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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.6 vom 16.03.2000, Seite 3

‘Dieses Parlament kann nicht demokratisiert werden‘

Interview mit Alain Krivine

Das folgende Gespräch führte das Internet-Magazin Ornament & Verbrechen mit Alain Krivine, dem Sprecher der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), der französischen Sektion der IV.Internationale. Krivine ist zusammen mit einer Genossin der LCR und drei Genossinnen der ebenfalls trotzkistischen Organisation Lutte Ouvrière (LO - Arbeiterkampf) Abgeordneter im Europaparlament.

Seit ungefähr sechs Monaten sind Sie Abgeordneter des Europaparlaments. Viele der Listenführer aus dem Wahlkampf haben ihre Mandate mittlerweile wieder aufgegeben. Andere Abgeordnete sind so gut wie nie anwesend. Aber - nach allem was man in den Zeitungen liest - sind Sie fast immer da. Ist die Arbeit im Europaparlament so spannend?
Alain Krivine: Es gibt zwei Gründe, warum wir zusammen mit Arlette Laguiller [LO] so häufig dort sind. Erstens hat man den Spitzenpolitikern häufig vorgeworfen, Versprechen zu machen und sie dann nicht einzuhalten. Alle haben versprochen, dort zu bleiben, und heute verlassen sie dieses Parlament, da sie nicht mehrere Mandate gleichzeitig ausüben dürfen. Was uns angeht, so haben wir die Leute um ein Mandat gebeten, sie haben es uns gegeben, und jetzt gehen wir hin, denn sonst hätten wir gar nicht erst darum gebeten.
Wenn man dann da ist, dann können keine Illusionen zerstört werden, die man nicht hatte, selbst wenn es teilweise wirklich Zeitverschwendung ist. Die Funktionsweise dieser Institution ist so, dass man sich vollständig gelähmt fühlt. Man hat vor allem den Eindruck, dass dort viel Zeit und Geld verschwendet wird.

Da zwängt sich die Frage auf, was denn der Wahlkampfslogan von LCR und LO für die Europawahlen wert war: "Für ein vereinigtes, demokratisches und sozialistisches Europa." Hat sich mit Hilfe der LCR und von LO die Situation im Europaparlament, oder gar in Europa schon gebessert?
Dieses Parlament ist noch weiter von der Zivilgesellschaft entfernt als andere Institutionen und vollständig abgeschnitten von seinen Wählern. Schon da wird die Demokratie negiert, denn man ist nicht so nah wie möglich bei den Wählern, sondern so weit wie möglich von ihnen entfernt. Und der Atem der sozialen Bewegung kann nicht nur wegen der Funktionsweise, sondern auch wegen der Distanz nur zehnfach geringer sein als in einem nationalen Parlament. Man kann für eine Demokratisierung kämpfen, etwas tun, allerdings glaube ich persönlich absolut nicht daran, dass man dieses Parlament in eine demokratische Institution verwandeln könnte. Man muss andere Institutionen finden, was aber mit der Politik insgesamt zusammenhängt.
Was wir jedoch auf jeden Fall tun können, ist unser Mandat zur Unterstützung der sozialen Bewegungen zu nutzen. Wir haben die Sans papiers ins Parlament gebracht und die Arbeiter von Michelin, und wir haben die Euromärsche gegen die Erwerbslosigkeit empfangen. Wir haben die Konzeption, die Verbindung zwischen der Straße und dem Parlament, dem Parlament und der Straße zu sein, auch wenn das eine noch mehr Gewicht hat als das andere.

In Frankreich sind LCR und LO in der politischen Landschaft ein wenig isoliert. Sie haben ziemlich enge Verbindungen mit den verschiedenen sozialen Bewegungen, aber nicht mit anderen Parteien. Haben Sie im Europaparlament politische Parteien gefunden, die Ihren Positionen nahestehen?
Nein. Da gibt es so ein Charakteristikum von Parlamenten: Auf diesen isolierten Planeten herrscht eine Atmosphäre des Konsenses. Die Leute leben in einer geschlossenen Welt von Politprofis. Und der nur geringe Unterschied zwischen links und rechts, den es auf nationaler Ebene gibt, ist im Europaparlament vollständig bereinigt.
Da wir aber in einer Parlamentsgruppe sein müssen, um ein wenig effizient zu sein, sind wir der Gruppe der "Vereinigten Linken" beigetreten, zu der auch die PDS gehört. Politisch ist die Gruppe immerhin die am wenigsten entfernte. Auch wenn sie vollständig heterogen ist, so gibt es doch einige uns nahestehende Strömungen. In der Gruppe koexistieren wirklich antikapitalistische Leute mit - ich würde sagen - nicht mal Sozialdemokraten, sondern Liberalen.
Beim Kosovo-Krieg saßen in der gleichen Gruppe Leute, die mit ihrem "Genossen Milosevic" litten, und Anhänger der NATO-Intervention. Trotzdem schaffen wir es manchmal, gemeinsame Dinge zu machen.
Unsere Konzeption ist es, innerhalb der Gruppe zu kämpfen, selbst wenn es häufig nicht viel nützt. Aber immerhin ermöglicht es, die Meinungsverschiedenheiten klarzumachen oder an bestimmten Punkten unsere Freunde und uns Nahestehende wiederzufinden. Wir versuchen zu jedem Thema Leute zu finden. Dadurch schaffen wir es, für jede Kampagne, Petition oder Abstimmung eine kleine Minderheit der Sozialdemokraten, vor allem der französischen, und zudem einen Teil der Grünen mitzuziehen.

In einem Artikel, der vor kurzem in der französischen Tageszeitung Le Monde erschienen ist, haben Sie ein wenig die Funktionsweise des Europaparlaments beschrieben und unter anderem erklärt, dass sich die zwei großen Blöcke - die Sozialdemokraten und die Rechte - vor den Abstimmungen über ihr Abstimmungsverhalten abstimmen. Gibt es noch Unterschiede zwischen den zwei großen Blöcken oder gibt es keine Divergenzen mehr?
Wenn man während einer Debatte - wenn es eine Debatte gibt - die Augen schließen würde, dann könnte man fast keinen Unterschied mehr feststellen. Nur was einige, sehr begrenzte Probleme angeht, etwa die Menschenrechte, da haben die Sozialdemokraten manchmal den ein klein wenig sozialeren Diskurs. Aber ehrlich gesagt, man entdeckt fast keinen Unterschied mehr. Hinzu kommt in den meisten sozialdemokratischen Fraktionen, dass, wenn es noch eine Linke gibt, diese abwesend ist, oder aber es handelt sich um Einzelpersonen.

In Europa spricht man derzeit viel von den großen sozialdemokratischen Strömungen und ihren unterschiedlichen Konzeptionen, hier Schröder und Blair, dort Jospin. Sieht man im Europaparlament Unterschiede zwischen sozialdemokratischen Abgeordneten aus verschiedenen Ländern?
Sehr wenig. Das ist aber logisch, denn das Europaparlament hat ein Interesse daran, nur große Ideen erscheinen zu lassen, nicht die Details. Da ich davon überzeugt bin, dass das, was Schröder und Blair von Jospin unterscheidet, nur ein Problem des unterschiedlichen Kräfteverhältnisses zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie ist, führt dies dazu, dass die französischen Sozialdemokraten, um eine Politik der liberalen Begleitung zu machen, erstens gezwungen sind einen linkeren Diskurs zu benutzen als Blair und Schröder, und sie zweitens, um die gleichen Maßnahmen zu ergreifen, diese etwas in der Zeit strecken müssen, um so weniger zu schockieren.

In der deutschen Linken besteht die Tendenz in Jospin, im Gegensatz zu Blair und Schröder, den letzten Großkrieger gegen den Neoliberalismus zu sehen.
Wenn die "deutsche Linke" das teilweise glaubt, dann täuscht sie sich. Dann wird sie zum Opfer der Liebenswürdigkeit der französischen Sozialdemokraten. Anders als Schröder benutzen sie zur Umsetzung neoliberaler Politik soziale Etiketten. Mit der 35-Stunden-Woche erfüllen sie eine Forderung der Arbeiterlinken, der Gewerkschaftslinken in der ganzen Welt, doch wenn man die Umsetzung dieses Gesetzes sieht, dann ist das wirklich ein Freifahrtschein für die Arbeitgeber. Im Gegensatz zu Schröder und Blair wird von Jospin alles links angekündigt, und der Ankündigungseffekt besteht dann darin, dass bei den Leuten, die die detaillierte Umsetzung der Gesetze nicht mehr verfolgen, der Eindruck entsteht, es handele sich um linke Politik. Doch - um noch ein Bespiel zu nennen - was Privatisierungen angeht, so hat Jospin mehr privatisiert als seine zwei oder drei rechten Vorgängerregierungen zusammen.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Sozialdemokratie in den letzten Jahren? Folgt sie ihren Wählern, oder treibt sie sie vor sich her?
Es gibt eine Evolution in der Arbeiterbewegung, im politischen Apparat. Er geht nach rechts, die Sozialdemokraten werden zu Liberalen, die ehemaligen Stalinisten zu Sozialdemokraten. Es gibt eine Gesamtbewegung nach rechts, die mit mehreren Faktoren zusammenhängt. Ich glaube aber nicht, dass es die Bevölkerung ist, denn die Leute hängen doch stark von dem ab, was die politischen Parteien anbieten.
Zunächst ist da das mächtige Phänomen, dass Parteien, die seit langem in den bürgerlichen Institutionen vertreten sind, sich in denen irgendwann wiedererkennen. Wenn es kein Gegengewicht zu den bürokratischen, nichtdemokratischen Parteien gibt, innerhalb derer es keine reellen Möglichkeiten zum Protest gibt, dann integrieren die sich vollständig in die Institutionen. Die Sozialdemokratie ist nach ihren Anfängen sehr schnell zu einer Wahlpartei geworden, die die sozialen Kämpfe aufgegeben hat. Die Verbindung mit der Arbeiterklasse hat sich auf die Gewerkschaftsbürokratie und mehr und mehr auf die Wahlen beschränkt, der Bruch ist gewachsen. In einem Moment, wo es einen kleinen ökonomischen Aufschwung und links von der Sozialdemokratie gleichzeitig keine alternative Perspektive mehr gibt, da kommt es plötzlich zur Verinnerlichung "maßvoller Forderungen" durch die Arbeiterklasse.

Welche Beziehungen haben Sie im Europaparlament zur PDS?
Da haben wir alles - ehemalige Parteifunktionäre, sehr junge Leute, die nie Erfahrungen mit der Arbeiterbewegung gemacht haben, oder ehemalige Bürokraten, die Unternehmenschefs geworden sind. Die haben in ihrem Kopf manchmal eine Mischung aus Klassenkampfdiskurs und vollständigem Unverständnis dafür, wie man so heftig die Arbeitgeber angreifen kann. Es gibt wirklich alle Traditionen, komplett unterschiedliche politische Geschichten. Aber wir schaffen es trotzdem bei bestimmten Abstimmungen gemeinsam zu stimmen.

Ihr Mandat läuft noch einige Jahre. Was sind Ihre politischen Ziele im Europaparlament?
Im Parlament geht es darum, so wenig Zeit wie möglich zu verlieren. Wir wollen die fünf Jahre des Mandats nutzen, um auf französischer und europäischer Ebene zu mobilisieren und Verbindungen zwischen den Teilen der antikapitalistischen, antirassistischen Bewegung in Europa herzustellen. Wir werden viel reisen, viele Kongresse besuchen, Leute empfangen, und die finanziellen und infrastrukturellen Vorteile des Mandats in den Dienst letztlich aller politischen, gewerkschaftlichen und sozialen Kräfte stellen, die gegen den Kapitalismus kämpfen. Wenn wir Leute finden, die das mit uns machen wollen, dann ist das perfekt.

Der vollständige Text des von der Redaktion gekürzten Interviews ist im Internet unter <www.ornament-und-verbrechen.de> zu finden.



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