Sozialistische Zeitung

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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.5 vom 02.03.2000, Seite 15

Eine Reporterin von Format

Margrit Sprecher, Leben und Sterben im Todestrakt, Haffmans Sachbuch-Verlag, Zürich, 222 Seiten, 36 Mark.

Das Buch Leben und Sterben im Todestrakt sprengt seinen Rahmen. Hier wird weit mehr als nur ein Schlaglicht auf Huntsville in Texas geworfen, dem Todestrakt der Gefängnisse dort, die sinnigerweise Ferienheim, Bergsicht und Zuckerland getauft sind, nicht bloß auf den grauenvollen Weg zu Old Sparky, wie die Texaner den elektrischen Stuhl anhänglich nennen. Margrit Sprecher, die sich als Schweizerin aus Zürich einen unverstellten Blick auf God‘s Own Country bewahrt hat, durchleuchtet zugleich auch Schattenseiten des amerikanischen Lebens jenseits der Gefängnisse - man lernt den Nährboden für all die Kriminalität begreifen, die allein im neunundneunziger Jahr nahezu zwei Millionen Amerikaner hinter Gitter gebracht hat.
In Huntsville, Texas, so erfahren wir, werden im Auftrag des Staates mehr Menschen hingerichtet als in jeder anderen Stadt in einer Demokratie. Von Houston kommend, erreicht man binnen einer Autofahrstunde die Tafel mit der Aufschrift: "Willkommen in Huntsville, wo das Abenteuer beginnt!"
Die Autorin hat hier ihr ureigenes Abenteuer gefunden - hat in Erfahrung gebracht, nach welchen Kriterien in den USA über Leben und Sterben entschieden wird, hat den demütigenden Alltag im Todestrakt nacherlebt, die Seelenqual der Angehörigen von Opfern und Tätern mitempfunden - was für ein Kapitel, dieses achte über den Anmarsch der Angehörigen am Besuchstag! - und ist der Legion von Geschäftemachern auf die Spur gekommen, die sich an diesem gewaltigen prison system zu bereichern versteht, und hat zu alldem noch erschütternd über das bittere Los der Unschuldigen berichtet.
Die Frau erweist sich als Reporterin von Format, hart gegen all und jede Ungerechtigkeit, Unmenschlichkeit, eine würdige Kisch-Pristrägerin, die nicht nur zufällig die Worte der Eltern Joshua Whites aufzuspüren verstand, jener Eltern eines kaltblütig auf der Straße ermordeten Heimerziehers, die in der Zeitung The Voice folgendes veröffentlichten:
"Der Mann, der unseren Sohn tötete, ist ebenso ein Produkt dieses Systems wie die Raketen, mit denen wir fremde Länder bombardieren. Hätten wir eine gerechte Gesellschaft, eine, die die Menschen in all ihrer Vielfalt respektiert, eine, die allen Menschen die gleichen Chancen einräumt, würde unser Sohn Jo-Jo noch immer ein großzügiges, fröhliches Leben führen können. Und der junge Mann, der ihn tötete und jetzt auf der Flucht ist, ebenfalls."

Walter Kaufmann


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