Sozialistische Zeitung |
Die Krise von Mitrovica hat im westlichen Bündnis eine heftige Diskussion über das weitere
Vorgehen im Kosovo ausgelöst und seine derzeitige Ratlosigkeit und Orientierungslosigkeit offengelegt.
Als sich die US-Soldaten am 23.Februar aus Mitrovica zurückzogen,
begann ein regelrechtes Tauziehen um die Frage nach der Entsendung neuer NATO-Truppen nach Kosovo. UPI berichtete, die NATO
würde am darauffolgenden Tag die Entsendung weiterer 1100-1300 Soldaten, darunter US-Marines, beschließen. Der
Oberbefehlshaber der NATO im Kosovo, Wesley Clark, forderte drei Bataillone oder mindestens 2000 Soldaten aus der vorgesehenen
"strategischen Reserve" an. Zur gleichen Zeit meldete sich US-Verteidigungsminister Cohen mit einer entgegengesetzten
Erklärung zu Wort: "Offen gestanden sehen wir nicht, dass [Mitrovica] langfristig ein Problem sein wird." Dennoch beteuerte
er, die NATO werde "alle geforderten Kräfte entsenden". Am darauffolgenden Tag ließ NATO-Generalsekretär
George Robertson aus Athen wissen, es gebe im Kosovo ausreichend Truppen, um mit den "ethnischen
Zusammenstößen" fertig zu werden; der Sprecher des Pentagon ließ sich in gleicher Weise vernehmen. Im Kosovo
erklärte der Sprecher der KFOR, nach der "Operation Ibar" (Mitte März) werde die Anzahl der US-amerikanischen
Soldaten von 2300 auf 1900 gesenkt, eventuell kämen neue französische Truppen hinzu. Am 29.Februar ließ die NATO
schließlich wissen, dass es keine neuen Truppenverlegungen geben werde.
Vor dem Senat musste sich Wesley Ende Februar heftige Vorwürfe
anhören, weil er am 19.Februar US-Soldaten zu einer Razzia in den französischen Sektor geschickt hatte. Das Pentagon soll bereits
einen Tag später Clark bedeutet haben, er habe in Zukunft das Verteidigungsministerium vorher davon zu informieren, wenn US-Truppen
in Gebiete geschickt würden, für die sie nicht zuständig seien.
Am selben Tag stellte die britische Tageszeitung Times zwischen der
Rüge des Pentagon für Clark und den US-Präsidentschaftswahlen im Herbst einen Zusammenhang her: "Amerika ist,
vor allem in einem Wahljahr, nicht bereit, in entfernt gelegenen Konflikten Menschenleben zu opfern … Die amerikanische Entscheidung [keine
US-Truppen in andere Sektoren des Kosovo zu schicken] hat ernsthafte Bedenken hinsichtlich der operativen Fähigkeiten der NATO
aufgeworfen … NATO-Offiziere haben gesagt, nur drei Länder hätten bisher ohne politische Restriktionen im Kosovo operiert:
Großbritannien, Frankreich und Italien. Die anderen machen Vorbehalte bezüglich der Orte, in die ihre Truppen geschickt, und
bezüglich der Verantwortlichkeiten, die ihnen aufgebürdet werden können."
Der neue Stabschef des NATO-Hauptquartiers für Nordeuropa, der
deutsche General Joachim Spiering, wird mit den Worten zitiert: "Wir haben viele Männer unter Waffen, aber es sind zuviele, die
wir nicht einsetzen können. Entweder sind sie nicht ausgebildet, oder es sind Wehrpflichtige, und die Verfassungen ihrer Länder
verbieten ihnen, sie außerhalb der nationalen Grenzen einzusetzen … Meine Befürchtung ist, dass wir lange Zeit im Balkan bleiben
werden. Im Kosovo können sich die Dinge politisch wie militärisch verschlechtern. Wir werden viele Jahre dort gebunden sein
und haben Schwierigkeiten, die nötigen Truppen zu finden. Wenn es eine neue Krise gibt, könnten wir Schwierigkeiten haben zu
reagieren."
Hinter dem Streit in den USA lebt ein alter Konflikt auf, der schon im
Kosovokrieg sichtbar wurde: Regierung, vor Ort stationiertes Militär und in der Region tätige Diplomaten haben je nach ihrem
Aufgabenbereich eine sehr unterschiedliche Herangehensweise an dasselbe Problem. Kernpunkt des Konflikts ist die ungelöste Frage,
was der Status des Kosovo letztendlich sein soll. Die "ethnischen Konflikte" sind durch den Krieg geradezu auf die Spitze getrieben
worden, wodurch eine politische Stabilisierung des Kosovo auf multiethnischer Basis unmöglich gemacht wurde. Das Projekt der
Allianz, die Karten in der Region durch einen Sturz Milosevics neu zu mischen, wurde ebenfalls durch den Krieg eher behindert als
befördert.
Die entstandene Sackgasse entzweit die NATO-Staaten nun auch mehr und
mehr hinsichtlich der Beurteilung der Lage vor Ort.
In den USA scheint eine politische Wende im Verhältnis zu den
Kosovo-Albanern im Gang. Mitte März haben US-Truppen in dem von ihnen kontrollierten Sektor Razzien gegen Kommandoposten und
Waffendepots albanischer Milizen unternommen - laut Washington Post (16.März) "die erste Militäraktion gegen
frühere Verbündete, die jetzt den Erfolg der Friedensmission im Kosovo gefährden. Amerikanische Regierungsvertreter
haben gesagt, dass die Operation ein Präventivschlag war, um die albanischen Kämpfer im Kosovo daran zu hindern, dass sie
Waffen schmuggeln und vom US-kontrollierten Sektor im Südosten des Kosovo Angriffe über die Grenze gegen Serbien
führen. Solche Angriffe drohen, eine neue Konfrontation zwischen den Friedenstruppen der USA und den von Milosevic kontrollierten
serbischen Streitkräften zu provozieren…"
Die Zeitung fährt fort: "Auch wenn die NATO formal die UÇK
im vergangenen Jahr entwaffnet hat, haben deren ehemalige Mitglieder zusammen mit neuen Rekruten im US-kontrollierten Sektor kleine
illegale Milizgruppen gebildet. Laut US-Offizieren zählen einige nur ein Dutzend Mitglieder, und insgesamt mögen es nur einige
hundert in der US-Zone sein. Aber bei der US-Regierung und den Kommandierenden vor Ort wächst die Sorge, dass die Rebellen eine
Aktion von Milosevic provozieren könnten. ‚Es war [bei der Razzia vom 15.3.] das erste Mal, dass wir nach einer organisierten
militärischen Infrastruktur gesucht haben, statt in den Häusern nachzusehen, ob dort jemand ein oder zwei Gewehre versteckt
hält, hat ein hoher Regierungsbeamter der USA gesagt … Die USA haben ihre Politik gegenüber einigen realen Problemen
dramatisch geändert, weil sie lange Zeit geduldet haben, dass diese Grenze durchlässig ist."
Besondere Sorgen mache sich das Pentagon darüber, dass sich
albanische Guerillakämpfer im Niemandsland hinter der südserbischen Grenze verschanzen. "Die 5300 US-Soldaten im
Kosovo haben zu begrenzte Mittel, um die 180 Grenzkilometer, die ihnen zugewiesen wurden, zu patroullieren." In derselben Ausgabe
spricht die Zeitung von "500 gut bewaffneten Albanern, die sich in der unübersichtlichen Hügellandschaft im Niemandsland
um Presevo tummeln; ihre Zahl wächst rasch dank einer gut finanzierten Rekrutierungskampagne aus dem Kosovo". Ihr Ziel sei, eine
weitere Scheibe serbisches Territorium politisch unabhängig zu machen. "Westliche und albanische Regierungsbeamte sind sich
darin einig, dass die Ängste aus Belgrad nicht aus der Luft gegriffen sind."
Demgegenüber schreibt der britische Daily Telegraph am
12.März: "Staatspräsident Slobodan Milosevic plant eine Frühjahrsoffensive gegen die NATO, indem er laut
Geheimdienstexperten drei Krisenpunkte auf dem Balkan nutzt, um die Allianz zu spalten. Auf diese Weise hofft er, einen offenen Konflikt mit
dem Westen zu vermeiden und in der NATO Unordnung zu schaffen, um sie zu spalten und zu einer gemeinsamen Reaktion unfähig zu
machen … Die NATO ist bereits stark gespalten … Die nationalen Regierungen üben mehr und mehr die tägliche Kontrolle
über ihre Soldaten aus, die Position von General Klaus Reinhardt, dem Kommandanten der KFOR, wird zusehends unterhöhlt. Der
schlimmste Bruch ist der zwischen Amerikanern und Europäern." In einem anderen Artikel in derselben Ausgabe heißt es:
"Die Großmacht Amerika ist im Niedergang begriffen. Die USA haben nicht mehr die strategische Kraft, eine
großdimensionierte Initiative wie den Golfkrieg auf die Beine zu stellen."