Sozialistische Zeitung |
Seit ungefähr sechs Monaten sind Sie Abgeordneter des Europaparlaments. Viele der Listenführer aus dem Wahlkampf haben
ihre Mandate mittlerweile wieder aufgegeben. Andere Abgeordnete sind so gut wie nie anwesend. Aber - nach allem was man in den Zeitungen
liest - sind Sie fast immer da. Ist die Arbeit im Europaparlament so spannend?
Alain Krivine: Es gibt zwei Gründe, warum wir zusammen mit
Arlette Laguiller [LO] so häufig dort sind. Erstens hat man den Spitzenpolitikern häufig vorgeworfen, Versprechen zu machen und
sie dann nicht einzuhalten. Alle haben versprochen, dort zu bleiben, und heute verlassen sie dieses Parlament, da sie nicht mehrere Mandate
gleichzeitig ausüben dürfen. Was uns angeht, so haben wir die Leute um ein Mandat gebeten, sie haben es uns gegeben, und jetzt
gehen wir hin, denn sonst hätten wir gar nicht erst darum gebeten.
Wenn man dann da ist, dann können keine Illusionen zerstört
werden, die man nicht hatte, selbst wenn es teilweise wirklich Zeitverschwendung ist. Die Funktionsweise dieser Institution ist so, dass man
sich vollständig gelähmt fühlt. Man hat vor allem den Eindruck, dass dort viel Zeit und Geld verschwendet wird.
Da zwängt sich die Frage auf, was denn der Wahlkampfslogan von LCR und LO für die Europawahlen wert war:
"Für ein vereinigtes, demokratisches und sozialistisches Europa." Hat sich mit Hilfe der LCR und von LO die Situation im
Europaparlament, oder gar in Europa schon gebessert?
Dieses Parlament ist noch weiter von der Zivilgesellschaft entfernt als
andere Institutionen und vollständig abgeschnitten von seinen Wählern. Schon da wird die Demokratie negiert, denn man ist nicht
so nah wie möglich bei den Wählern, sondern so weit wie möglich von ihnen entfernt. Und der Atem der sozialen Bewegung
kann nicht nur wegen der Funktionsweise, sondern auch wegen der Distanz nur zehnfach geringer sein als in einem nationalen Parlament. Man
kann für eine Demokratisierung kämpfen, etwas tun, allerdings glaube ich persönlich absolut nicht daran, dass man dieses
Parlament in eine demokratische Institution verwandeln könnte. Man muss andere Institutionen finden, was aber mit der Politik insgesamt
zusammenhängt.
Was wir jedoch auf jeden Fall tun können, ist unser Mandat zur
Unterstützung der sozialen Bewegungen zu nutzen. Wir haben die Sans papiers ins Parlament gebracht und die Arbeiter von Michelin, und
wir haben die Euromärsche gegen die Erwerbslosigkeit empfangen. Wir haben die Konzeption, die Verbindung zwischen der
Straße und dem Parlament, dem Parlament und der Straße zu sein, auch wenn das eine noch mehr Gewicht hat als das
andere.
In Frankreich sind LCR und LO in der politischen Landschaft ein wenig isoliert. Sie haben ziemlich enge Verbindungen mit den
verschiedenen sozialen Bewegungen, aber nicht mit anderen Parteien. Haben Sie im Europaparlament politische Parteien gefunden, die Ihren
Positionen nahestehen?
Nein. Da gibt es so ein Charakteristikum von Parlamenten: Auf diesen
isolierten Planeten herrscht eine Atmosphäre des Konsenses. Die Leute leben in einer geschlossenen Welt von Politprofis. Und der nur
geringe Unterschied zwischen links und rechts, den es auf nationaler Ebene gibt, ist im Europaparlament vollständig bereinigt.
Da wir aber in einer Parlamentsgruppe sein müssen, um ein wenig
effizient zu sein, sind wir der Gruppe der "Vereinigten Linken" beigetreten, zu der auch die PDS gehört. Politisch ist die
Gruppe immerhin die am wenigsten entfernte. Auch wenn sie vollständig heterogen ist, so gibt es doch einige uns nahestehende
Strömungen. In der Gruppe koexistieren wirklich antikapitalistische Leute mit - ich würde sagen - nicht mal Sozialdemokraten,
sondern Liberalen.
Beim Kosovo-Krieg saßen in der gleichen Gruppe Leute, die mit
ihrem "Genossen Milosevic" litten, und Anhänger der NATO-Intervention. Trotzdem schaffen wir es manchmal, gemeinsame
Dinge zu machen.
Unsere Konzeption ist es, innerhalb der Gruppe zu kämpfen, selbst
wenn es häufig nicht viel nützt. Aber immerhin ermöglicht es, die Meinungsverschiedenheiten klarzumachen oder an
bestimmten Punkten unsere Freunde und uns Nahestehende wiederzufinden. Wir versuchen zu jedem Thema Leute zu finden. Dadurch schaffen
wir es, für jede Kampagne, Petition oder Abstimmung eine kleine Minderheit der Sozialdemokraten, vor allem der französischen,
und zudem einen Teil der Grünen mitzuziehen.
In einem Artikel, der vor kurzem in der französischen Tageszeitung Le Monde erschienen ist, haben Sie ein wenig die Funktionsweise
des Europaparlaments beschrieben und unter anderem erklärt, dass sich die zwei großen Blöcke - die Sozialdemokraten und
die Rechte - vor den Abstimmungen über ihr Abstimmungsverhalten abstimmen. Gibt es noch Unterschiede zwischen den zwei
großen Blöcken oder gibt es keine Divergenzen mehr?
Wenn man während einer Debatte - wenn es eine Debatte gibt - die
Augen schließen würde, dann könnte man fast keinen Unterschied mehr feststellen. Nur was einige, sehr begrenzte Probleme
angeht, etwa die Menschenrechte, da haben die Sozialdemokraten manchmal den ein klein wenig sozialeren Diskurs. Aber ehrlich gesagt, man
entdeckt fast keinen Unterschied mehr. Hinzu kommt in den meisten sozialdemokratischen Fraktionen, dass, wenn es noch eine Linke gibt, diese
abwesend ist, oder aber es handelt sich um Einzelpersonen.
In Europa spricht man derzeit viel von den großen sozialdemokratischen Strömungen und ihren unterschiedlichen Konzeptionen,
hier Schröder und Blair, dort Jospin. Sieht man im Europaparlament Unterschiede zwischen sozialdemokratischen Abgeordneten aus
verschiedenen Ländern?
Sehr wenig. Das ist aber logisch, denn das Europaparlament hat ein
Interesse daran, nur große Ideen erscheinen zu lassen, nicht die Details. Da ich davon überzeugt bin, dass das, was Schröder
und Blair von Jospin unterscheidet, nur ein Problem des unterschiedlichen Kräfteverhältnisses zwischen der Arbeiterklasse und der
Bourgeoisie ist, führt dies dazu, dass die französischen Sozialdemokraten, um eine Politik der liberalen Begleitung zu machen,
erstens gezwungen sind einen linkeren Diskurs zu benutzen als Blair und Schröder, und sie zweitens, um die gleichen Maßnahmen
zu ergreifen, diese etwas in der Zeit strecken müssen, um so weniger zu schockieren.
In der deutschen Linken besteht die Tendenz in Jospin, im Gegensatz zu Blair und Schröder, den letzten Großkrieger gegen den
Neoliberalismus zu sehen.
Wenn die "deutsche Linke" das teilweise glaubt, dann
täuscht sie sich. Dann wird sie zum Opfer der Liebenswürdigkeit der französischen Sozialdemokraten. Anders als
Schröder benutzen sie zur Umsetzung neoliberaler Politik soziale Etiketten. Mit der 35-Stunden-Woche erfüllen sie eine Forderung
der Arbeiterlinken, der Gewerkschaftslinken in der ganzen Welt, doch wenn man die Umsetzung dieses Gesetzes sieht, dann ist das wirklich ein
Freifahrtschein für die Arbeitgeber. Im Gegensatz zu Schröder und Blair wird von Jospin alles links angekündigt, und der
Ankündigungseffekt besteht dann darin, dass bei den Leuten, die die detaillierte Umsetzung der Gesetze nicht mehr verfolgen, der
Eindruck entsteht, es handele sich um linke Politik. Doch - um noch ein Bespiel zu nennen - was Privatisierungen angeht, so hat Jospin mehr
privatisiert als seine zwei oder drei rechten Vorgängerregierungen zusammen.
Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Sozialdemokratie in den letzten Jahren? Folgt sie ihren Wählern, oder treibt sie sie vor sich
her?
Es gibt eine Evolution in der Arbeiterbewegung, im politischen Apparat. Er
geht nach rechts, die Sozialdemokraten werden zu Liberalen, die ehemaligen Stalinisten zu Sozialdemokraten. Es gibt eine Gesamtbewegung
nach rechts, die mit mehreren Faktoren zusammenhängt. Ich glaube aber nicht, dass es die Bevölkerung ist, denn die Leute
hängen doch stark von dem ab, was die politischen Parteien anbieten.
Zunächst ist da das mächtige Phänomen, dass Parteien,
die seit langem in den bürgerlichen Institutionen vertreten sind, sich in denen irgendwann wiedererkennen. Wenn es kein Gegengewicht zu
den bürokratischen, nichtdemokratischen Parteien gibt, innerhalb derer es keine reellen Möglichkeiten zum Protest gibt, dann
integrieren die sich vollständig in die Institutionen. Die Sozialdemokratie ist nach ihren Anfängen sehr schnell zu einer Wahlpartei
geworden, die die sozialen Kämpfe aufgegeben hat. Die Verbindung mit der Arbeiterklasse hat sich auf die
Gewerkschaftsbürokratie und mehr und mehr auf die Wahlen beschränkt, der Bruch ist gewachsen. In einem Moment, wo es einen
kleinen ökonomischen Aufschwung und links von der Sozialdemokratie gleichzeitig keine alternative Perspektive mehr gibt, da kommt es
plötzlich zur Verinnerlichung "maßvoller Forderungen" durch die Arbeiterklasse.
Welche Beziehungen haben Sie im Europaparlament zur PDS?
Da haben wir alles - ehemalige Parteifunktionäre, sehr junge Leute,
die nie Erfahrungen mit der Arbeiterbewegung gemacht haben, oder ehemalige Bürokraten, die Unternehmenschefs geworden sind. Die
haben in ihrem Kopf manchmal eine Mischung aus Klassenkampfdiskurs und vollständigem Unverständnis dafür, wie man so
heftig die Arbeitgeber angreifen kann. Es gibt wirklich alle Traditionen, komplett unterschiedliche politische Geschichten. Aber wir schaffen es
trotzdem bei bestimmten Abstimmungen gemeinsam zu stimmen.
Ihr Mandat läuft noch einige Jahre. Was sind Ihre politischen Ziele im Europaparlament?
Im Parlament geht es darum, so wenig Zeit wie möglich zu verlieren.
Wir wollen die fünf Jahre des Mandats nutzen, um auf französischer und europäischer Ebene zu mobilisieren und
Verbindungen zwischen den Teilen der antikapitalistischen, antirassistischen Bewegung in Europa herzustellen. Wir werden viel reisen, viele
Kongresse besuchen, Leute empfangen, und die finanziellen und infrastrukturellen Vorteile des Mandats in den Dienst letztlich aller politischen,
gewerkschaftlichen und sozialen Kräfte stellen, die gegen den Kapitalismus kämpfen. Wenn wir Leute finden, die das mit uns
machen wollen, dann ist das perfekt.