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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.8 vom 14.03.2000, Seite 5

Welthandelsorganisation

Vor der Zerreißprobe

Seit dem Scheitern der "Millenniumsrunde" in Seattle ist es vor allem in der deutschsprachigen Presse verhältnismäßig ruhig um die Welthandelsorganisation (WTO) geworden. Nur Ende März haben die gescheiterten WTO-Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und China kurzzeitig die Aufmerksamkeit erregt. Tatsächlich sind die Protagonisten des Freihandels auf beiden Seiten des Atlantiks in der Öffentlichkeit etwas zurückhaltender als noch kurz vor der gescheiterten Runde im November letzten Jahres. Doch hinter den Kulissen wird nicht nur fieberhaft debattiert, sondern die großen Handelsmächte versuchen, entscheidende Weichen für die längst nicht abgeschriebene Verhandlungsrunde zu stellen. Die Hürden, die sie dabei zu überwinden haben, bergen zum Teil erheblichen Sprengstoff. So sind im US-Kongress Stimmen lautgeworden, die Mitgliedschaft in der WTO aufzukündigen.
Unterdessen bemüht sich das WTO-eigene Schiedsgericht, den Anschein institutioneller Unabhängigkeit zu wahren. Vor allem viele Länder der Dritten Welt hatten in Seattle mehr als deutlich gemacht, dass sie sich durch die WTO benachteiligt fühlen. Seitdem sprechen sich der WTO-Generaldirektor Mike Moore und zahlreiche Handelsdiplomaten der Industrieländer für "vertrauensbildende Maßnahmen" aus.
Mitte März sprach das Schiedsgericht ein Urteil zugunsten Ecuadors gegen die EU und schien damit den Kritikern aus dem Süden den Wind aus den Segeln zu nehmen. Seit drei Jahren bemühte sich Ecuador um einen WTO-Schiedsspruch, denn der weltweit größte Exporteur von Bananen sah sich durch die EU- Bananenmarktordnung, die ehemaligen Kolonien bei Importgeschäften günstigere Konditionen einräumt, benachteiligt.
Sanktionen mit einem Volumen von 201 Millionen Dollar jährlich darf das lateinamerikanische Land nun im Warenverkehr, bei Dienstleistungen und geistigen Eigentumsrechten der EU auferlegen.
Ob dies tatsächlich geschieht, bleibt offen. Unmittelbar nach dem Schiedsspruch erklärte ein EU-Kommissionsprecher, er hoffe darauf, dass Ecuador nicht zu Sanktionen greifen werde. Stattdessen solle der Streit durch Verhandlungen gelöst werden.
Den Klägern und Beklagten steht es auch nach einem Schiedsspruch frei, eine gütliche Einigung zu erzielen. Im Falle Ecuadors ist davon auszugehen, dass dies zur weitgehenden Aufweichung der Sanktionen gegen die EU führen wird.

Bilaterale Türöffner

Wenn die Interessen der großen Handelsmächte tangiert sind, ist die bilaterale Ebene auch bei den jüngsten Verhandlungen mit China und Indien das entscheidende Feld, auf dem EU und USA ihre Handelsschlachten austragen.
Der WTO-Beitritt Chinas, dem mit 1,3 Milliarden Menschen größten Markt der Welt, ist an bilaterale Handelsabkommen mit zahlreichen WTO-Ländern gebunden.
Nachdem die amerikanische Regierung China grünes Licht für einen Beitritt gegeben hatte, der allerdings noch vor dem US-Kongress bestehen muss, ist EU-Handelskommissar Pascal Lamy Ende März nach dem dritten Anlauf unverrichteter Dinge aus Peking abgereist. Neben "unzureichender" Zugeständnisse in den Bereichen Lebensversicherungen, Banken und Telekommunikation wollte Lamy seinem Verhandlungspartner, dem chinesischen Aussenhandelsminister Shi Guangsheng, die Möglichkeit von 51% Mehrheitsbeteiligungen ausländischer Investoren an Unternehmen in China abringen. Damit übertraf die EU die Forderungen der US-Regierung, die sich mit weitaus weniger Prozenten zufrieden gegeben hatte. "Insider", so das Handelsblatt, rechneten dennoch mit "einem WTO-Beitritt Chinas im kommenden Herbst".
Das nach der Bevölkerung zweitgrößte Land der Erde, Indien, hat trotz seiner WTO-Mitgliedschaft strenge Importauflagen für zahlreiche Güter. Die indische Regierung kündigte nun an, gegenüber den USA bis Mai die Auflagen für Lebensmittel, Textilien und einige andere Konsumprodukte zu lockern.
Insgesamt 1400 Handelsbeschränkungen sollen bis April 2001 beseitigt werden. Das Abkommen mit den USA enspricht einer Entscheidung der WTO. Mit der Berufung auf ihr Zahlungsbilanzdefizit hatte die indische Regierung bisher weltweit die höchsten Zollerhebungen aufgewiesen, die die WTO jedoch jüngst ablehnte. "Einige der Sektoren sind das erste Mal seit 50 Jahren geöffnet", jubelt nun die US-Aussenhandelsministerin Charlene Barshefsky.
Nach den WTO-Regeln müssen alle Sektoren, die US-Firmen offenstehen, auch allen übrigen Mitgliedern der Organisation zugänglich sein. Der indische Industrie- und Handelsminister Murasoli Maran kündigte außerdem graduelle Liberalisierungen für Investoren an. Stück für Stück sollen die Höchstbeteiligungen angehoben werden, mit Ausnahme der Sektoren Verteidigung, Arzneien und Atomkraft.
Beim Öffnen der Tür zu den lukrativen Märkten Chinas und Indiens sind bisher keine offenen Konflikte zwischen der EU und den USA zu Tage getreten. Der Kampf zwischen den beiden ökonomischen Supermächten findet derzeit in erster Linie vor dem Schiedsgericht der WTO statt. In den letzten Jahren sind EU und USA vor allem wegen Bananen und hormonbehandeltem Rindfleisch in Streit geraten.

Größter Konflikt

Nun hat die WTO einen Handelsstreit zugunsten der EU entschieden, dessen finanzielles Volumen alle bisherigen in den Schatten stellt. Quelle des Konflikts sind die seit 16 Jahren bestehenden Regelungen der Foreign Sales Cooperations (FSC), die es Unternehmen in den USA erlauben, ihre Exportgeschäfte über Niedrigsteuerplätze abzuwickeln und so Milliarden Dollar Steuerzahlungen zu vermeiden - für die EU "unzulässige Exportsubventionen". Schon im vergangenen Jahr hatte das WTO-Schiedsgericht der EU- Beschwerde Recht gegeben, sie auf Antrag der USA jedoch neuerlich überprüft.
"Das ist der wichtigste Fall in der Geschichte der WTO", kommentiert die Financial Times. Bisher hatten es die USA geschafft, mit WTO-Regeln gegen diesen Schiedsspruch zu argumentieren, ohne ihre eigene Gesetzgebung diesbezüglich zu ändern. Nun müssen sie bis zum 1.Oktober, knapp fünf Wochen vor der Präsidentschaftswahl, ihr System der FSC abändern oder aufheben.
Der US-Finanzsekretär Lawrence Summers will zwar eine WTO- kompatible Regelung finden. Viele halten die Frist bis Oktober jedoch für unrealistisch und einige zweifeln daran, ob der US-Kongress überhaupt dazu bereit ist.
Wenn die USA die Entscheidung der WTO missachten, könnte die EU Entschädigung fordern - ebenso wie die USA, die im vergangenen Jahr 308 Millionen Dollar für die EU- Regelverstöße bei Bananen und Rindfleisch erhielt. Folglich beginnt jetzt der Streit um das Schadensvolumen.
Während die EU die jährlichen Steuerersparnisse der Unternehmen auf 3,5 Milliarden US-Dollar beziffert, hält das US-Finanzministerium die Summe für weitaus geringer und spricht von maximal 2,5 Milliarden.
Die US-Außenhandelsministerin Barshefsky äußerte Unverständnis über das Urteil und kündigte an eine Lösung zu suchen, "die sicherstellt, dass US-Firmen und Arbeiter nicht zu einem Wettbewerbsnachteil werden".
Schätzungsweise sind 3000 bis 7000 Unternehmen vom WTOSchiedsspruch betroffen, unter ihnen Boeing, Microsoft, General Motors, Monsanto, Ford, Procter&Gamble, Exxon/Mobil und andere. Aber auch EU-Unternehmen profitieren über Tochtergesellschaften von FSC, darunter DaimlerChrysler und Philipps.
Die US-Konzerne wollen wie Barshefsky eine friedliche, bilaterale Einigung mit der EU - aber nur, wenn die EU die Steuererleichterungen akzeptiert. Ins Verhandlungspaket wollen sie ihrerseits Bananen, Rindfleisch und Subventionen für die zivile Luftfahrt als Zugeständnis für die EU einbringen.
Sollte sich die EU dennoch Verhandlungen verschließen, drohen einige US-Wirtschaftslobbyisten mit einem Feuerwerk von Handelsbeschwerden in der WTO, die sie gegen die EU richten wollen. Denn auch die EU hat Schwachstellen, was ihre Steuerpolitik angeht. Anfang März gelang es Barshefsky, eine Debatte im US-amerikanischen Kongress über den Austritt aus der WTO herumzureissen und eine knappe Mehrheit für einen Verbleib in der Organisation zu bewegen.
Die Financial Times ruft die beiden großen Handelsmächte auf, "ihre Verantwortlichkeiten zu tragen, die ihnen die multilateralen Regeln der WTO auferlegen". Sollten sie mit dem jeweiligen Verweis auf die andere Seite ihrer WTO-Verpflichtungen ablehnen, wäre das ein "gefährlich hoher Preis, den sie zur Beendigung der transatlantischen Feindseligkeiten zahlen", so das Wirtschaftsblatt. Rita Hayes, die US-Botschafterin in der WTO, kündigte Anfang April Reformen der Steuergesetzgebung für FSC an, die allerdings "mit unserem Ziel übereinstimmen wird, dass US-Exporteure nicht gegenüber ihren ausländischen Konkurrenten benachteiligt werden". Einen Zeitrahmen gab sie nicht an. Die EU besteht jedoch auf dem ersten Oktober.

US-Wahlen

Auch ein weiteres WTO-Urteil zugunsten der EU, gegen das die USA jedoch noch Berufung einlegen können, wird die innenpolitische Lage vor den Präsidentschaftswahlen in den USA weiter verschärfen und die WTO dort in Misskredit bringen. Ende März befand die WTO auf Antrag der EU das amerikanische Anti-Dumping-Gesetz von 1916 als Verstoß gegen das Welthandelsrecht.
Die EU hatte seine Prüfung auf eine Beschwerde der Vereinigung der europäischen Eisen- und Stahlindustrie veranlasst. Die EU-Kommission erklärte, das Gesetz sei in den vergangenen Jahren mehrmals gegen europäische Firmen angewandt worden und stelle ein "mächtiges und gefährliches Werkzeug" dar, um einen durch Importe ausgelösten Wettbewerb zu verhindern.
Nach Seattle ist der "Handel" eines der heißesten politischen Themen in Washington. Dennoch versuchen die Präsidentschaftskandidaten der Demokraten und Republikaner, den Außenhandel aus ihren Wahlkämpfen auszuklammern, denn Teile der US-amerikanischen Öffentlichkeit sind gegenüber dem freien Welthandel und einem WTO-Beitritt Chinas zunehmend kritisch eingestellt, während die Kandidaten beider Parteien dies verfechten.
Politische Analysten sind der Ansicht, dass es "für beide Parteien sehr unangenehm" würde, wenn der Welthandel zum Thema im Wahlkampf avancierte. Die Demokraten stehen unter starkem Druck ihrer gewerkschaftlichen Wählerklientel, die protektionistische Sicherheiten für ihre Jobs verlangen.
Rechte Republikaner sind zunehmend besorgt, dass die USA zu viele Entscheidungskompetenzen and die WTO und andere internationale Organisationen abgeben könnten. Bei ihnen fallen die Zweifel am "Freihandel" um so mehr auf fruchtbaren Boden, seit der Kalte Krieg beendet ist. Das Welthandelssystem muss nun nicht mehr einzelne Staaten im Rahmen der Systemkonkurrenz an sich binden.
Die Financial Times gibt Entwarnung und behauptet, die "große Mehrheit in den USA glaubt an die positiven Auswirkungen des Freihandels und es gibt wenig Druck auf die Präsidentschaftskandidaten, ihre Position zu verändern".
Sollte sich jedoch die wirtschaftliche Situation vor den Präsidentschaftswahlen verschlechtern, könnte der Handel ein nationales Thema werden, die Handelskonflikte zwischen der EU und den USA verschärfen und die WTO vor eine neue Zerreißprobe stellen. Während sich die großen Handelsmächte im Dienstleistungssektor weitgehend einig sind, ist der konfliktträchtige Agrarsektor ein weiteres Minenfeld.
Bei offiziellen WTO-Verhandlungen über die Landwirtschaft im März konnten sich die Widersacher nicht einmal auf einen Verhandlungsvorsitzenden einigen.

Gerhard Klas


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