Sozialistische Zeitung |
Jene soziale Bewegung, wie sie zumindest in Europa während der letzten Jahre erkennbar wurde, steht
vor einer wichtigen Entscheidung. Will sie eine feste, anerkannte und ernstzunehmende Größe werden, dann ist es unabdingbar, all
die betroffenen Gruppen, zunächst auf europäischer Ebene, in einem noch zu gründenden Netzwerk zu sammeln und
miteinander ins Gespräch zu bringen, einem Netzwerk, das in der Lage wäre, diese Kräfte zu bündeln, ihre Ziele
aufeinander abzustimmen und schließlich ein gemeinsames Vorgehen zu erarbeiten: Gewerkschaften, die Bewegung der Arbeitslosen,
Obdachlosen oder Staatenlosen, Frauengruppen, Homosexuelle, Umweltvereinigungen und viele andere.
Denn diese Bewegungen haben trotz all ihrer Unterschiede, trotz der
manchmal bestehenden Meinungsverschiedenheiten, zumindest eines gemeinsam: sie verteidigen jene, die heute von der neoliberalen Politik
immer mehr einem ungewissen Schicksal preisgegeben werden, und greifen gleichzeitig all die gesellschaftlichen Probleme auf, die diese
Politik dabei zurückgelassen hat. Es sind dies Probleme, die auch und gerade von den sozialdemokratischen Parteien verharmlost oder
verdrängt werden, von sozialdemokratischen Regierungen, die sich gegenwärtig vor allem darum bemühen, die bestehende
Wirtschaftsordnung zu verwalten und hinter einem letzten Rest staatlicher Handlungsfreiheit verschanzen, und sich dabei immer bedenkenloser
mit den wachsenden gesellschaftlichen Ungleichheiten, mit allgemeiner Arbeitslosigkeit und der Prekarisierung ganzer
Bevölkerungsgruppen abgefunden haben. Gerade deshalb brauchen wir eine wirkliche kritische Gegenmacht, die imstande ist, diese
Probleme immer wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen, durch neue, insbesondere symbolische Formen des Handelns, um immer
wieder, wie es auch in Seattle geschehen ist, die grundlegendsten Wünsche der Bürger zum Ausdruck bringen.
Diese kritische Gegenmacht gegen die internationalen Mächte des
Markts muss selbst international sein, und die Europäer können hier einen Anfang machen. Weil es diese Bewegung mit
konservativen und restaurativen Kräften zu tun hat, Kräften, die sich insbesondere mit ihren Versuchen eines Abbaus, wenn nicht
gar der letztendlichen Zerstörung des "Wohlfahrtsstaats" auf eine Wiederherstellung der Vergangenheit richten, muss sie eine
mächtige Bewegung sein, die erst dann, wie die sozialen Bewegungen des 19.Jahrhunderts, Staaten und Regierungen drängen
könnte und müsste, wirksame Maßnahmen für eine Kontrolle der Finanzmärkte zu ergreifen und eine gerechtere
Verteilung des Reichtums der Nationen, in ihnen und zwischen ihnen durchzusetzen.
Deshalb schlagen wir vor, bis Ende des Jahres 2000 Generalstände
der sozialen Bewegungen in Europa einzuberufen, mit dem Ziel, eine gemeinsame Charta auszuarbeiten, und Grundlagen für eine
internationale Struktur zu schaffen, die alle möglichen organisatorischen und intellektuellen Formen des Widerstands gegen die
neoliberale Politik bündelt, gleichzeitig aber ihre Unabhängigkeit gegenüber den Parteien und Regierungen, insbesondere
gegenüber den Regierungsparteien, bewahrt.
Diese Treffen müssten zunächst einen offenen Austausch
über unterschiedliche Vorstellungen und Ziele gesellschaftlicher Veränderung ermöglichen können, die sich alle den
gegenwärtig beobachtbaren ökonomischen und sozialen Prozessen (Flexibilisierung, Prekarisierung, Pauperisierung)
entgegenstellen und die damit einhergehende Politik der "inneren Sicherheit" bekämpfen, mit der heute fast alle
europäischen Regierungen die Auswirkungen dieser Prozesse einzudämmen versuchen. Zweitens sollen sie Gelegenheit geben,
dauerhaftere und festere Beziehungen zu knüpfen, die eine schnelle Mobilisierung aller beteiligten Gruppen im Hinblick auf gemeinsame
oder aufeinander abgestimmte Aktionen ermöglichen, ohne dabei irgendeine Form zentralistischen Zwangs einzuführen, und ohne
den ungeheuren Reichtum zu zerstören, den die einzelnen Gruppen mit ihrer jeweiligen Eigenart und ihrer unterschiedlichen Geschichte in
eine solche Bewegung einbringen könnten. Drittens schließlich könnten diese Treffen gemeinsame Ziele für ihre
Aktionen auf nationaler und internationaler Ebene ausarbeiten und abstimmen, die alle auf die Schaffung einer solidarischeren Gesellschaft
gerichtet sind, deren Grundlage die Anerkennung, Vereinheitlichung und Erweiterung ihrer sozialen Errungenschaften bilden.
Eine solche Sammlung all jener Kräfte, die in ihrem
tagtäglichen Kampf gegen die verhängnisvollsten Auswirkungen der neoliberalen Politik ein praktisches Wissen um deren
zerstörerisches Potenzial und die kreativen Möglichkeiten eines dagegen aufgebrachten Widerstands erworben haben, könnte
auf diese Weise einen gemeinsamen schöpferischen Prozess in Gang bringen, und so den vielen Menschen, die sich in dieser Welt nicht
mehr erkennen, eine realistische Utopie eröffnen, in der sich durchaus manchmal unterschiedliche und eigenständige, aber dennoch
auf gemeinsame Ziele hinwirkende Bemühungen im Kampf um ein selbstbestimmtes Leben wiederfinden und verbünden
könnten.
Wir bitten Sie, diesen Aufruf mit Ihrem Namen zu unterstützen. Er wird am 1.Mai 2000 der europäischen
Öffentlichkeit vorgestellt und versteht sich als ein erster Schritt zur Einberufung von Generalständen der sozialen Bewegungen
Europas im September 2000, die einen offenen Austausch und Entschließungen für ein gemeinsames Vorgehen aller sozialen
Bewegungen in sämtlichen europäischen Ländern ermöglichen sollen.
Unterzeichnerinnen und Unterzeichner:
Frankreich: Pierre Bourdieu (Collège de France); APEIS;
Christophe Aguiton (AC!); Annick Coupé (SUD-PTT); Alain Lipietz; Deutschland: Jochen Gester (IG Metall);Detlef Hensche (IG
Medien); Horst Schmitthenner (IG Metall); Hans-Jürgen Urban (IG Metall); Joachim Voigt (Geschäftsführer GEW-OV
Hilden); Beatrice Wuppermann (Bremen); Euromarsch; Portugal: Luis Miguel Duarte (Univ. Porto); Margarida Garrido (Bürger gegen
den Krieg); Großbritannien: Ken Coates; Mike Hall (Univ. Brighton); David Held (London School of Economics); Italien: Giorgio
Cremaschi (Gen.Sek.FIOM-CGIL Piemont); Gigi Malabarba (Koord. Naz. S.in Cobas); In Marcia per il lavoro; Coord. Naz. LSU/LPU;
Griechenland: GSEE (Allgemeiner Gewerkschaftsbund); OTOE (Gewerkschaftsbund der Bankangestellten); u.v.a.
Unterschriften an: raisonsdagir@hotmail.com.
Link: http://www.zeg.org/raison/Charta_2000.htm.