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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.11 vom 25.05.2000, Seite 15

Sozialismus und Nation

Michael Löwy, Internationalismus und Nationalismus. Kritische Essays zu Marxismus und "nationaler Frage", Köln (Neuer ISP Verlag) 1999, 202 Seiten, 29,80 DM.

Das explosionsartige und weltweite Aufkommen neuer nationalistischer und religiöser Bewegungen in den 90er Jahren ist ein Produkt der weltweit in die Krise gekommenen instrumentellen Rationalität. Sei es die instrumentelle Rationalität der kapitalistischen Akkumulation, sei es die des bürokratischen Produktivismus, auf beide Krisen reagieren zunehmend mehr Menschen mit einem Rückgriff auf grundsätzlich irrationalistische Ideologien wie Religion und Nationalismus, da die sozialistische Linke weltweit in einer tiefen ideologischen Krise stecke und kaum nennenswerte Antworten auf diese herrschende Krise zu geben vermag. So jedenfalls Michael Löwy in seinem neuen Buch.*
Löwy lässt keine Zweifel daran, dass sozialistische Linke ihre Politik weder auf Nationalismus gründen, noch sich nationalistischer Argumentationen bedienen dürfen. Es geht ihnen stattdessen grundlegend um den Kampf von Klassen und Interessen. Volksgemeinschaften sind vor diesem Hintergrund mystische Abstraktionen, deren Anrufung reaktionären Interessen dient. Sozialismus war und bleibt dagegen grundsätzlich internationalistisch. Subjektiv wegen des moralischen Imperativs seiner universellen und humanistischen Werte. Und objektiv, weil dieser Internationalismus die konkreten und materiellen Bedingungen von Weltwirtschaft und Weltpolitik widerspiegelt. Es ist weniger die Gleichartigkeit unterschiedlicher nationaler Bedingungen als ihre untrennbare gegenseitige Abhängigkeit, die praktischen Internationalismus zur einer historischen Notwendigkeit werden lässt.
Das Plädoyer für einen nichtnationalistischen, sozialistischen Internationalismus löst jedoch noch nicht das Problem, wie man mit Nationalismus und nationalen Bewegungen konkret politisch umgeht. Und in diesem, Löwy besonders am Herzen liegenden Punkt, wendet er sich explizit und theoretisch fundiert gegen den nationalen Nihilismus der Linksradikalen, die jede Form von Verständnis und Zusammenarbeit mit nationalen Bewegungen verbissen ablehnen.
Löwy aktualisiert stattdessen den klassischen Marxismus von Otto Bauer, Lenin u.a., die bemüht waren, die nationale Frage differenziert zu historisieren. Eine sozialistische Bewegung, die nicht an emanzipative nationale Traditionen anzuknüpfen versteht, verharrt ihm zufolge im Sektierertum. Und eine sozialistische Bewegung, die die Kunst der kritischen Solidarität mit nationalen Befreiungsbewegungen nicht kennt, macht sich zum Komplizen herrschender Unterdrückung. Auch heute, so Löwy, zeigen sich solcherart progressive Tendenzen im neuen Nationalismus, sei es in Lateinamerika, sei es in Osteuropa.
In der marxistischen Interpretation der nationalen Frage gibt es im Wesentlichen zwei Traditionen. Die eine geht auf Karl Kautsky und Stalin zurück und betont die objektiven Kriterien der Nationalität, Ökonomie, Sprache, Territorien etc. Die andere, auf Otto Bauer und Leo Trotzki zurückgehende Tradition betont weniger diese ökonomischen und deterministischen Kriterien als die historischen und kulturellen, das Bewusstsein nationaler Identitäten, die Lebendigkeit nationaler Kulturen und das Bestehenden nationaler politischer Bewegungen.
Löwy argumentiert aus der zweiten Traditionslinie und betrachtet Otto Bauers Historizismus als die der Widersprüchlichkeit der nationalen Frage am nächsten kommende Methodik. In Anknüpfung an Lenin ist ihm das Recht auf Selbstbestimmung ein universelles, das auch für nationale Bewegungen gilt. Nur wer zwischen unterdrückenden und unterdrückten Nationen zu unterscheiden weiß, findet die adäquate sozialistische Antwort auf die politischen Herausforderungen der Zeit.
Michael Löwys Rekonstruktion marxistischer Diskussionen der nationalen Frage ist in ihrer theoretischen Grundlegung und in ihrem politischen Engagement überzeugend. Schwach, weil ungenügend ausgeführt, ist sie da, wo es um die Behandlung konkreter Nationalismen geht. Weil es ihm explizit um die theoretischen Grundlagen, weniger um historisierende Einzelanalysen geht, überschätzt er auffallend oft, wie er übrigens selbstkritisch zugibt, die progressiven Möglichkeiten nationalistischer Bewegungen. Diese tendenzielle Unterschätzung der negativen Folgen nationalistischer Ideologie drängen sich dabei dem deutschen Leser, der deutschen Leserin deutlicher auf. Doch bleibt dies eine Frage der Anwendung seiner Methode, nicht eine Frage dieser Methodik selbst.

Christoph Jünke


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