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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.8 vom 14.03.2000, Seite 10

Zuviele Köche

Ein internationales Protektorat funktioniert nicht

Das nachstehende Interview mit Vladimir Gligorov führte Saso Ordanowski für die Zeitschrift Forum (25.2.-9.3.2000). Vladimir Gligorov ist Sohn des ehemaligen Staatspräsidenten von Makedonien, Kiro Gligorov. Bis Mitte der 90er Jahre arbeitete er als Ökonom in Belgrad; jetzt lebt er in Wien, wo er am Institut für internationale Wirtschaftsstudien tätig ist.

Ist die wirtschaftliche Entwicklung auf dem Balkan vergleichbar mit der in anderen osteuropäischen Ländern nach 1989?

Vladimir Gligorov: Nein. [...] Die aktuelle Entwicklung ist unnatürlich, weil die Balkanregion in mancherlei Hinsicht in ihrer Entwicklung der anderer europäischer Regionen nicht nachstand. Selbst im Vergleich zu Polen war sie teilweise entwickelter. [...] In der Mehrzahl der Fälle hat es eine große Deindustrialisierung gegeben, das bedeutet, alles was über Jahrzehnte aufgebaut wurde, ist faktisch abgebaut worden. Es gibt sogar wieder eine Landflucht - die Zahl derer, die von Landwirtschaft leben, ist stetig im Steigen begriffen. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist katastrophal. Das bedeutet, dass die Wirtschaftspolitik in einem Schlüsselbereich erfolglos ist, weil sie nicht mehr die Bedingungen schafft, dass die Menschen auf eigenen Füßen stehen können - das ist nicht möglich, wenn man erwerbslos ist. Die Erwerbslosigkeit beträgt in Kroatien 20%, in Bosnien offiziell rund 40%, in Makedonien offiziell 32,5%, in Serbien 30% (inoffiziell sind es wohl 50%), in Bulgarien und Rumänien zwischen 12% und 15% (in Bulgarien sprechen die jüngsten Daten sogar von 18%). Im Allgemeinen handelt es sich dabei um Länder, in denen die staatlichen Strukturen zusammengebrochen oder auf dem Weg dahin sind. [...]
Die Mehrzahl der Staaten hängt in der einen oder anderen Weise von ausländischer Hilfe ab, natürlich auch davon, was sie in der Lage sind, ihren eigenen Bürgerinnen und Bürgern zu rauben: die Behördern zahlen nicht pünktlich die Löhne, sie zahlen keine Renten, sie zahlen auch andere Außenstände nicht pünktlich, auch nicht die Außenschulden. Vergessen wir auch nicht die Formen von innerem Zusammenbruch, wie die Korruption und alles was dazugehört.
Wir stehen vor der Situation, dass viele Staaten "keinen Erfolg haben"; das schlimmste Beispiel ist wahrscheinlich Albanien, aber auch andere weisen ähnliche Merkmale auf: Kosovo hat nicht einmal einen Staat; Bosnien ist ein Protektorat, aber gleichzeitig nicht einmal das, eigentlich ist es zugleich ein Protektorat und das reine Chaos. Kroatien hat enorme Probleme. Serbien ist mittlerweile kein Staat mehr, sondern eine große Militär- und Polizeikaserne, wo noch abzuwarten ist, was daraus wird.
Diese Staaten tragen ein wesentliches Merkmal der nicht entwickelten Länder: sie gehen nirgendwo hin und haben eine Außenhandelsstruktur, bei der fast alles aus dem Ausland importiert wird - von den Nahrungsmitteln bis zu Artikeln des täglichen Bedarfs bis zur Techonologie -, aber nur ganz wenig exportiert wird. So akkumuliert sich eine lange Liste von Krediten und Schulden, die irgendwann einmal umgeschichtet werden. [...]

Was Sie beschreiben zeigt, dass der Balkan unter sog. schwachen Staaten leidet, Staaten, die nicht in der Lage sind, ihren Bürgern Dienstleistungen zu bieten. Vor diesem Hintergrund verfolgt die internationale Gemeinschaft eine Strategie, Protektorate in der Region zu schaffen - aber Protektorate stärken Staaten nicht, sondern frieren sie auf dem Stand ihrer institutionellen und funktionalen Situation ein. Was hindert Europa daran, sich all dessen bewusst zu werden?

Zunächst muss man sehen, dass internationale Institutionen und internationale Intervention nicht dasselbe sind wie eine koloniale Intervention oder die Intervention eines Staates in einem anderen. In letzter Instanz ist ein Protektorat immer eine Belastung für den dominierenden Staat. Aber es macht einen großen Unterschied, ob ein Protektorat durch internationalen Auftrag geschaffen wird oder durch einen Staat, der auf eigene Rechnung arbeitet. [...] Kosovo wird häufig mit Nordirland verglichen, aber das sind zwei ganz verschiedene Dinge, wenn man vergleicht, wer sie kontrolliert. Das System der Verantwortung ist ein völlig anderes. In Nordirland ist die englische Regierung dafür verantwortlich, was im Namen der englischen BürgerInnen geschieht; da gibt es keine Unklarheiten. Für das, was in Bosnien, Kosovo, Bulgarien, Makedonien oder Albanien passiert, gibt es eine solche Verantwortung nicht - und das ist ein Grundproblem für diese Art des internationalen Eingreifens. Es ist das Grundproblem einer internationalen Intervention.

Wollen Sie damit sagen, dass die internationale Gemeinschaft per Definition nicht in der Lage ist, eine verantwortliche Regierung aufzubauen?

Genau, per Definition! Die internationale Gemeinschaft verfügt nicht über eine System der Verantwortung; es gibt zuviele Paten. Das ist ein komplizierter Organismus. In Kosovo und in Bosnien hat sich herausgestellt, dass vor Ort eine Vielzahl internationaler Strukturen aktiv sind, die jeweils ganz verschiedenen Institutionen verantwortlich sind: der EU, den USA, der UNO, den Finanzinstitutionen in Washington, anderen Finanzinstituten, den Großmächten im UNO-Sicherheitsrat, verschiedenen Nicht- Regierungsorganisationen. Man braucht sich nur anzuschauen, wer alles den Stabilitätspakt unterschrieben hat. Und all diese Organisationen und Institutionen haben nicht eine identische zivile Funktion, oder, wie man in der Wirtschaft sagen würde, sie verfolgen nicht denselben Zweck; dadurch entsteht ein enormes Koordinationsproblem. [...]

Welche Perspektiven hat die Region?

Das Problem ist ein strukturelles, deshalb macht das ganze Märchen mit den Protektoraten keinen Sinn, unabhängig davon, dass dies meines Erachtens sowieso eine dumme Vorstellung ist. Das Problem ist, dass es zu viele Personen gibt, die Anweisungen geben, und zu viele, die sie ausführen. Somit haben die staatlichen Strukturen, die eh in den jüngst gebildeten Staaten nicht sehr stark sind, keine klare Rolle zugewiesen, was ihre Verantwortlichkeit und ihren Zusammenhang untereinander betrifft. Das kann man sehr deutlich in Bosnien und Albanien sehen, aber auch in Makedonien: Sie müssen darauf hören, was der eine sagt, was der andere sagt, dann müssen sie es irgendwie der Bevölkerung beibringen, und diese muss irgendwie reagieren. All das führt dazu, dass die Beziehungen zwischen denen, die etwas tun müssen, und denen, die sie wählen, nur schwach ausgeprägt sind. Das Ergebnis ist, dass die Demokratie geschwächt und ein enormer Raum für Korruption geöffnet wird.
Schließlich gibt es das Problem, das ist für mich theoretisch gesehen das interessanteste, dass die internationalen Strukturen nach instrumentellen Grundsätzen handeln: Du gibst mir das, ich erlaube dir das. Ich habe noch nie erlebt, dass ein solches System der gegenseitigen Instrumentalisierung, wie die internationale Gemeinschaft es jetzt auf dem Balkan errichtet, wirklich etwas Kohärentes ergäbe! Der IWF sagt eins, die Weltbank was anderes, die US-amerikanische Entwicklungsorganisation USAID ein Drittes, und dann kommen noch die EU, die UNO, die humanitären Organisationen, die politischen Parteien, die philantropischen Vereine.

Wie lange denken Sie, wird es brauchen, bis sich die Lage normalisiert?

In zehn Jahren kann man keine Wunder erwarten. In dieser Region verfügen die Menschen im Durchschnitt über kaum mehr als 2000 US-Dollar Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner, das sind 10% der entwickelten Welt. Um das Niveau der letzteren zu erreichen, brauchen wir einige Generationen - wenn wir den richtigen Weg gehen.

Sie kennen Serbien gut. Was meinen Sie, ist seine Zukunft?

Ich glaube kaum, dass die Lage in Serbien ohne eine innere Konfrontation gelöst werden kann. Zwischen Kroatien und Serbien gibt es viele Parallelen. Aber die Opposition in Kroatien hat zwei Punkte gefunden, wo sie eine ganz andere Haltung eingenommen hat als die Regierung - das ist sehr wichtig für eine Opposition. In der Frage Bosnien stand die kroatische Opposition auf der anderen Seite der Barrikade. Dasselbe galt für das Haager Tribunal. Die Opposition wollte sich nie mit der kroatischen Mafia in Bosnien gemein machen, auch nicht mit den kroatischen Kriegsverbrechern. Ich glaube, das waren die beiden Schlüsselelemente des Programms, das Mesic den Wahlsieg gesichert hat. [...] In Serbien gibt es so etwas nicht. Die serbische Opposition sagt nur, dass Milosevic eine Katastrophe für das serbische Volk ist wegen der Art, wie er sein Programm durchsetzt, sie sagt nicht, dass sein Programm schlecht ist. […] Was würde sie denn mit Kosovo machen? Auch die Demokratische Partei, ganz zu schweigen von der Bewegung für die Serbische Erneuerung, setzen, wie Milosevic, auf die Karte der Resolution des UN-Sicherheitsrats für Kosovo, die nicht durchsetzbar und nur eine Übergangslösung ist. Ebensowenig klar ist, was sie zu Bosnien denkt. Sie weiß nicht einmal richtig, wie sie zur Monarchie stehen soll. So gleiten die Dinge in Serbien mehr und mehr auf ein unpolitisches Terrain, in einen unpolitischen Konflikt zwischen Milosevic und den andern, die sagen, er sei ein Hindernis für ein behauptetes serbisches Interesse, das erfunden ist und nicht existiert. Das kann zu einer Konfrontation führen, von der man nur hoffen kann, dass sie ohne Blutvergießen abgeht…



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