Sozialistische Zeitung

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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.10 vom 11.05.2000, Seite 15

Tony Cliff (1917-2000)

Nachruf

Am 9.April starb in London Tony Cliff mit 82 Jahren. Er wurde im Mai 1917 in Palästina als Sohn einer alteingesessenen jüdischen Familie unter dem Namen Yigal Glickstajn geboren. Einige Monate nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde er wegen eines Flugblatts, in dem er die imperialistische Politik der britischen Mandatsregierung verurteilt hatte, ohne Gerichtsverfahren interniert. Er gehörte damals den Chugim Marxistim (Marxistische Kreise) an, der Jugend der "Linken Poale Zion". Das war ursprünglich eine aus der III.Internationale wegen ihres Zionismus ausgeschlossene jiddische Organisation. Unter der Führung von Jizchaki (der ebenfalls interniert wurde) spaltete sich eine Gruppe von ihr ab, die um Kontakt zur Jugend zu gewinnen zur hebräischen Nationalsprache überging.
Yigal Glickstajn, der sich dem Trotzkismus annäherte, gab, um sich von der Kol Ha‘am (Volksstimme) der Kommunistischen Partei abzugrenzen in Hebräisch die Kol Hama‘amad (Stimme der Klasse) heraus. Auf Arabisch erschien unter der Redaktion von Gabriel Bär hektografiert Sa ut el Chaq (Stimme des Rechts). Der kleinen arabisch-jüdischen Organisation gelang es über ihre Genossin Chana Ben Doff, einer Malerin, die den Auftrag eines ägyptischen Nabobs erhalten hatte, seinen Palast zu verschönern, die Verbindung zur bedeutenden Kairoer Literaturzeitschrift Megalla Gedida herzustellen. Diese stand ebenfalls im Ruf trotzkistisch zu sein.
Palästina war damals die Drehscheibe für die Armeen der "Alliierten", die sich dort darauf vorbereiteten, die von deutschen Nazis und italienischen Faschisten besetzten Länder Jugoslawien und Griechenland zurückzuerobern und in Italien selbst zu landen. Die britischen Soldaten, die trotzkistischen Gruppen angehörten, hatten, wenn sie in Palästina eingesetzt wurden, meist Adressen der dortigen Genossen im Gepäck, auf deren Hilfe sie rechnen konnten, um in der Armee ihre Ideen zu verbreiten.
Es gab neben der Gruppe von Yigal noch eine andere sich auf Trotzki berufende Gruppe und Persönlichkeiten wie den aus der KP wegen seiner Verurteilung der Moskauer Prozesse ausgeschlossenen Rechtsanwalt Mordechaj Stein, der Haor und El Nur (Das Licht) herausgab und sich in Massenversammlungen von Arabern Gehör verschaffen konnte. Er trat für die Teilung Palästinas als Lösung des jüdisch-arabischen Konflikts ein, noch ehe diese mit der Stimme der UdSSR von der UNO beschlossen wurde.
Als der erste arabisch-israelische Krieg 1948 als Folge der Teilung ausbrach und hunderttausende Araber entweder flohen oder zumeist vertrieben wurden, sahen viele antizionistische, internationalistische Sozialisten für sich kaum noch politische Erfolgschancen. Sie gingen in die Länder zurück, aus denen sie vertrieben worden waren, und erwarteten, dass die Niederlage des Faschismus dort zu revolutionären Umwälzungen führen werde. Yigal Glickstajn, der die südafrikanische Lehrerin Chanie geheiratet hatte, die seine lebenslange Gefährtin bleiben sollte, wanderte nach Großbritannien aus. Seine Gruppe in Palästina löste sich langsam auf. Die trotzkistische Bewegung fand ihre Fortsetzung in der Gruppe Matzpen (Kompass), der es gelang hervorragende Intellektuelle (wie Jabra Nicola) zu gewinnen, die jedoch in dem mit weiteren Kriegen aufgeheizten politischen Klima keine Wirksamkeit erzielen konnte.
Der britische Geheimdienst sorgte dafür, dass Yigal in London keine Aufenthaltserlaubnis erhielt. Er musste nach Irland übersiedeln, wo er fünf Jahre lang in bitterer Armut lebte. Als er nach London zurückkehren durfte, schloss er sich der Revolutionary Communist Party (RCP), der damaligen britischen Sektion der IV.Internationale, an. Als Ted Grant, einer der Führer der RCP, der später die Militant-Gruppe in der Labour Party gründete, zu der Ansicht kam (die er wenig später wieder aufgab), die Sowjetunion sei kein "bürokratisch degenerierter Arbeiterstaat", sondern "staatskapitalistisch", wurde Yigal - er hatte inzwischen den Namen Tony Cliff angenommen - beauftragt, dies theoretisch zu widerlegen. Er kam jedoch selbst zu der Auffassung vom staatskapitalistischen Charakter der UdSSR und hielt daran bis an sein Lebensende fest.
Aber, so Phil Hearse in der australischen "Green Left Weekly"*, "die Staatskapitalismus-Theorie hinderte die Cliff-Tendenz nicht daran, die antistalinistische Revolution in Ungarn 1956 zu unterstützen und auf der Seite des vietnamesischen Volkes in seinem Befreiungskampf zu stehen". Die Cliff-Gruppe, die sich jetzt International Socialists (IS) nannte, rekrutierte in der ersten Welle der britischen Anti-Atom-Bewegung 1958-63 Anhänger. Sie veröffentlichte die bedeutende marxistische Zeitschrift International Socialism, war organisatorisch bei den Young Socialists der Labour Party verankert, stand jedoch im Windschatten der Gefolgschaft von Gerry Healys Socialist Labour League.
Mitte der 60er Jahre gaben die IS ihre "entristische" Taktik - ihre Zugehörigkeit zur Labour Party - auf. Die Studenten- und Solidaritätsbewegung mit Vietnam gewann danach an Schwung und das führte den IS neue Mitglieder zu.
1968 wurde mit dem Generalstreik in Frankreich, der Wende im Vietnamkrieg, dem "Prager Frühling", der Rolle, die die trotzkistischen Organisationen Lutte Ouvrière und JCR 1968 in Frankreich spielten, für Tony Cliff zum Signal, seine in einer Broschüre über Rosa Luxemburg vertretene spontaneistische Auffassung von Organisation um 180 Grad umzukehren. Er wurde zu einem glühenden Anhänger der leninschen Organisationsprinzipien, die er jedoch reichlich überzogen hat.
Im ersten Band seiner Lenin-Biografie "stellte er Lenin als Meistertaktiker dar, dessen theoretische Auffassungen stets eine Funktion seiner letzten taktischen Wende war. Dies verkehrte das Verhältnis von Theorie und Praxis bei Lenin ins Gegenteil. Das aber war eine allzu offensichtliche Rechtfertigung für scharfe und unerklärbare taktische Winkelzüge" (Phil Hearse).
In den frühen 70er Jahren gewannen die IS an Stärke. Konflikte mit Gruppen innerhalb der Socialist Workers Party (SWP), wie die Organisation sich jetzt nannte, die mit einer breiten Linken zusammenarbeiten wollten, führten zum Ausschluss führender Kader und Mitglieder, die in den Betrieben verankert waren, aus der SWP.
1977 startete die SWP mit bekannten Sportlern, Musikgruppen und linken Labour-Funktionären die Anti-Nazi League (ANL), die mit ihren Massenfesten und Rockkonzerten hunderttausende Jugendliche mobilisierte. Die SWP profitierte hiervon durch einen erheblichen Zuwachs an Mitgliedern. Allerdings hatte sie dank ihrer harschen Organisationsmethoden und der Abgrenzung gegen ander Linke den Ruf erlangt, dogmatisch, sektiererisch, engstirnig und opportunistisch nur auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein. Während der portugiesischen Revolution 1974/75 hatte sie sich mit der ultralinken PRP-BR verbündet, die im November 1975 an dem Putsch beteiligt war, der zum Niedergang der Bewegung in Portugal beigetragen hat.
Cliff und die SWP versuchten eine eigene revolutionäre internationale politische Gruppierung aufzubauen, standen sich aber durch die Führungsrolle, die sie in jedem Land beanspruchten, selbst im Wege. Tatsache ist jedoch, dass die SWP die bedeutendste linke Organisation außerhalb von Labour ist. Allerdings wird sie mit dem Auftauchen der Scottish Socialist Party, die mit einer klaren Haltung zur Einheit der Linken Wahlerfolge erzielt hat, vor eine neue Herausforderung gestellt. Offenbar versucht die SWP deshalb eine Wende zu vollziehen. Denn zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren beteiligt sie sich bei den Wahlen zum Londoner Stadtrat an einem breiten sozialistischem Bündnis, der London Socialist Alliance (LSA).
"Tony Cliff hat eine wichtige Partei aufgebaut, die dem Kapitalismus ebenso unbeugsam feindlich gegenübersteht wie der Bürokratie in der Arbeiterbewegung und allen Formen von Ausbeutung und Vorrechten. Das ist eine außerordentliche Leistung. Gestützt hierauf und das Potenzial von tausenden SWP-Mitgliedern muss die Partei sich von ihrer Feindseligkeit gegenüber selbstorganisierten Bewegungen der Unterdrückten, anderen Linken in Großbritannien und internationalen revolutionären Tendenzen lösen", so das Fazit von Phil Hearse.

Jakob Moneta

*Phil Hearse: Tony Cliff - a life for revolution. In: Green Left Weekly, Nr.402, 19.April 2000.


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