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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.8 vom 14.03.2000, Seite 3

PDS

Drachentöter Gysi gegen die ‘dogmatische Linke‘

Ende Januar, gut drei Monate vor dem Parteitag in Münster, sah sich der PDS-Vorstand durch Kritik in und außerhalb der Mitgliedschaft an den Programmthesen vom 19.11.1999 veranlasst, Verständnis für "Ängste vor unzureichend geprüften Entscheidungen" zu bekunden. Er vertagte die für 2001 geplante Annahme eines neuen Programms und setzte der Diskussion zum Ziel, das Profil der PDS als demokratisch-sozialistische Antikriegspartei zu schärfen, deren Kritik am Kapitalismus auf eine sozial gerechte Gesellschaft gerichtet ist. Vielfalt innerhalb der Partei solle nicht eingeengt, sondern produktiv gemacht werden.
Einen Monat später trat Bundestags-Fraktionsvorsitzender Gregor Gysi mit z.T. entgegengesetzten Forderungen hervor. In einem Interview mit der Berliner Zeitung vom 8.Februar 2000 verlangte er, dass sich die Partei "rechtzeitig vor dem nächsten Wahlkampf politisch ausrichtet". Sie müsse einen deutlichen Trennungsstrich gegenüber "dogmatischen Linken" ziehen. Er definierte diese als avantgardistisch gesinnte Gruppen, denen es nur um Machteroberung und -sicherung gehe und die "in der Geschichte einen großen Beitrag zur Desavouierung sozialistischer Ideale geleistet" hätten.
Auf die Frage, ob der Trennungsstrich auch gegenüber "linken Dogmatikern" in der eigenen Partei gelte, antwortete der Fraktionschef: "Ich bin gegen Säuberungen oder Parteiausschlüsse. Entscheidend ist … was sich durchsetzt. Es darf aber keine programmatischen Formelkompromisse mehr geben. Wenn es einzelne dogmatische Linke in der PDS gibt, müssen sie spüren, dass das Programm gegen sie steht." An anderer Stelle im gleichen Interview sagte er, einige in der Partei neigten dazu, "sich als Fremdkörper zu kultivieren. Ein Fremdkörper wird bekanntlich isoliert und abgestoßen."
Darüber, ob auch jene "Formelkompromisse" beendet werden sollen, die sich auf die weltanschauliche Grundhaltung der PDS und die Stellung zum Eigentum an den Produktionsmitteln beziehen, ließ sich Drachentöter Gysi nicht aus. Falls ja, wäre daran zu erinnern, dass im geltenden Programm nicht Dogmen festgeschrieben, sondern Tatbestände und sozialistische Erfordernisse konstatiert wurden.
Der Streit um das Interview war relativ heftig. In einem Brief vom 6.März an die Parteitagsdelegierten spezifizierte Gysi seine Ansichten. Nacheinander ging er auf den Umgang mit Geschichte, die Position zu UNO-Militäreinsätzen, eine eventuelle Regierungsbeteiligung der PDS, die Programmdebatte, das Verhältnis zur "dogmatischen Linken", das zur Kommunistischen Plattform (KPF) und die Statutenfrage ein.
Die Feststellungen zur Geschichte treffen zu. Der "real existierende Sozialismus" scheiterte tatsächlich daran, dass zu viele ihn trotz sozialer Leistungen nicht mehr wollten. "Der Kapitalismus beweist die Berechtigung des Versuches einer Alternative, er rechtfertigt aber nicht die Art und Weise der Gestaltung der gescheiterten Alternative."
Richtig sind auch Gysis Erinnerungen an die Gründerzeit der KPF 1989/90. Sie wollte damals wirklich den unter Stalin ermordeten Kommunisten "ein Denkmal setzen, die Befreiungsansätze aus der kommunistischen Ideologie bewahren und sich … mit den Fehlentwicklungen, Irrtümern und auch Verbrechen auseinandersetzen … Zunächst sah es auch so aus…" Dass dies zutrifft, geht aus einer KPF-Broschüre vom April 1990 hervor, in der es heißt, die Plattform bekenne sich "zum geistigen Erbe von Karl Marx und Friedrich Engels, von Rosa Luxemburg und August Thalheimer, zu den Kampferfahrungen der Bolschewiki und zu den modernen Konzeptionen anderer kommunistischer Parteien. Sie steht zu den theoretischen Erkenntnissen von W. I. Lenin und N. I. Bucharin. Dabei sehen wir in N. I. Bucharin und seinen Auffassungen eine reale historische Alternative zum Stalinismus ... Wir sind auch bereit, uns mit den Ideen und Vorstellungen von Leo Trotzki u. a. kritisch auseinanderzusetzen. Wir wenden uns aber entschieden gegen die Verfälschungen von Lenins Gesellschaftskonzeption durch J. W. Stalin." Später wurden die ersten Plattform-Vertreter durch andere verdrängt, die Stalins Kurs als allein möglichen ansahen und behaupteten, die hingemordeten sowjetischen Kommunisten seien alternativlos gewesen.
Einige Äußerungen Gysis über die KPF sind falsch. Sie hat bisweilen durchaus Politikvorschläge unterbreitet und gebärdete sich nicht nur als "ideologische Wächterin". Auch ist es entgegen seiner Meinung legitim, die Haltung eigener Parteioberer zum CDU-Spendenskandal zu missbilligen. So, als der parlamentarische Geschäftsführer Roland Claus den Skandal zum Anlass nahm, der Union gemeinsame Schadensbegrenzung anzubieten, statt deren Affären zur Aufklärung der Massen zu nutzen.
Grotesk mutet Gysis Drohung an, bei permanenter ideologischer Kontrolle "über diejenigen, die von früh bis spät Politik für die PDS machen", könnten letztere "eines Tages lustlos werden, und das könnte zu einem nicht unerheblichen Substanzverlust für die Partei führen." Sollen dadurch "Dogmatiker" beeindruckt werden?
Der Fraktionsvorsitzende beteuert wiederum, die "dogmatische Linke" nicht hinausdrängen zu wollen. Sie diskreditiere sozialistische Vorstellungen, indem sie den Menschen Angst mache. "Sie will sie zu ihrem Glück zwingen, über sie herrschen und neigt dazu, jeden auszugrenzen, der den eigenen Vorstellungen nicht entspricht." Das Verhalten manches Pseudolinken ist richtig erfasst. Es fragt sich aber, warum Gysi nicht auf den Grundkonsens der PDS von Ende 1989 zurückkommt, sich vom "Stalinismus als System" zu lösen. Das Dogmatische ist nur ein Teil davon. Mit dem Anklagepunkt Personenkult gehörte der Punkt Dogmatismus zum Versuch der Parteikommunisten, mit dem Stalinismus auf leichte Art fertig zu werden. Das alleinige Geltendmachen dieser beiden Punkte ist geeignet, das Problem zu verharmlosen. Bemerkenswert, dass nun auch Gysi vom Stalinismusbegriff abrückt.
Weiterhin bleibt die Frage bestehen, warum Gysi sich in seinem Interview "nicht gleichermaßen scharf von Rechten und Rechtsextremen distanziert" habe. Er meint, das sei "kein Problem in der PDS. Diesbezüglich sind wir nicht anfällig." Diese Sicht der Dinge ist falsch. Hat es keine Vorsitzende einer PDS- Stadtorganisation gegeben, die mit dem örtlichen Neonaziführer verhandelte? Gab es keinen Oberbürgermeister, der rechtsextreme Exzesse gegen Asylbewerber rechtfertigte, keinen Berliner Bezirksbürgermeister, der den Antifaschisten einen bevorstehenden Naziaufmarsch verschwieg, worauf der ungestört stattfinden konnte, keine PDS-Funktionäre, die an Bundeswehrspektakeln teilnahmen? Der Fraktionsvorsitzende kennt die Vorgänge. Er muss auch wissen, dass das Totschweigen und Tolerieren Rechtsextremer ihnen Auftrieb verschafft.
Über die Haltung zu bewaffneten UNO-Aktionen, die nach Meinung der Mehrheit in Vorstand und Fraktion vor einer Zustimmung oder Ablehnung erst geprüft werden müssen, äußert sich der Briefautor ausführlich. Neu ist, dass er sich hierbei auf Lenin beruft, "der immer verlangt hat, vor einer politischen Meinungsbildung oder einer politischen Forderung eine konkrete Analyse vorzunehmen". Eben das tat aber die Mehrheit nicht. Sie hätte sonst darauf kommen müssen, dass heute, da die ganze Welt kapitalistischen Zwängen ausgeliefert ist, die UNO nichts anderes tut und tun kann, als Angriffskriege von USA und NATO hinzunehmen. Selbstverständlich müssen Verletzungen ihrer Charta angeprangert und eine demokratische Reform der UNO verlangt werden, aber nicht in der naiven Hoffnung, dadurch allein etwas ausrichten zu können. Ein "Politikverbot" stellt das Nein zu Militäreinsätzen der Vereinten Nationen nicht dar. Es ist ein Gebot für antimilitaristische und pazifistische Politik heute.
Gysis Aussagen zu Problemen der Regierungsbildung und Änderungen im Parteistatut sind weniger belangvoll. Das Streben nach Regierungsbeteiligung ist grundsätzlich legitim. Doch muss gefragt werden, ob es unter den Gegebenheiten einer nahezu geschlossenen informellen Koalition von Rechtskonservativ bis Blassrosa Sinn macht. Der sozialistische Regierungspartner muss zudem bereit sein, die Brocken hinzuwerfen, wenn er sonst das eigene Programm verletzen und Wahlzusagen brechen müsste. Änderungen des Statuts dürfen nicht dazu dienen, die PDS in die systemtreue politische Kaste zu integrieren.
Das Erfordernis eines neuen Grundsatzprogramms motiviert Gysi damit, dass "neue Fragen herangereift" seien. Es gehe um Alternativen "im Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit, für mehr soziale Gerechtigkeit, für eine Zukunft ohne Kriege, für den notwendigen ökologischen Umbau, für die Entwicklung in Ost und West, für eine wirkliche Gleichstellung der Frauen, für die Beendigung der Umverteilung von unten nach oben, usw." Hier brauche es Vorschläge, damit sozialistische Positionen bei den Wählern eine Chance haben. So weit, so gut. Doch enthält bereits das gültige Parteiprogramm von 1993 Anregungen in dieser Richtung. Die genannten"Alternativen" ließen sich besser in Aktionsprogrammen darlegen.
Am Schluss des Gysi-Briefes taucht die der "dogmatischen Linken" zugeschriebene Eigenschaft, Fremdkörper zu sein, als für die ganze Partei möglich auf: "Wir stehen vor der Frage, ob wir uns den Realitäten des Lebens in Deutschland und Europa stellen oder uns in einer Art und Weise ideologisieren wollen, dass wir uns eine eigene Scheinrealität schaffen, die uns zum Fremdkörper werden lässt. Ein Fremdkörper kann die Gesellschaft nicht verändern, er wird abgestoßen und kann bestenfalls ein Sektendasein führen. Das aber hat unsere Partei nicht verdient." Da Fremdkörper keineswegs immer abgestoßen werden und oft großen Schaden anrichteten, ist das Bild schief. Übrigens sehen die Herrschenden im kapitalistischen Staat, zumal in Deutschland, sozialistische und kommunistische Parteien oder Gruppen stets als fremde Störenfriede an.
Gysis Darlegungen bergen Unklarheiten und Fehler. Sie bedürfen sachlicher Widerlegung. Ungeeignet ist eine Sammlung von Verbalinjurien wie die, mit der Gerhard Branstner in der jungen Welt brillierte. Er stellte u. a. fest, dass dem "realen Sozialismus" verhaftete "Altgläubige" wie Kurt Gossweiler und revisionistische Kriecher "in den Arsch des Kapitalismus" in allen sozialistischen Parteien je 50% ausmachten, wozu noch "wirkliche Sozialisten" kämen, und vollbrachte so auch eine mathematische Glanzleistung.
Gleichermaßen ungeeignet ist das Unternehmen Eberhard Czichons in der jungen Welt, Gysi durch Geschichtsklitterung eins auszuwischen. Der von ihm behauptete "skurrile Parteiputsch" gegen die Führung beispielsweise ist an den Demonstrationen der Basis vom 8. und 10.November 1989, mit denen der Kampf für einen Außerordentlichen Parteitag begann, und an den folgenden Ereignissen nicht erkennbar. Nicht Gysi, sondern Ministerpräsident Modrow hat das Konzept "Für Deutschland, einig Vaterland" inauguriert. Obwohl es falsch war, geriet die DDR keineswegs dadurch, sondern durch die plötzliche Grenzöffnung am 9.November ins Aus. Die aber war kein Werk der bösen "Gorbatschowisten", sondern das von Krenz & Co.

Manfred Behrend


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