhärten.

Kein Wandel

Während Presseberichte über die deutliche Kritik von US-Außenministerin Albright an Russlands Gemetzel in Tschetschenien den Eindruck erwecken konnten, dass Washington seine Position zum Krieg geändert habe, zeigt eine Rede, die Albright am 2.Februar in der Diplomatischen Akademie in Moskau gehalten hat, dass dies nicht der Fall ist.
"Niemand stellt Russlands Verantwortung, ja sogar Verpflichtung in Frage, Aufstand und Terror innerhalb seiner Grenzen zu bekämpfen", versicherte Albright der russischen Elite.
"Doch die Welt hat zunehmend in Frage gestellt, dass dies auf Kosten so vieler unschuldiger Menschenleben und mit so viel Leid geschieht, auf Kosten des internationalen Ansehens Russlands. Diese Taktiken werden nicht zum Aufbau eines friedlichen und prosperierenden Tschetschenien innerhalb der Russischen Föderation beitragen. Nur eine politische Lösung des Konflikts wird dies tun. Solange die Kämpfe andauern, werden sie als Magnet für den Extremismus dienen, der eines Tages die Stabilität der gesamten Region gefährden könnte."
Manche Linke verweisen auf Washingtons entschlossene Versuche, die an Ölvorkommen reichen Republiken des Kaukasus und Zentralasiens aus Russlands Einflusssphäre zu lösen, und behaupten, dass die USA Tschetscheniens Unabhängigkeitsbestrebungen unterstützten und die tschetschenische Unabhängigkeitsbewegung eine "Marionette" Washingtons sei. Die Realität ist anders.
Seit Tschetschenien 1996 seine De-facto-Unabhängigkeit errang, hat der Westen weiterhin die Republik als Teil Russlands betrachtet. Die USA und die europäischen Imperialisten waren Komplizen Russlands bei seiner Blockade gegen das Rebellengebiet. Der Schritt einiger militanter tschetschenischer Kämpfer, den Kampf ins benachbarte Dagestan zu tragen - was für Moskau der Anlass war, seinen Krieg gegen Tschetschenien wieder aufzunehmen -, war von dem Bedürfnis geleitet, Zugang zum Kaspischen Meer zu bekommen, um diese Blockade aufzubrechen.
Der US-Imperialismus versucht nicht so sehr, Russland zu "balkanisieren", als vielmehr dessen kapitalistische Führer davon zu überzeugen, die Realitäten nach dem Ende des Kalten Krieges, d.h. die von den USA dominierte Neue Weltordnung und Russlands Platz darin, zu akzeptieren.
Während die USA Russlands enormes diplomatisches und militärisches Gewicht anerkennen, bieten sie ihm eine Rolle als Juniorpartner in der Region mit gewissen politischen Verantwortlichkeiten an. Als Jelzin 1994 eine russische Version der "Monroe-Doktrin" verkündete, hatte Washington keine Einwände; als Moskau dies 1994-96 und im September des vergangenen Jahres in Tschetschenien praktisch umsetzte, nickte der Westen nur. Russlands Beteiligung - wenngleich mit Vorbehalten und Meinungsverschiedenheiten - an den Operationen des US-Imperialismus in Bosnien und Kosova bestätigt dies.

Gemeinsame Interessen

In ihrer Rede am 2.Februar in Moskau erneuerte Albright Washingtons Angebot: "Amerika und Russland haben wichtige Interessen ausreichend gemeinsam, um unsere Meinungsverschiedenheiten zu überwinden und angesichts der größten Gefahren sowie Möglichkeiten, denen wir uns im neuen Jahrhundert gegenübersehen, zusammenzuarbeiten … Auf dem Balkan, im Nahen Osten, im Kaukasus und in Zentralasien sind die Quellen [der potenziellen Instabilität] ähnlich: ethnischer Hass, Fanatismus, wirtschaftliche Hoffnungslosigkeit und zu wenig Demokratie. Und die Spannungen, die dadurch hervorgerufen werden, schaffen einen Nährboden für viele Formen der organisierten Schurkerei…"
"Bei der Vermeidung solcher Entwicklungen haben die USA und Russland ein klares Interesse an der Stabilität im Kosovo, an einen friedlichen Wandel im Nahen Osten und an einer dauerhaften Beilegung des Streits um Nagorno-Karabach. In jedem dieser Gebiete haben Russland und die USA zusammengearbeitet, um zu gangbaren Lösungen zu kommen … Im Kosovo hatten wir große Meinungsverschiedenheiten, aber unsere Nationen wussten, dass sie ein Interesse an der Beendigung des Konflikts und der Eröffnung einer Ära der Stabilität auf dem Balkan hatten. Heute arbeiten unsere Soldaten Seite an Seite, damit der Friede die bestmögliche Chance erhält…"
"Eine solche Zusammenarbeit zeigt, wie die USA und Russland auch mit den Ländern des Kaukasus und Zentralasiens zusammenarbeiten können. Diese souveränen Staaten stehen vor der vierfachen Herausforderung, ihre Unabhängigkeit zu schützen, moderne politische Institutionen zu schaffen, Prosperität zu erlangen und die Stabilität aufrecht zu erhalten. Die Tatsache, dass viele von ihnen an eine Region angrenzen, die ein Exporteur von Extremismus und Terror war, kommt zu den Herausforderungen, vor denen sie stehen, noch hinzu."
"Von dem Erfolg der Strategien, die diese Staaten gewählt haben, haben Russland und die USA viel zu gewinnen und nichts zu verlieren. Diese Länder glauben, dass sie für ihre Exporte, insbesondere Energie und natürliche Ressourcen, den Zugang zu den internationalen Märkten benötigen; sie wollen Teil der internationalen Institutionen sein, und sie streben normale, beiderseitig vorteilhafte Beziehungen zu ihren Nachbarn an."
"In jedem dieser lebenswichtigen politischen Bereiche … haben Russland und die USA gemeinsame Interessen. Dies bedeutet, dass es eine Basis für echte Zusammenarbeit in jedem dieser Bereiche gibt, auch wenn Differenzen bisweilen im Mittelpunkt stehen mögen."

Norm Dixon

Aus: Green Left Weekly (Sydney), Nr.392, 9.2.2000.



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