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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.10 vom 11.05.2000, Seite 3

Neues Gesicht der US-Gewerkschaften

Einwanderer ohne Papiere organisieren sich

In den USA entwickelt sich ein Verhältnis zwischen illegalen Einwanderern und dem Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO, das gemessen an der Politik der Gewerkschaften in Deutschland äußerst fortschrittlich ist. Die AFL-CIO hat auf Druck der Basis eine Resolution verabschiedet, die die Legalisierung der Einwanderer ohne Papiere fordert. Über Organisationsansätze dieser Einwanderer und ihre Situation auf dem Arbeitsmarkt sprach Gerhard Klas für die SoZ mit MONICA SANTANA, der aus der Dominikanischen Republik stammenden Leiterin des Latino Workers Center (LWC) in New York.

Das LWC organisiert seit sechs Jahren Einwanderer ohne Papiere, die in den New Yorker Sweatshops arbeiten. Wie gelingt es dem LWC, die Einwanderer zu mobilisieren?
Neben der Bildungsarbeit versuchen wir, Einwanderer aus verschiedenen Arbeitsbereichen zu organisieren. Das sind vor allem Beschäftigte aus dem Dienstleistungsbereich: Bauarbeiter, Verkäuferinnen, Reinigungskräfte. Dabei konzentrieren wir uns - wie schon der Name sagt - auf Einwanderer aus Lateinamerika. Denn von den geschätzten 7 Millionen der sog. illegalen Arbeitsverhältnisse entfallen allein sechs Millionen auf Latinos, die aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen aus ihren Heimatländern geflohen und ausgewandert sind.
Das LWC versucht, sie mit der US-amerikanischen Arbeitsgesetzgebung vertraut zu machen - in spanischer Sprache, damit sie überhaupt eine Möglichkeit haben, sie zu verstehen. Die Mehrheit der nichtdokumentierten Einwanderer kommen normalerweise ohne Papiere oder mit einem Touristenvisum ins Land, das sie dann überziehen. Die auf diese Art und Weise eingereisten Menschen haben die Vorstellung, dass sie deshalb keinerlei Rechte hätten. Die Hauptbemühungen des LWC zielt darauf ab, ihnen ihre Grundrechte zu vermitteln, die vielleicht nicht ganz so festgeschrieben sind. Aber es gibt Möglichkeiten, sich zu schützen.
Wie funktioniert das System? Was sind meine Rechte? Das sind die Fragen, die wir beantworten wollen. Darüber hinaus will LWC ihnen vor allem ein Selbstwertgefühl zurückgeben. Sie sollen merken, das nicht sie an ihrer Situation schuld sind, sondern sie sich selbst als vollwertige Menschen betrachten können und sie sich gegenüber den Amerikanern keinesfalls unterlegen fühlen müssen. Zudem sprechen wir mit ihnen über die Bedingungen in ihren Heimatländern und den wirtschaftlichen Beziehungen, die diese Länder mit den USA haben. Denn diese Abhängigkeit und die Ungleichheit in diesen Beziehungen sind die Hauptursache für die Migrationsbewegungen.

Welche Rolle spielt der Stadtteil, die Community, im Vergleich zum Betrieb, in dem die Einwanderer beschäftigt sind?
Die lateinamerikanischen Einwanderer sind viel stärker als die Nordamerikaner daran gewöhnt, in Gemeinschaften und Gemeinden zu leben. In den USA treffen sie auf eine stark individualisierte Gesellschaft. Deshalb versucht das LWC auch als Gemeindeorganisation, ihnen Halt zu geben. Dadurch entwickelt sich zum Teil eine Art Familienersatz. Die Beziehung zur Gemeinschaft ist eine völlig andere als die zur Firma, die rein wirtschaftlicher Natur ist.
LWC ist keine Gewerkschaft, sondern eine Unterstützungsorganisation, die Einwanderer ohne Papiere vor allem über ihre Rechte informieren will. Wir beraten zur Frage der Selbstorganisierung, nicht nur innerhalb des LWC, sondern auch in der Gemeinde. Unser Aktionsfeld ist damit wesentlich weiter als das der Gewerkschaften.
Die Arbeitenden, die wir betreuen, müssen sich nicht nur mit den schlechten Bedingungen an ihrem Arbeitsplatz auseinandersetzen, sondern auch das weitere Lebensumfeld birgt zahlreiche Probleme: Rassismus und Diskriminierungen, Wohnungssuche, Schulbesuch der Kinder und der Zugang zum Gesundheitssystem. All dies sind Problemstellungen, die außerhalb der traditionellen Gewerkschaftsarbeit liegen.
Gemeinsam mit anderen Organisationen bietet das LWC ihnen Hilfe, die sie anderenfalls nur durch teuer zu bezahlende Rechtsanwälte erhalten würden - oder aber durch offizielle Institutionen, mit denen eine Kontaktaufnahme für Einwanderer ohne Papiere kaum in Frage kommt. Hier vermittelt das LWC, z.B. zwischen dem Arbeitsministerium und Einwanderern. Dadurch hat sich ein intensiver Kontakt zu einigen offiziellen Stellen ergeben, der uns wiederum eine gute Position in den Verhandlungen mit Unternehmern gibt, die undokumentierte Einwanderer beschäftigen.

Wenn es hart auf hart kommt - was empfehlt ihr den Einwanderer, falls sich eine Firma weigert, den Lohn auszuzahlen?
Es gibt verschiedene Stufen der Intervention. Zunächst einmal geht es darum, genau zu recherchieren. Nicht, um die betroffenen Einwanderer zu kontrollieren, sondern um ihnen eine sichere Position zu vermitteln, bevor sie die Zahlungsverweigerung offensiver angehen. Wir stellen auch Fragen über die Summe der Schulden, die geleisteten Arbeitsstunden etc. Das ist für uns die Grundlage, um angemessene Forderungen stellen zu können.
Oft kommt es vor, dass ein Arbeiter z.B. einen Wochenlohn einfordert. Meistens ist es jedoch nicht nur der Wochenlohn, denn unsere Berechnungen ergeben nicht selten, das dabei weder Überstunden noch der staatliche Mindestlohn berücksichtigt sind. In einem konkreten Fall war eine Frau der Ansicht, dass ihr ein Unternehmer noch 200 Dollar schulde. In Wirklichkeit waren es 20000 Dollar. Das klingt fast unglaublich. Doch tatsächlich ist es so, dass diese Leute oft einen Arbeitstag von zwölf Stunden täglich haben und das an sieben Tagen in der Woche. Dabei kommen sie auf Wochenstunden, die ihnen nicht abgegolten werden. Wenn sich die Rückstände auf einen Zeitraum von ein bis zwei Jahre belaufen, kommt schnell eine solche Summe zusammen.
Das sind keine Einzelfälle. Insgesamt haben wir schon etwa eine Million Dollar von Unternehmen eingetrieben, die Einwanderer ohne Papiere beschäftigen. Die erste Stufe ist die Recherche. Wir wollen dabei auch herausfinden, ob weitere Arbeiterinnen und Arbeiter davon betroffen sind. Denn häufig ist es nicht nur die eine Person, die sich beschwert, sondern gleich mehrere Beschäftigte in diesen Firmen.
Der zweite Punkt, der uns interessiert, sind die Arbeitsbedingungen. Sie sind oft miserabel. Schutzmaßnahmen, die in den USA eigentlich sehr streng sind, werden oft nicht eingehalten. Zum Teil sind die Arbeiter einer erheblichen Schadstoffbelastung ausgesetzt, ohne überhaupt darüber informiert zu sein.

Wie gelingt es dann tatsächlich, die Unternehmer zur Zahlung der ausstehenden Gehälter zu zwingen?
Der zweite Schritt besteht darin, dass mit diesen Informationen gearbeitet wird. Der erste Schritt ist deshalb wichtig, weil es dabei auch darum geht, den Arbeiter zu überzeugen, ihn zum Mitmachen zu bewegen. Sonst ist jede Mühe umsonst. Er muss selber darauf bestehen, dass etwas passiert. Zunächst schreiben wir an den Unternehmer und listen ihm seine Schulden und Vergehen auf. Dann sind zwei Szenarien möglich: entweder gibt der Unternehmer alles zu und signalisiert Verhandlungsbereitschaft oder streitet die Vorwürfe ab. Meistens tritt der zweite Fall ein. Die Firma behauptet dann, der Inhalt unseres Schreibens sei an den Haaren herbeigezogen, der Beschäftigte sei ein notorischer Lügner, hätte gestohlen und sei deshalb entlassen worden.
Dann kommt die nächste Eskalationstufe: Wir informieren die Medien, die Mitglieder des LWC und organisieren Protestmärsche. Vor den Geschäften steht regelmäßig eine schreiende Menschenmenge. Wir rufen Kunden der Firmen an und rufen zum Boykott auf. Spätestens auf dieser Stufe knicken die meisten Unternehmer ein. Sie sehen, dass sie sich mit ihrem Verhalten nur selbst schädigen und versuchen dann, möglichst schnell einzulenken.
Doch manchmal zeigt nicht einmal das Wirkung. Die Aktionen werden dann zwar weitergeführt, aber zusätzlich wenden wir uns an öffentliche Stellen, z.B. das Arbeitsministerium. Die beginnen mit einer eigenen Überprüfung der Informationen, die sie von uns erhalten. In nahezu allen Fällen kommen sie zu den selben Ergebnissen. Anschließend gibt es eine formelle Beschwerde.
Vor zwei Jahren ist ein Gesetz verabschiedet worden, das die Unternehmen verpflichtet, auch tatsächlich 100% der angehäuften Schulden zu bezahlen. Denn in der Praxis hatte es sich bei größeren Ansprüchen der Einwanderer eingeschliffen, dass das Arbeitsministerium das erste Angebot der Firma angenommen hat. Die lagen meistens weit unter der eingeforderten Summe und das Arbeitsministerium erklärte, dies sei besser als gar nichts. Standen z.B. 30000 Dollar aus, willigte das Arbeitsministerium in die Zahlung von 5000 Dollar ein und schloss den Fall ab. Mittlerweile ist es so, dass Wiederholungstäter nicht nur 100% an den Arbeiter zahlen, sondern die gleiche Summe als Strafzahlung an das Arbeitsministerium abgeben müssen. Das ist natürlich ein zusätzlicher Anreiz für die Behörde, die damit auch ihre eigenen Kassen füllt.
Wenn all diese Maßnahmen nichts bewirken, gehen die Vertreter des Arbeitsministerium vor Gericht. Dann kann es auch zu Haftstrafen für die Firmenmanager kommen.

Welchen Anteil hat die Arbeit gegen rassistische Diskriminierungen?
Wir intervenieren z.B. bei Abschiebungen, von denen wir rechtzeitig erfahren. Das ist einer der Bereiche, in dem wir zur Zeit am aktivsten sind. Wenn die Einwanderungsbehörde (INS) Razzien durchführt, erhalten wir oft Anrufe von den betroffenen Beschäftigten dort. Es sind immer einige darunter, die unsere Telefonnummer haben. Wir mobilisieren dann über eine Telefonkette dorthin. Denn den Beschäftigten ohne Papiere drohen dann nicht nur massive Geld-, sondern auch Haftstrafen und nach derzeitiger Gesetzeslage unter Umständen die Abschiebung.

Was hält das LWC vom AFL-CIO-Vorstoß zur Legalisierung der Einwanderer ohne Papiere?
Das ist eine wirklich gute und gerechte Entscheidung. Jahrelang hat sich die AFL-CIO geweigert anzuerkennen, dass der nordamerikanische, weiße Arbeiter schon längst nicht mehr der Norm ihres Mitgliederpotenzials entspricht. Der Gewerkschaftsdachverband hat sich offen für eine Abschottungspolitik gegenüber Einwanderern eingesetzt. Die Zusammensetzung der abhängig Beschäftigten und damit das gewerkschaftliche Klientel hat sich jedoch drastisch verändert.
Mittlerweile machen die Einwanderer einen großen Teil der Gewerkschaftsmitglieder aus. In den Organisationskampagnen der Gewerkschaften engagieren sich immer mehr von ihnen, darunter auch viele Latinos. Gewerkschaftliche Kampagnen können nur noch mit ihrer Unterstützung erfolgreich durchgeführt werden. Das gilt sowohl für Lohnkämpfe als auch für die um verbesserte Arbeitsbedingungen. Organisationen wie das LWC werden durch die Entscheidung des Gewerkschaftsdachverbands ebenfalls aufgewertet.
Wichtig ist, dass die Einwanderer nicht länger als Feinde angesehen werden und die weißen Nordamerikaner, die abhängig beschäftigt sind, sich nicht durch sie angegriffen fühlen. Die Resolution der AFL-CIO ist ein wichtiger Schritt dahin.

Was folgt nach der Legalisierung?
Nicht anschließend, sondern gleichzeitig zur Intitiative der AFL-CIO setzt sich das LWC gemeinsam mit anderen Organisationen für die Einführung eines USA-weiten Mindestlohns ein. In New York liegt er derzeit mit 4,25 Dollar fast einen ganzen Dollar unter dem Durchschnitt. Mit einem einheitlichen Mindestlohn könnte die Lohnkonkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zumindest abgeschwächt werden.



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