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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.11 vom 25.05.2000, Seite 12

Wer protestierte in Washington?

Gewerkschaften und IWF

Die Frühjahrsversammlung des Internatioanlen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank in Washington war erneut Anlass breiter Mobilisierungen gegen die neoliberale Globalisierung - mit Demonstrationen, Straßenblockaden, Hunderten von Verhaftungen. Pierre Tartakowsky, Generalsekretär von ATTAC Frankreich, und Christophe Aguiton von der französischen Gewerkschaft SUD Telecom waren vor Ort. Das folgende Interview führte die französiche Wochenzeitung Rouge mit Christophe Aguiton.


Wer ist in Washington auf die Straße gegangen?

Es hat eine ganze Aktionswoche gegeben, in der es drei Höhepunkte gab: eine erste Demonstration am 9.April von Jubilee South, die die Schuldenstreichung für die Länder des Südens gefordert hat. Am 11.April gab es eine weitere Demonstration, diesmal vom gewerkschaftlichen Dachverband AFL-CIO und der Organisation Public Citizen gegen eine neue Verhandlungsrunde der WTO und gegen den Beitritt Chinas zur WTO.
Diese letzte Forderung muss man werten als Protest gegen die Menschenrechtspolitik der Regierung in Peking und als Kampf gegen die Konkurrenz von Produkten, die unter Bedingungen hergestellt werde, wo jede Sozialgesetzgebung und eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung fehlen.
Die größte und wichtigste Demonstration, von der die Medien gesprochen haben, war die vom 16.April zur Eröffnung der Frühjahrstagung von IWF und Weltbank. Sie wurde organisiert von einem breiten Bündnis namens "50 Jahre das reicht"; eine der Hauptkräfte in diesem Bündnis ist das Direct Action Network (DAN), eine Organisation, die sich schon in Seattle hervorgetan hat. Dieses Netzwerk hat die Radikalisierung eines bedeutenden Teils der US-amerikanischen Jugend zum Ausdruck gebracht: 80% der in Washington Demonstrierenden sind seinem Aufruf gefolgt und haben die Innenstadt total blockiert, damit die Versammlung des IWF behindert.
Die Jugendlichen, die hinter dem DAN stehen, sind zum allergrößten Teil Studentinnen und Studenten; Schwarze und Chicanos sind nur wenig vertreten. Sie sind für Formen der Gegenkultur, für libertäre oder radikal-ökologische Themen sehr empfänglich.
Das DAN funktioniert als Netzwerk, das unter Ausnutzung von gesetzlich anerkannten Rechten Bezugsgruppen organisiert und sich in den Nischen des US-amerikanischen Systems festsetzt. Es ist eine sehr radikale Bewegung; mehrere tausend Jugendliche haben sich an den Initiativen von DAN beteiligt, obwohl sie wussten, dass sie verhaftet werden könnten. Sie weist Ähnlichkeiten mit der britischen Bewegung Reclaim the Street auf, die die Demonstrationen im Juni vergangenen Jahres organisiert hat und am 1.Mai in London auf der Straße war. Auch mit einem Teil der Studierenden der Universität von Mexiko-Stadt (UNAM), mit den deutschen Autonomen, den "sozialen Zentren" in Italien. Das sind Formen der Jugendradikalisierung, die wir in Frankreich nicht kennen.

Was hat die Beteiligung der US-amerikanischen Gewerkschaften zu bedeuten?

Die Beteiligung der AFL-CIO in Seattle wie in Washington zeigt einen tiefgreifenden Wandel in der US-amerikanischen Gewerkschaftsbewegung an. Diese hat in den letzten Jahrzehnten eine schwere Krise durchgemacht, wie in allen entwickelten Ländern, aber mit ernsteren Folgen auf der gesetzlichen Ebene: Die US-Rechtsprechung fordert heute z.B. eine Abstimmung in den Betrieben darüber, ob eine Gewerkschaft als Vertretung anerkannt ist oder nicht. Die US-Gewerkschaften leiden unter einer Legitimitätskrise und unter der Schrumpfung ihrer sozialen Basis (vor allem in der Metallindustrie und im öffentlichen Dienst); in der sog. New Economy sind sie so gut wie nicht vertreten.
1995 wurde die Führungsspitze der AFL-CIO erneuert; fortan gibt es Bestrebungen, die Organisation in den neuen Wirtschaftszentren und unter den neuen Schichten von abhängig Beschäftigten aufzubauen: ethnischen Minderheiten, Angestellten, ungeschützt Beschäftigten, Frauen. Diese Orientierung hat die AFL-CIO bewogen, den Forderungen dieser neuen Gruppen gegenüber aufgeschlossener zu sein (z.B. für die Legalisierung der sog. illegalen Einwanderer zu kämpfen) und mit den sozialen Organisationen, die in diesen Milieus arbeiten, zu kooperieren.
Die Öffnung zu den sozialen Bewegungen, die schon in Seattle spürbar war, ist in Washington noch größer geworden. Vertreter der AFL-CIO haben sich an den "Sprecherräten" beteiligt, das sind "geheime" Treffen der Gruppen vom DAN, die die Blockade der Hauptversammlung des IWF und der Weltbank organisiert haben. Eine solche Praxis wäre für Gewerkschaften in anderen entwickelten Ländern undenkbar!

Gibt es nicht auch einen protektionistischen Aspekt in den gewerkschaftlichen Mobilisierungen?

Das Auftreten der Gewerkschaften war widersprüchlich. Es gibt in den US-amerikanischen Gewerkschaften heute auch starke linke Strömungen. Die finden wir z.B. in der Bewegung Jobs with Justice, ein Netzwerk für die Verteidigung der Rechte der Arbeiter und gegen die Unternehmensglobalisierung. Vor allem zwei Gewerkschaften waren sehr aktiv an der Organisierung der Demonstration vom 16.April beteiligt: die CWA (Telecom-Arbeiter) und die Stahlarbeiter.
Vor allem die Stahlarbeiter reflektieren sehr gut den Widerspruch, der die Erneuerung der US-amerikanischen Gewerkschaftsbewegung heute begleitet: Sie waren diejenigen, die am stärksten in der Demonstration involviert waren, die an den spektakulärsten Aktionen von DAN teilgenommen und stolz darauf waren, dass Mitglieder aus ihren Reihen in Seattle zusammen mit den "Jungen" verhaftet wurden. Gleichzeitig sind sie gegen Chinas Beitritt zur WTO, und das durchaus in einer protektionistischen Logik.

Gab es eine internationale Beteiligung an den Demonstrationen?

Sehr wenig. Aber die Hauptthemen, die die Mobilisierungen gegen die Globalisierung bestimmen, sind heute international dieselben: die Streichung der Schulden (mit einer starken Aktivität der Kirchen über Jubilee 2000 oder Jubilee South) und der Kampf gegen die WTO. Den Aktionen in Seattle war eine Welle von Demonstrationen vor allem in Frankreich vorangegangen.
Ein drittes Thema schiebt sich heute nach vorn, das ist der Kampf gegen die Spekulation (für die Besteuerung des Spekulationskapitals, wie ATTAC sie fordert, für die Schließung der Steuerparadiese usw.). Bisher waren Hauptversammlungen des IWF und der Weltbank noch nicht Schauplatz so großer Mobilisierungen gewesen, wenn man die Demonstrationen in Korea gegen die Strukturanpassungspläne und die Kampagne "50 Jahre das reicht!" ausnimmt, die 1997 in den USA die Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen von Bretton Woods begleitet haben.
Die Demonstrationen vom April 2000 in Washington sind so etwas wie ein Startzeichen; die nächste Etappe wird die Herbstversammlung der IWF und der Weltbank in Prag sein.



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