Sozialistische Zeitung |
Ende Januar, gut drei Monate vor dem Parteitag in Münster, sah sich der PDS-Vorstand durch Kritik in
und außerhalb der Mitgliedschaft an den Programmthesen vom 19.11.1999 veranlasst, Verständnis für "Ängste
vor unzureichend geprüften Entscheidungen" zu bekunden. Er vertagte die für 2001 geplante Annahme eines neuen Programms
und setzte der Diskussion zum Ziel, das Profil der PDS als demokratisch-sozialistische Antikriegspartei zu schärfen, deren Kritik am
Kapitalismus auf eine sozial gerechte Gesellschaft gerichtet ist. Vielfalt innerhalb der Partei solle nicht eingeengt, sondern produktiv gemacht
werden.
Einen Monat später trat Bundestags-Fraktionsvorsitzender Gregor
Gysi mit z.T. entgegengesetzten Forderungen hervor. In einem Interview mit der Berliner Zeitung vom 8.Februar 2000 verlangte er, dass sich
die Partei "rechtzeitig vor dem nächsten Wahlkampf politisch ausrichtet". Sie müsse einen deutlichen Trennungsstrich
gegenüber "dogmatischen Linken" ziehen. Er definierte diese als avantgardistisch gesinnte Gruppen, denen es nur um
Machteroberung und -sicherung gehe und die "in der Geschichte einen großen Beitrag zur Desavouierung sozialistischer Ideale
geleistet" hätten.
Auf die Frage, ob der Trennungsstrich auch gegenüber "linken
Dogmatikern" in der eigenen Partei gelte, antwortete der Fraktionschef: "Ich bin gegen Säuberungen oder
Parteiausschlüsse. Entscheidend ist … was sich durchsetzt. Es darf aber keine programmatischen Formelkompromisse mehr geben. Wenn
es einzelne dogmatische Linke in der PDS gibt, müssen sie spüren, dass das Programm gegen sie steht." An anderer Stelle im
gleichen Interview sagte er, einige in der Partei neigten dazu, "sich als Fremdkörper zu kultivieren. Ein Fremdkörper wird
bekanntlich isoliert und abgestoßen."
Darüber, ob auch jene "Formelkompromisse" beendet
werden sollen, die sich auf die weltanschauliche Grundhaltung der PDS und die Stellung zum Eigentum an den Produktionsmitteln beziehen,
ließ sich Drachentöter Gysi nicht aus. Falls ja, wäre daran zu erinnern, dass im geltenden Programm nicht Dogmen
festgeschrieben, sondern Tatbestände und sozialistische Erfordernisse konstatiert wurden.
Der Streit um das Interview war relativ heftig. In einem Brief vom
6.März an die Parteitagsdelegierten spezifizierte Gysi seine Ansichten. Nacheinander ging er auf den Umgang mit Geschichte, die
Position zu UNO-Militäreinsätzen, eine eventuelle Regierungsbeteiligung der PDS, die Programmdebatte, das Verhältnis zur
"dogmatischen Linken", das zur Kommunistischen Plattform (KPF) und die Statutenfrage ein.
Die Feststellungen zur Geschichte treffen zu. Der "real existierende
Sozialismus" scheiterte tatsächlich daran, dass zu viele ihn trotz sozialer Leistungen nicht mehr wollten. "Der Kapitalismus
beweist die Berechtigung des Versuches einer Alternative, er rechtfertigt aber nicht die Art und Weise der Gestaltung der gescheiterten
Alternative."
Richtig sind auch Gysis Erinnerungen an die Gründerzeit der KPF
1989/90. Sie wollte damals wirklich den unter Stalin ermordeten Kommunisten "ein Denkmal setzen, die Befreiungsansätze aus der
kommunistischen Ideologie bewahren und sich … mit den Fehlentwicklungen, Irrtümern und auch Verbrechen auseinandersetzen …
Zunächst sah es auch so aus…" Dass dies zutrifft, geht aus einer KPF-Broschüre vom April 1990 hervor, in der es
heißt, die Plattform bekenne sich "zum geistigen Erbe von Karl Marx und Friedrich Engels, von Rosa Luxemburg und August
Thalheimer, zu den Kampferfahrungen der Bolschewiki und zu den modernen Konzeptionen anderer kommunistischer Parteien. Sie steht zu den
theoretischen Erkenntnissen von W. I. Lenin und N. I. Bucharin. Dabei sehen wir in N. I. Bucharin und seinen Auffassungen eine reale
historische Alternative zum Stalinismus ... Wir sind auch bereit, uns mit den Ideen und Vorstellungen von Leo Trotzki u. a. kritisch
auseinanderzusetzen. Wir wenden uns aber entschieden gegen die Verfälschungen von Lenins Gesellschaftskonzeption durch J. W.
Stalin." Später wurden die ersten Plattform-Vertreter durch andere verdrängt, die Stalins Kurs als allein möglichen
ansahen und behaupteten, die hingemordeten sowjetischen Kommunisten seien alternativlos gewesen.
Einige Äußerungen Gysis über die KPF sind falsch. Sie
hat bisweilen durchaus Politikvorschläge unterbreitet und gebärdete sich nicht nur als "ideologische Wächterin".
Auch ist es entgegen seiner Meinung legitim, die Haltung eigener Parteioberer zum CDU-Spendenskandal zu missbilligen. So, als der
parlamentarische Geschäftsführer Roland Claus den Skandal zum Anlass nahm, der Union gemeinsame Schadensbegrenzung
anzubieten, statt deren Affären zur Aufklärung der Massen zu nutzen.
Grotesk mutet Gysis Drohung an, bei permanenter ideologischer Kontrolle
"über diejenigen, die von früh bis spät Politik für die PDS machen", könnten letztere "eines
Tages lustlos werden, und das könnte zu einem nicht unerheblichen Substanzverlust für die Partei führen." Sollen
dadurch "Dogmatiker" beeindruckt werden?
Der Fraktionsvorsitzende beteuert wiederum, die "dogmatische
Linke" nicht hinausdrängen zu wollen. Sie diskreditiere sozialistische Vorstellungen, indem sie den Menschen Angst mache.
"Sie will sie zu ihrem Glück zwingen, über sie herrschen und neigt dazu, jeden auszugrenzen, der den eigenen Vorstellungen
nicht entspricht." Das Verhalten manches Pseudolinken ist richtig erfasst. Es fragt sich aber, warum Gysi nicht auf den Grundkonsens der
PDS von Ende 1989 zurückkommt, sich vom "Stalinismus als System" zu lösen. Das Dogmatische ist nur ein Teil
davon. Mit dem Anklagepunkt Personenkult gehörte der Punkt Dogmatismus zum Versuch der Parteikommunisten, mit dem Stalinismus auf
leichte Art fertig zu werden. Das alleinige Geltendmachen dieser beiden Punkte ist geeignet, das Problem zu verharmlosen. Bemerkenswert,
dass nun auch Gysi vom Stalinismusbegriff abrückt.
Weiterhin bleibt die Frage bestehen, warum Gysi sich in seinem Interview
"nicht gleichermaßen scharf von Rechten und Rechtsextremen distanziert" habe. Er meint, das sei "kein Problem in der
PDS. Diesbezüglich sind wir nicht anfällig." Diese Sicht der Dinge ist falsch. Hat es keine Vorsitzende einer PDS-
Stadtorganisation gegeben, die mit dem örtlichen Neonaziführer verhandelte? Gab es keinen Oberbürgermeister, der
rechtsextreme Exzesse gegen Asylbewerber rechtfertigte, keinen Berliner Bezirksbürgermeister, der den Antifaschisten einen
bevorstehenden Naziaufmarsch verschwieg, worauf der ungestört stattfinden konnte, keine PDS-Funktionäre, die an
Bundeswehrspektakeln teilnahmen? Der Fraktionsvorsitzende kennt die Vorgänge. Er muss auch wissen, dass das Totschweigen und
Tolerieren Rechtsextremer ihnen Auftrieb verschafft.
Über die Haltung zu bewaffneten UNO-Aktionen, die nach Meinung
der Mehrheit in Vorstand und Fraktion vor einer Zustimmung oder Ablehnung erst geprüft werden müssen, äußert sich
der Briefautor ausführlich. Neu ist, dass er sich hierbei auf Lenin beruft, "der immer verlangt hat, vor einer politischen
Meinungsbildung oder einer politischen Forderung eine konkrete Analyse vorzunehmen". Eben das tat aber die Mehrheit nicht. Sie
hätte sonst darauf kommen müssen, dass heute, da die ganze Welt kapitalistischen Zwängen ausgeliefert ist, die UNO nichts
anderes tut und tun kann, als Angriffskriege von USA und NATO hinzunehmen. Selbstverständlich müssen Verletzungen ihrer
Charta angeprangert und eine demokratische Reform der UNO verlangt werden, aber nicht in der naiven Hoffnung, dadurch allein etwas
ausrichten zu können. Ein "Politikverbot" stellt das Nein zu Militäreinsätzen der Vereinten Nationen nicht dar. Es
ist ein Gebot für antimilitaristische und pazifistische Politik heute.
Gysis Aussagen zu Problemen der Regierungsbildung und
Änderungen im Parteistatut sind weniger belangvoll. Das Streben nach Regierungsbeteiligung ist grundsätzlich legitim. Doch muss
gefragt werden, ob es unter den Gegebenheiten einer nahezu geschlossenen informellen Koalition von Rechtskonservativ bis Blassrosa Sinn
macht. Der sozialistische Regierungspartner muss zudem bereit sein, die Brocken hinzuwerfen, wenn er sonst das eigene Programm verletzen
und Wahlzusagen brechen müsste. Änderungen des Statuts dürfen nicht dazu dienen, die PDS in die systemtreue politische
Kaste zu integrieren.
Das Erfordernis eines neuen Grundsatzprogramms motiviert Gysi damit,
dass "neue Fragen herangereift" seien. Es gehe um Alternativen "im Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit, für mehr
soziale Gerechtigkeit, für eine Zukunft ohne Kriege, für den notwendigen ökologischen Umbau, für die Entwicklung in
Ost und West, für eine wirkliche Gleichstellung der Frauen, für die Beendigung der Umverteilung von unten nach oben, usw."
Hier brauche es Vorschläge, damit sozialistische Positionen bei den Wählern eine Chance haben. So weit, so gut. Doch
enthält bereits das gültige Parteiprogramm von 1993 Anregungen in dieser Richtung. Die genannten"Alternativen"
ließen sich besser in Aktionsprogrammen darlegen.
Am Schluss des Gysi-Briefes taucht die der "dogmatischen
Linken" zugeschriebene Eigenschaft, Fremdkörper zu sein, als für die ganze Partei möglich auf: "Wir stehen vor
der Frage, ob wir uns den Realitäten des Lebens in Deutschland und Europa stellen oder uns in einer Art und Weise ideologisieren
wollen, dass wir uns eine eigene Scheinrealität schaffen, die uns zum Fremdkörper werden lässt. Ein Fremdkörper
kann die Gesellschaft nicht verändern, er wird abgestoßen und kann bestenfalls ein Sektendasein führen. Das aber hat unsere
Partei nicht verdient." Da Fremdkörper keineswegs immer abgestoßen werden und oft großen Schaden anrichteten, ist
das Bild schief. Übrigens sehen die Herrschenden im kapitalistischen Staat, zumal in Deutschland, sozialistische und kommunistische
Parteien oder Gruppen stets als fremde Störenfriede an.
Gysis Darlegungen bergen Unklarheiten und Fehler. Sie bedürfen
sachlicher Widerlegung. Ungeeignet ist eine Sammlung von Verbalinjurien wie die, mit der Gerhard Branstner in der jungen Welt brillierte. Er
stellte u. a. fest, dass dem "realen Sozialismus" verhaftete "Altgläubige" wie Kurt Gossweiler und
revisionistische Kriecher "in den Arsch des Kapitalismus" in allen sozialistischen Parteien je 50% ausmachten, wozu noch
"wirkliche Sozialisten" kämen, und vollbrachte so auch eine mathematische Glanzleistung.
Gleichermaßen ungeeignet ist das Unternehmen Eberhard Czichons in
der jungen Welt, Gysi durch Geschichtsklitterung eins auszuwischen. Der von ihm behauptete "skurrile Parteiputsch" gegen die
Führung beispielsweise ist an den Demonstrationen der Basis vom 8. und 10.November 1989, mit denen der Kampf für einen
Außerordentlichen Parteitag begann, und an den folgenden Ereignissen nicht erkennbar. Nicht Gysi, sondern Ministerpräsident
Modrow hat das Konzept "Für Deutschland, einig Vaterland" inauguriert. Obwohl es falsch war, geriet die DDR keineswegs
dadurch, sondern durch die plötzliche Grenzöffnung am 9.November ins Aus. Die aber war kein Werk der bösen
"Gorbatschowisten", sondern das von Krenz & Co.
Manfred Behrend