Sozialistische Zeitung |
Das explosionsartige und weltweite Aufkommen neuer nationalistischer und religiöser Bewegungen in
den 90er Jahren ist ein Produkt der weltweit in die Krise gekommenen instrumentellen Rationalität. Sei es die instrumentelle
Rationalität der kapitalistischen Akkumulation, sei es die des bürokratischen Produktivismus, auf beide Krisen reagieren
zunehmend mehr Menschen mit einem Rückgriff auf grundsätzlich irrationalistische Ideologien wie Religion und Nationalismus, da
die sozialistische Linke weltweit in einer tiefen ideologischen Krise stecke und kaum nennenswerte Antworten auf diese herrschende Krise zu
geben vermag. So jedenfalls Michael Löwy in seinem neuen Buch.*
Löwy lässt keine Zweifel daran, dass sozialistische Linke ihre
Politik weder auf Nationalismus gründen, noch sich nationalistischer Argumentationen bedienen dürfen. Es geht ihnen stattdessen
grundlegend um den Kampf von Klassen und Interessen. Volksgemeinschaften sind vor diesem Hintergrund mystische Abstraktionen, deren
Anrufung reaktionären Interessen dient. Sozialismus war und bleibt dagegen grundsätzlich internationalistisch. Subjektiv wegen des
moralischen Imperativs seiner universellen und humanistischen Werte. Und objektiv, weil dieser Internationalismus die konkreten und
materiellen Bedingungen von Weltwirtschaft und Weltpolitik widerspiegelt. Es ist weniger die Gleichartigkeit unterschiedlicher nationaler
Bedingungen als ihre untrennbare gegenseitige Abhängigkeit, die praktischen Internationalismus zur einer historischen Notwendigkeit
werden lässt.
Das Plädoyer für einen nichtnationalistischen, sozialistischen
Internationalismus löst jedoch noch nicht das Problem, wie man mit Nationalismus und nationalen Bewegungen konkret politisch umgeht.
Und in diesem, Löwy besonders am Herzen liegenden Punkt, wendet er sich explizit und theoretisch fundiert gegen den nationalen
Nihilismus der Linksradikalen, die jede Form von Verständnis und Zusammenarbeit mit nationalen Bewegungen verbissen ablehnen.
Löwy aktualisiert stattdessen den klassischen Marxismus von Otto
Bauer, Lenin u.a., die bemüht waren, die nationale Frage differenziert zu historisieren. Eine sozialistische Bewegung, die nicht an
emanzipative nationale Traditionen anzuknüpfen versteht, verharrt ihm zufolge im Sektierertum. Und eine sozialistische Bewegung, die
die Kunst der kritischen Solidarität mit nationalen Befreiungsbewegungen nicht kennt, macht sich zum Komplizen herrschender
Unterdrückung. Auch heute, so Löwy, zeigen sich solcherart progressive Tendenzen im neuen Nationalismus, sei es in
Lateinamerika, sei es in Osteuropa.
In der marxistischen Interpretation der nationalen Frage gibt es im
Wesentlichen zwei Traditionen. Die eine geht auf Karl Kautsky und Stalin zurück und betont die objektiven Kriterien der
Nationalität, Ökonomie, Sprache, Territorien etc. Die andere, auf Otto Bauer und Leo Trotzki zurückgehende Tradition betont
weniger diese ökonomischen und deterministischen Kriterien als die historischen und kulturellen, das Bewusstsein nationaler
Identitäten, die Lebendigkeit nationaler Kulturen und das Bestehenden nationaler politischer Bewegungen.
Löwy argumentiert aus der zweiten Traditionslinie und betrachtet
Otto Bauers Historizismus als die der Widersprüchlichkeit der nationalen Frage am nächsten kommende Methodik. In
Anknüpfung an Lenin ist ihm das Recht auf Selbstbestimmung ein universelles, das auch für nationale Bewegungen gilt. Nur wer
zwischen unterdrückenden und unterdrückten Nationen zu unterscheiden weiß, findet die adäquate sozialistische
Antwort auf die politischen Herausforderungen der Zeit.
Michael Löwys Rekonstruktion marxistischer Diskussionen der
nationalen Frage ist in ihrer theoretischen Grundlegung und in ihrem politischen Engagement überzeugend. Schwach, weil
ungenügend ausgeführt, ist sie da, wo es um die Behandlung konkreter Nationalismen geht. Weil es ihm explizit um die
theoretischen Grundlagen, weniger um historisierende Einzelanalysen geht, überschätzt er auffallend oft, wie er übrigens
selbstkritisch zugibt, die progressiven Möglichkeiten nationalistischer Bewegungen. Diese tendenzielle Unterschätzung der
negativen Folgen nationalistischer Ideologie drängen sich dabei dem deutschen Leser, der deutschen Leserin deutlicher auf. Doch bleibt
dies eine Frage der Anwendung seiner Methode, nicht eine Frage dieser Methodik selbst.
Christoph Jünke