Sozialistische Zeitung |
Seit dem Scheitern der "Millenniumsrunde" in Seattle ist es vor allem in der deutschsprachigen
Presse verhältnismäßig ruhig um die Welthandelsorganisation (WTO) geworden. Nur Ende März haben die
gescheiterten WTO-Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und China kurzzeitig die Aufmerksamkeit erregt. Tatsächlich sind die
Protagonisten des Freihandels auf beiden Seiten des Atlantiks in der Öffentlichkeit etwas zurückhaltender als noch kurz vor der
gescheiterten Runde im November letzten Jahres. Doch hinter den Kulissen wird nicht nur fieberhaft debattiert, sondern die großen
Handelsmächte versuchen, entscheidende Weichen für die längst nicht abgeschriebene Verhandlungsrunde zu stellen. Die
Hürden, die sie dabei zu überwinden haben, bergen zum Teil erheblichen Sprengstoff. So sind im US-Kongress Stimmen
lautgeworden, die Mitgliedschaft in der WTO aufzukündigen.
Unterdessen bemüht sich das WTO-eigene Schiedsgericht, den
Anschein institutioneller Unabhängigkeit zu wahren. Vor allem viele Länder der Dritten Welt hatten in Seattle mehr als deutlich
gemacht, dass sie sich durch die WTO benachteiligt fühlen. Seitdem sprechen sich der WTO-Generaldirektor Mike Moore und zahlreiche
Handelsdiplomaten der Industrieländer für "vertrauensbildende Maßnahmen" aus.
Mitte März sprach das Schiedsgericht ein Urteil zugunsten Ecuadors
gegen die EU und schien damit den Kritikern aus dem Süden den Wind aus den Segeln zu nehmen. Seit drei Jahren bemühte sich
Ecuador um einen WTO-Schiedsspruch, denn der weltweit größte Exporteur von Bananen sah sich durch die EU-
Bananenmarktordnung, die ehemaligen Kolonien bei Importgeschäften günstigere Konditionen einräumt, benachteiligt.
Sanktionen mit einem Volumen von 201 Millionen Dollar jährlich
darf das lateinamerikanische Land nun im Warenverkehr, bei Dienstleistungen und geistigen Eigentumsrechten der EU auferlegen.
Ob dies tatsächlich geschieht, bleibt offen. Unmittelbar nach dem
Schiedsspruch erklärte ein EU-Kommissionsprecher, er hoffe darauf, dass Ecuador nicht zu Sanktionen greifen werde. Stattdessen solle
der Streit durch Verhandlungen gelöst werden.
Den Klägern und Beklagten steht es auch nach einem Schiedsspruch
frei, eine gütliche Einigung zu erzielen. Im Falle Ecuadors ist davon auszugehen, dass dies zur weitgehenden Aufweichung der Sanktionen
gegen die EU führen wird.
Bilaterale Türöffner
Wenn die Interessen der großen
Handelsmächte tangiert sind, ist die bilaterale Ebene auch bei den jüngsten Verhandlungen mit China und Indien das entscheidende
Feld, auf dem EU und USA ihre Handelsschlachten austragen.
Der WTO-Beitritt Chinas, dem mit 1,3 Milliarden Menschen
größten Markt der Welt, ist an bilaterale Handelsabkommen mit zahlreichen WTO-Ländern gebunden.
Nachdem die amerikanische Regierung China grünes Licht für
einen Beitritt gegeben hatte, der allerdings noch vor dem US-Kongress bestehen muss, ist EU-Handelskommissar Pascal Lamy Ende März
nach dem dritten Anlauf unverrichteter Dinge aus Peking abgereist. Neben "unzureichender" Zugeständnisse in den Bereichen
Lebensversicherungen, Banken und Telekommunikation wollte Lamy seinem Verhandlungspartner, dem chinesischen Aussenhandelsminister Shi
Guangsheng, die Möglichkeit von 51% Mehrheitsbeteiligungen ausländischer Investoren an Unternehmen in China abringen. Damit
übertraf die EU die Forderungen der US-Regierung, die sich mit weitaus weniger Prozenten zufrieden gegeben hatte.
"Insider", so das Handelsblatt, rechneten dennoch mit "einem WTO-Beitritt Chinas im kommenden Herbst".
Das nach der Bevölkerung zweitgrößte Land der Erde,
Indien, hat trotz seiner WTO-Mitgliedschaft strenge Importauflagen für zahlreiche Güter. Die indische Regierung kündigte
nun an, gegenüber den USA bis Mai die Auflagen für Lebensmittel, Textilien und einige andere Konsumprodukte zu lockern.
Insgesamt 1400 Handelsbeschränkungen sollen bis April 2001
beseitigt werden. Das Abkommen mit den USA enspricht einer Entscheidung der WTO. Mit der Berufung auf ihr Zahlungsbilanzdefizit hatte die
indische Regierung bisher weltweit die höchsten Zollerhebungen aufgewiesen, die die WTO jedoch jüngst ablehnte. "Einige
der Sektoren sind das erste Mal seit 50 Jahren geöffnet", jubelt nun die US-Aussenhandelsministerin Charlene Barshefsky.
Nach den WTO-Regeln müssen alle Sektoren, die US-Firmen
offenstehen, auch allen übrigen Mitgliedern der Organisation zugänglich sein. Der indische Industrie- und Handelsminister
Murasoli Maran kündigte außerdem graduelle Liberalisierungen für Investoren an. Stück für Stück sollen
die Höchstbeteiligungen angehoben werden, mit Ausnahme der Sektoren Verteidigung, Arzneien und Atomkraft.
Beim Öffnen der Tür zu den lukrativen Märkten Chinas
und Indiens sind bisher keine offenen Konflikte zwischen der EU und den USA zu Tage getreten. Der Kampf zwischen den beiden
ökonomischen Supermächten findet derzeit in erster Linie vor dem Schiedsgericht der WTO statt. In den letzten Jahren sind EU und
USA vor allem wegen Bananen und hormonbehandeltem Rindfleisch in Streit geraten.
Größter Konflikt
Nun hat
die WTO einen Handelsstreit zugunsten der EU entschieden, dessen finanzielles Volumen alle bisherigen in den Schatten stellt. Quelle des
Konflikts sind die seit 16 Jahren bestehenden Regelungen der Foreign Sales Cooperations (FSC), die es Unternehmen in den USA erlauben,
ihre Exportgeschäfte über Niedrigsteuerplätze abzuwickeln und so Milliarden Dollar Steuerzahlungen zu vermeiden -
für die EU "unzulässige Exportsubventionen". Schon im vergangenen Jahr hatte das WTO-Schiedsgericht der EU-
Beschwerde Recht gegeben, sie auf Antrag der USA jedoch neuerlich überprüft.
"Das ist der wichtigste Fall in der Geschichte der WTO",
kommentiert die Financial Times. Bisher hatten es die USA geschafft, mit WTO-Regeln gegen diesen Schiedsspruch zu argumentieren, ohne
ihre eigene Gesetzgebung diesbezüglich zu ändern. Nun müssen sie bis zum 1.Oktober, knapp fünf Wochen vor der
Präsidentschaftswahl, ihr System der FSC abändern oder aufheben.
Der US-Finanzsekretär Lawrence Summers will zwar eine WTO-
kompatible Regelung finden. Viele halten die Frist bis Oktober jedoch für unrealistisch und einige zweifeln daran, ob der US-Kongress
überhaupt dazu bereit ist.
Wenn die USA die Entscheidung der WTO missachten, könnte die
EU Entschädigung fordern - ebenso wie die USA, die im vergangenen Jahr 308 Millionen Dollar für die EU-
Regelverstöße bei Bananen und Rindfleisch erhielt. Folglich beginnt jetzt der Streit um das Schadensvolumen.
Während die EU die jährlichen Steuerersparnisse der
Unternehmen auf 3,5 Milliarden US-Dollar beziffert, hält das US-Finanzministerium die Summe für weitaus geringer und spricht
von maximal 2,5 Milliarden.
Die US-Außenhandelsministerin Barshefsky äußerte
Unverständnis über das Urteil und kündigte an eine Lösung zu suchen, "die sicherstellt, dass US-Firmen und
Arbeiter nicht zu einem Wettbewerbsnachteil werden".
Schätzungsweise sind 3000 bis 7000 Unternehmen vom
WTOSchiedsspruch betroffen, unter ihnen Boeing, Microsoft, General Motors, Monsanto, Ford, Procter&Gamble, Exxon/Mobil und
andere. Aber auch EU-Unternehmen profitieren über Tochtergesellschaften von FSC, darunter DaimlerChrysler und Philipps.
Die US-Konzerne wollen wie Barshefsky eine friedliche, bilaterale
Einigung mit der EU - aber nur, wenn die EU die Steuererleichterungen akzeptiert. Ins Verhandlungspaket wollen sie ihrerseits Bananen,
Rindfleisch und Subventionen für die zivile Luftfahrt als Zugeständnis für die EU einbringen.
Sollte sich die EU dennoch Verhandlungen verschließen, drohen
einige US-Wirtschaftslobbyisten mit einem Feuerwerk von Handelsbeschwerden in der WTO, die sie gegen die EU richten wollen. Denn auch
die EU hat Schwachstellen, was ihre Steuerpolitik angeht. Anfang März gelang es Barshefsky, eine Debatte im US-amerikanischen
Kongress über den Austritt aus der WTO herumzureissen und eine knappe Mehrheit für einen Verbleib in der Organisation zu
bewegen.
Die Financial Times ruft die beiden großen Handelsmächte auf,
"ihre Verantwortlichkeiten zu tragen, die ihnen die multilateralen Regeln der WTO auferlegen". Sollten sie mit dem jeweiligen
Verweis auf die andere Seite ihrer WTO-Verpflichtungen ablehnen, wäre das ein "gefährlich hoher Preis, den sie zur
Beendigung der transatlantischen Feindseligkeiten zahlen", so das Wirtschaftsblatt. Rita Hayes, die US-Botschafterin in der WTO,
kündigte Anfang April Reformen der Steuergesetzgebung für FSC an, die allerdings "mit unserem Ziel übereinstimmen
wird, dass US-Exporteure nicht gegenüber ihren ausländischen Konkurrenten benachteiligt werden". Einen Zeitrahmen gab
sie nicht an. Die EU besteht jedoch auf dem ersten Oktober.
US-Wahlen
Auch ein weiteres WTO-Urteil zugunsten der EU,
gegen das die USA jedoch noch Berufung einlegen können, wird die innenpolitische Lage vor den Präsidentschaftswahlen in den
USA weiter verschärfen und die WTO dort in Misskredit bringen. Ende März befand die WTO auf Antrag der EU das
amerikanische Anti-Dumping-Gesetz von 1916 als Verstoß gegen das Welthandelsrecht.
Die EU hatte seine Prüfung auf eine Beschwerde der Vereinigung der
europäischen Eisen- und Stahlindustrie veranlasst. Die EU-Kommission erklärte, das Gesetz sei in den vergangenen Jahren
mehrmals gegen europäische Firmen angewandt worden und stelle ein "mächtiges und gefährliches Werkzeug"
dar, um einen durch Importe ausgelösten Wettbewerb zu verhindern.
Nach Seattle ist der "Handel" eines der heißesten
politischen Themen in Washington. Dennoch versuchen die Präsidentschaftskandidaten der Demokraten und Republikaner, den
Außenhandel aus ihren Wahlkämpfen auszuklammern, denn Teile der US-amerikanischen Öffentlichkeit sind gegenüber
dem freien Welthandel und einem WTO-Beitritt Chinas zunehmend kritisch eingestellt, während die Kandidaten beider Parteien dies
verfechten.
Politische Analysten sind der Ansicht, dass es "für beide
Parteien sehr unangenehm" würde, wenn der Welthandel zum Thema im Wahlkampf avancierte. Die Demokraten stehen unter
starkem Druck ihrer gewerkschaftlichen Wählerklientel, die protektionistische Sicherheiten für ihre Jobs verlangen.
Rechte Republikaner sind zunehmend besorgt, dass die USA zu viele
Entscheidungskompetenzen and die WTO und andere internationale Organisationen abgeben könnten. Bei ihnen fallen die Zweifel am
"Freihandel" um so mehr auf fruchtbaren Boden, seit der Kalte Krieg beendet ist. Das Welthandelssystem muss nun nicht mehr
einzelne Staaten im Rahmen der Systemkonkurrenz an sich binden.
Die Financial Times gibt Entwarnung und behauptet, die "große
Mehrheit in den USA glaubt an die positiven Auswirkungen des Freihandels und es gibt wenig Druck auf die Präsidentschaftskandidaten,
ihre Position zu verändern".
Sollte sich jedoch die wirtschaftliche Situation vor den
Präsidentschaftswahlen verschlechtern, könnte der Handel ein nationales Thema werden, die Handelskonflikte zwischen der EU
und den USA verschärfen und die WTO vor eine neue Zerreißprobe stellen. Während sich die großen
Handelsmächte im Dienstleistungssektor weitgehend einig sind, ist der konfliktträchtige Agrarsektor ein weiteres Minenfeld.
Bei offiziellen WTO-Verhandlungen über die Landwirtschaft im
März konnten sich die Widersacher nicht einmal auf einen Verhandlungsvorsitzenden einigen.
Gerhard Klas