Sozialistische Zeitung |
Seit dem Beginn des NATO-Krieges gegen Kosovo hat sich die Lage in der Region umgedreht: War vor einem
Jahr die Vertreibung von Kosovo-Albanern durch serbische Soldaten und Milizen von der NATO zum Anlass genommen worden, Jugoslawien
den Krieg zu erklären - was die Massenvertreibung der Albaner erst richtig in Gang setzte -, setzte nach Beendigung der
Bombenflüge und dem Abzug der serbischen Truppen ein Massenauszug der serbischen Bevölkerung ein. Den Angaben der UN-
Flüchtlingsorganisation UNHCR und der OSZE zufolge sollen von den 194190 Serben, die 1991 im Kosovo registriert waren, nach dem
Krieg wenig mehr als 100000 übriggeblieben sein (die jugoslawische Regierung spricht von 200000 Serben, die in die Flucht geschlagen
worden seien, je nach Gelegenheit aber auch von 250000 oder 260000).
Die Machtverhältnisse in der Provinz haben sich dadurch umgekehrt:
Anstelle eines serbischen Repressions- und Verwaltungsapparats beherrschen jetzt Albaner und die NATO das Feld - wobei
"NATO" hier verkürzt für das Sammelsurium westlicher internationaler Organisationen steht, die dort ihr Lager
aufgeschlagen haben. Die serbische Bevölkerung ist auf vier Enklaven zurückgedrängt, Roma und andere Minderheiten
werden bedrängt und vertrieben.
Die Umkehrung der Machtverhältnisse hat die Konflikte in der
Bevölkerung, die häufig ethnischen Charakter annimmt, nicht im mindesten entschärft. Im Kosovo gibt es heute nicht weniger
Spannungen als am Tag des Waffenstillstands. Seit dem 9.Juni 1999 wurden 615 Feuerzwischenfälle und Mörserangriffe, 129
Granatenangriffe, 58 Minenexplosionen und 20 Zusammenstöße mit Menschenaufläufen registriert.
Nach Angaben des "Jugoslawischen Komitees für die
Zusammenarbeit mit der UNO im Kosovo" kamen dabei bis Dezember 1999 414 Menschen ums Leben: 150 Albaner, 140 Serben und 124
Personen, deren ethnische Zugehörigkeit nicht festgestellt werden konnte (ami 3/00). Würde die KFOR heute abziehen,
würde der "Bürgerkrieg" wilder toben als je zuvor.
Die NATO-Staaten leiten aus dieser Situation, die auch sie zugeben
müssen, weiterhin eine Rechtfertigung sowohl für ihren Krieg als auch für ihr Besatzungsregime ab, von dem Karl Lamers,
außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, sagt, es werde noch 25 Jahre dauern; andere sprechen von
Generationen. Es fällt schwer, in dieser Kombination von selbst produziertem (durch den Krieg produziertem) Chaos und ethnischem
Hass und daraus gefolgerter Legitimation für ein Besatzungsregime mehr zu sehen als eine Selbstrechtfertigung für einen Prozess, in
dem westliche, imperialistische Institutionen mehr und mehr die direkte politische und wirtschaftliche Kontrolle über Kosovo und den
Balkan ausüben.
Dieser Prozess ist alles andere als widerspruchsfrei. Es ist keineswegs so,
dass funktionierende kosovo-albanische Macht- und Verwaltungsstrukturen frühere serbische Machtstrukturen abgelöst
hätten. Weder erlaubt die NATO den Kosovo-Albanern die Strukturen, die sie gerne hätten; deren neue Staatsorgane im Werden -
Justiz, Polizei, bewaffnete Einheiten, Verwaltung - müssen sich stattdessen einfügen in ein umfassenderes Konzept der Allianz
über die Neuordnung der politischen, wirtschaftlichen und staatlichen Verhältnisse auf dem Balkan, das im Widerspruch steht zur
albanischen Forderung nach Unabhängigkeit des Kosovo auf der Basis ethnischer Säuberung. Noch hat die NATO selber eine klare
Vorstellung davon, wie ein solches Konzept aussehen soll.
So wird am Aufbau eines Staatsapparats gearbeitet, von dem nicht klar ist,
wozu er gehören soll: soll Kosovo unabhängig werden, Teil Jugoslawiens bleiben oder Teil Albaniens werden? Für letztere
Variante macht sich weiterhin so gut wie niemand stark; bisher haben die NATO-Staaten das Konzept verfolgt, dass Kosovo jugoslawische
Provinz in albanischer Selbstverwaltung bleiben soll. Damit begeben sie sich aber nicht nur in Widerspruch zum Mehrheitswillen der
kosovarischen Bevölkerung, auch auf serbischer Seite gibt es dafür keinerlei Voraussetzungen.
Die Kosovo-Albaner wollen nicht Teil Jugoslawiens bleiben; die
jugoslawische Führung beharrt auf ihrem Recht laut UN-Resolution, spätestens im Sommer dieses Jahres eine eigene bewaffnete
Polizeitruppe zum Schutz der serbischen Bevölkerung in den Kosovo zu entsenden. Der deutsche KFOR-Kommandant Klaus Reinhardt
hat vor Ablauf seiner Amtszeit erklärt, er wolle dieses Recht der jugoslawischen Regierung respektieren, aber dann müssten die
serbischen Einheiten durch NATO-Truppen geschützt werden. Gleichzeitig duldet die KFOR, dass neue kosovo-albanische Milizen wie
Pilze aus dem Boden sprießen, Waffenarsenale anlegen und vielfach außerhalb der Kontrolle des von ehemaligen UCK-
Führern geleiteten Kosovo Protection Corps (KPC) agieren. Erst Mitte März haben US-Soldaten begonnen, systematischer dagegen
vorzugehen.
Dreh- und Angelpunkt der NATO-Strategie ist ein Machtwechsel in
Belgrad. Die NATO-Staaten setzen darauf, dass eine Regierungsübernahme durch die Opposition die serbischen Ansprüche auf
Kosovo zurückschrauben und damit den Druck von der Provinz nehmen werde; auf diese Weise könnte der Weg frei werden,
Kosovo formal im jugoslawischen Staatenverband zu belassen aber dennoch unter eine albanische Provinzverwaltung zu stellen, die auch noch
nach westlichen Kriterien funktionieren soll. Nun nimmt die serbische Opposition gegenüber dem Kosovo keine andere Position ein als
die Regierung von Milosevic.
Die NATO-Staaten rechnen allerdings damit, dass sie eine neue Regierung
wirtschaftlich und politisch stärker an die Kandare nehmen könnten als Milosevic - über Wirtschaftshilfen, Privatisierung,
EU-Integration und Veränderung der Außenhandelsstrukturen - und dass dies ihre stärkere Unterwerfung unter die globaleren
Balkanpläne der NATO-Staaten nach sich ziehen würde. Das Haupthandicap dieser Konstruktion ist allerdings, dass ein
Regierungswechsel in Jugoslawien derzeit nicht in Sicht ist - Milosevic sitzt fest im Sattel und die Glaubwürdigkeit der Opposition ist
nicht groß. Damit hängt die gesamte Balkanpolitik der NATO derzeit in der Luft.
Sprecher der Hauptströmungen der serbischen wie der albanischen
Bevölkerung im Kosovo nehmen derzeit eine Position ein, die fordert, über den Status der Provinz zum gegenwärtigen
Zeitpunkt nicht zu entscheiden. Der serbische Exponent, Bischof Artemije, erklärt, eine Lösung der Statusfrage sei derzeit nicht
aktuell, sie stehe erst in Zukunft an, wenn Serbien demokratisch werde und die serbischen wie die albanischen Vertreter gewählt sind.
Der Bischof sucht eine Abnabelung von Milosevic, dessen Politik er "auf der Verliererstraße" sieht.
Auf albanischer Seite haben Hasim Thaqi und Agim Ceku Ende März
erklärt, man wolle "auf die internationale Gemeinschaft keinen Druck ausüben, dass sie uns die Unabhängigkeit
gewähre", es sei derzeit nicht an der Tagesordnung, über den Status von Kosova zu diskutieren, über den "eine
internationale Konferenz entscheiden solle" (Albanian Daily News, 30.3.). Sie betrachten die Präsenz der KFOR als
"historische Möglichkeit", die Unabhängigkeit zu erlangen (Ceku: "die Unabhängigkeit kommt von
allein").
Der beiderseitige Versuch, Statusfragen aufzuschieben und die
"internationale Gemeinschaft" für die jeweilige Seite einzuspannen, verhindert jedoch nicht das Auftreten neuer Konflikte; die
Zeit scheint eher separatistischen Tendenzen in die Hände zu spielen, albanischen Milizen nicht weniger als der Regierung Milosevic,
die in Südserbien und Montenegro zündelt. Er klärt auch nicht die Grundfrage, für die es mit oder ohne Milosevic
keine Lösung zu geben scheint: Wie kann eine gemeinsame serbisch-albanische Verwaltung von Kosovo errichtet werden?
Sollte es der amerikanischen Diplomatie nicht gelingen, das bisherige
NATO-Konzept durchzusetzen, scheint es unausweichlich, dass sich Positionen nach vorn schieben, die auf eine ethnische Kantonalisierung des
Kosovo setzen, wie sie Karl Lamers offen befürwortet, wie sie aber auch von den "Radikalen" um den Albaner Agim Ceku
und die Serben Mitrovicas unterstützt werden: eine weitere ethnische Teilung, die unter dem Titel "Europa der Regionen"
angepriesen wird.