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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.11 vom 25.05.2000, Seite 16

Erst im Zeitalter der Bombe kann Gewalt verschwinden

Zum Thema "Fortschrittsglaube und Fortschrittskritik" fand Mitte Mai in Köln eine Veranstaltung statt, die die Fragestellung von einem naturwissenschaftlichen Standpunkt und aus der Sicht der Entwicklung der Arbeiterbewegung beleuchtete. Einen dritten Standpunkt brachte JAKOB MONETA ein, gestützt auf das soeben erschienene Buch von Enzo Traverso, Auschwitz denken - Die Intellektuellen und die Shoa.

Der deutsche Titel des Buchs von Traverso trifft den Inhalt weniger gut als der französische, der lautet L‘Histoire déchirée, zu deutsch: Der Riss in der Geschichte - weil es um den "Zivilisationsbruch" durch Auschwitz und Hiroshima geht. Im Gegensatz zum Fortschrittsglauben vieler Liberaler und Sozialisten jedoch, die "dem Gang der Geschichte zufrieden zusahen in der Annahme, es handle sich dabei um einen natürlichen und unvermeidlichen Fortschritt" (Traverso), lässt sich feststellen, dass Karl Marx immerhin schrieb:
"Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt, die Erde und den Arbeiter." (Das Kapital, Bd.I.) Das klingt nicht eben fortschrittsoptimistisch.
Dennoch kann man bei Marx auch eine geradezu enthusiastische Beschreibung des technischen Fortschritts finden, z.B. im Kommunistischen Manifest.
Seltsamerweise war es Max Weber, der ein viel kritischeres Verhältnis zur Modernisierung hatte. Traverso schreibt hierzu: "Max Weber starb 1920, nach einem Krieg, den er im Geist des Pangermanismus erlebt hatte, und dem Beginn einer neuen Epoche, in der er zu den ,Vernunftrepublikanern‘ gehörte, die in ihrem Herzen dem Kaiserreich nachtrauerten. Weber kannte weder den Nazismus noch die Schrecken von Auschwitz ... Gleichwohl war es Weber, der zu Beginn unseres Jahrhunderts eindringlich vor den Gefahren des Modernisierungsprozesses warnte, der nach seiner Auffassung die Möglichkeit einer neuartigen Allianz von Rationalität und Barbarei eröffnete. In der Moderne sah er den unvermeidlichen Siegeszug einer produktiven utilitaristischen ,Zweckrationalität‘, die ... dazu tendierte, die ,Wertrationalität‘ zu ersetzen ... und sich schrittweise jeder ethischen Beschränkung zu entledigen. Diese Rationalisierung werde ... zur Erstickung der Gesellschaft durch einen bürokratischen Apparat, zu einer ,Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit‘ führen. Am Ende des Ersten Weltkriegs gab er dieser düsteren und erzpessimistischen Zukunftsvision prognostische Gestalt ... in seinen Vorträgen von 1919 galt ihm die Herausbildung einer Welt ,ohne Götter und Propheten‘ als das unvermeidliche und schreckliche Schicksal des rationalisierten Westens. Er sah keine Alternative zu dieser Zivilisation der Berechenbarkeit, der Verwaltung der technischen Kälte und des absterbenden Geistes. Im Sozialismus sah er das Risiko einer bürokratischen Herrschaft, die diejenige, die sich im Rahmen des liberalen Kapitalismus entwickelt hatte, noch überbieten würde."
Herbert Marcuse, dessen Werk zum sog. "Weber-Marxismus" gehört, schrieb: "In der Entfaltung der kapitalistischen Rationalität wird so Irrationalität zur Vernunft. Vernunft als rasende Entwicklung der Produktivität, Eroberung der Natur, Erweiterung des Warenreichtums (und seiner Zugänglichkeit für breitere Schichten der Bevölkerung), aber irrational, weil die höhere Produktivität, die Naturbeherrschung und der gesellschaftliche Reichtum zu zerstörenden Kräften werden, zerstörend nicht nur bildlich, im Ausverkauf der höheren Werte, sondern örtlich: Der Existenzkampf verschärft sich innerhalb der Nationalstaaten sowohl wie international, und die aufgestaute Aggression entlädt sich in der Legitimierung mittelalterlicher Grausamkeit (die Folter) und wissenschaftlich betriebener Menschenvernichtung. Hat Max Weber diese Entwicklung vorausgesagt?", fragt Marcuse. "Die Antwort ist: Nein, wenn der Ton auf dem ,Gesagt‘ liegt. Aber sie ist in seiner Begriffsbildung angelegt, und zwar so tief angelegt, dass sie als unabwendbar, als endgütlig erscheint."
"Auschwitz war nicht vorhersehbar", schreibt Traverso. Doch wurden einige seiner Voraussetzungen durch Analysen und Intuitionen vereinzelter Intellektueller frühzeitig kenntlich gemacht. So wies Max Weber auf die Gefahren einer Rationalisierung der Welt hin, die zu einer bürokratischen Herrschaft, zu einer neuen Ära der Sklaverei führt. Franz Kafka beschrieb den Abgrund, der sich in der modernen Welt zwischen den Menschen und einer bürokratischen Vernichtungsmaschinerie auftut, der zuerst die Schwächsten zum Opfer fallen, diejenigen, die ausgelöscht werden, "ohne dass sie etwas Böses getan (hätten). Walter Benjamin beschrieb den destruktiven Charakter einer Technik, die dem imperialistischen Projekt der Beherrschung von Mensch und Natur dient. Weder Weber noch Kafka noch Benjamin konnten sich Auschwitz vorstellen. Ihre Intuitionen lassen sich erst im Nachhinein entziffern. Wir wissen heute jedoch, dass die Wirklichkeit oft die fortgeschrittenste Vorstellungskraft übertrifft."

Die Banalität des Bösen

Hannah Arendt hat den Unterschied zwischen früheren Verfolgungen, Massakern und Völkermorden, bei denen es nach der Definition der UNO um "Verbrechen gegen die Menschheit" ging, und der Ausrottung der Juden durch die Nazis in dem "Angriff auf die menschliche Mannigfaltigkeit als solche" gesehen. Das Verbrechen richtete sich zwar gegen die Juden als besondere Gruppe, aber zugleich gegen die ganze Menschheit.
Hannah Arendt verfolgte den Prozess gegen Eichmann in Jerusalem und entdeckte dort die "Banalität des Bösen". Das in der Geschichte beispiellose Verbrechen der "Endlösung" nahm sich gerade deswegen so monströs aus, weil es von "normalen" Menschen verübt worden war, nicht von grausamen, sadistischen Folterknechten, oder von tragischen, von inneren Konflikten zerrissenen Charakteren.
Die Erkenntnis der "furchtbaren Banalität des Bösen, vor der das Wort versagt und das Denken scheitert", eröffnete eine neue Dimension des Schreckens. Das Beunruhigende und Erschreckende war gerade die Normalität der Täter, sagte Hannah Arendt.
Einige wenige Male ging es im Eichmann-Prozess auch um das Gute, wenn an diejenigen erinnert wurde, die sich über die Gesetze des Hitlerreichs hinwegsetzten und nicht zögerten, mit ihrem Leben dafür zu bezahlen, dass sie Juden geholfen haben.
Der Schriftsteller Günter Anders war es, der im Abwurf von Atombomben auf Nagasaki und Hiroshima den Beginn einer neuen Ära, eine Art "Tag Null" für die ganze Menschheit sah, die nun zum erstenmal die konkrete Möglichkeit ihrer Selbstvernichtung entdeckte. Anders blieb bis zum Rest seines Lebens eine Kassandra, auf die niemand hörte. 1978 schrieb er einen faszinierenden Essay über sein Judentum, in dem er "den unauflöslichen Zusammenhang von Auschwitz und Hiroshima, zwischen der Auslöschung des jüdischen Volkes und der neuen Gefahr einer Vernichtung der ganzen Menschheit aufzeigte" (Traverso).
Die erste industrielle Revolution, sagt Günter Anders, hat Maschinen als Produktionsmittel hervorgebracht; die zweite führte zur Verallgemeinerung der Warenpoduktion (seither werden alle Bedürfnisse durch Waren befriedigt); die dritte macht den Menschen überflüssig und bereitet seine Ersatzung durch die Technik vor. Derart zum "Subjekt der Geschichte" geworden, droht die expandierende Technik die gesamte Menschheit zu zerstören. "Die Verwandlung der Technik in eine Geschichtssubjekt bedeutet unvermeidlich auch das Ende der Geschichte (die Endzeit), weil es Geschichte nur gibt, solange Menschen deren Akteure sind."
Traverso wendet zwar ein, dass in der historischen Perspektive die Deutung von Anders einseitig ist. Denn Hiroshima und Nagasaki waren nicht Resultate einer Völkermordpolitik. Der Abwurf der Atombomben diente vor allem einem politischen Zweck. Er sollte in einer neuen internationalen Kräftekonstellation der Sowjetunion das atomare Potenzial der USA vor Augen führen. Aber Anders war wichtig aufzuzeigen, dass für die Täter Arbeit im Industriezeitalter nicht stinkt, nicht stinken kann. Sie nehmen mit dem Etikett "Arbeit" versehene Massenmordaufträge genauso widerspruchslos hin wie jede andere Arbeit. "Mit bestem Wissen, weil ohne Gewissen."
Doch war es gerade Anders, der mit Claude Eatherty, einem der Hiroshima-Piloten, Verbindung aufnahm. Dieser hatte Schuldgefühle, die ihn bis zum Selbstmordversuch trieben. US-Psychologen brachten die seelische Verfassung des Piloten nicht in Verbindung mit seiner Tat, sondern faselten von einem "Ödipuskomplex". Für Anders bewies das Schuldgefühl von Claude Eatherty aber, dass er ein Mensch geblieben, oder wieder geworden war. Auch er war, wie Anders in seinem ersten Brief an ihn schrieb, "ein Hiroshima-Opfer". Der Fall dieses jungen Amerikaners erhellte das Paradox der modernen technologischen Massaker, deren Akteure mitunter "schuldlos Schuldige" sein konnten.

Fortschritt im Zeitalter der Katastrophen

Das Institut für Sozialforschung von Horkheimer und Adorno vertrat bereits vor 1933 die Ansicht, dass der Einsatz moderner Technik zur Ausrottung des Menschen die antihumanistischen und regressiven Züge des industriellen Fortschritts an den Tag gebracht habe. Aber in seinen "Thesen über den Begriff der Geschichte" in den 50er Jahren betonte Adorno die Notwendigkeit, "den Fortschritt im Zeitalter der Katastrophe" zu denken.
Für das positivistische Denken war Geschichte eine unaufhaltsame Vorwärtsbewegung. In Wirklichkeit sei der Geschichtsverlauf jedoch ein irrsinniges Taumeln in die Katastrophe, ein Fortschritt, der die Menschheit von der Steinschleuder zur Atombombe geführt habe. Dennoch sah Adorno den Traum der Menschheit von der Befreiung erst in der Gegenwart realisierbar, "erst im Zeitalter der Bombe [sei] ein Zustand zu visieren, in dem Gewalt überhaupt verschwände". Erlösung und Vernichtung, Emanzipation und Barbarei wohnen, wie miteinander verfeindete Zwillinge, ein- und derselben historischen Wirklichkeit als alternative Entwicklungsmöglichkeiten inne.
Wenn aber Emanzipation und Barbarei in derselben historischen Wirklichkeit als alternative Möglichkeit vorhanden sind, dann lag Margaret Thatcher mit ihrer Losung "There is no alternative" (Es gibt keine Alternative) völlig falsch. Woran können wir das festmachen? Ich meine, ausschließlich am Widerstand - auch wenn er nicht siegreich ist!
War es nicht Anders, der sagte, dass die Verwandlung der Technik in ein Geschichtssubjekt unvermeidlich auch das Ende der Geschichte bedeutet, weil es Geschichte nur gibt, solange Menschen deren Akteure sind? Dann aber stimmt auch das "Ipcha Mistabra", wie die dialektische Umkehrung aramäisch im Talmud heißt, oder deutsch: "Umgekehrt wird ein Schuh daraus." Solange Menschen Akteure sind, was sich im Widerstand manifestiert, sind sie letzten Endes das Geschichtssubjekt, und nicht die Technik.
Das hat sowohl der Aufstand im Warschauer Ghetto, in Majdanek und anderen Vernichtungslagern wie auch der bewaffnete Befreiungskampf in Buchenwald bewiesen.
Ich gestehe, dass die Bombardierung Serbiens, mit der man Menschen und zielgenau einzelne Gebäude, darunter Krankenhäuser und 400 Schulen, vernichten konnte, ohne dass die Täter nur ein einziges Menschenopfer brachten, mir Angst einjagte. War das nicht die Fortsetzung der Barbarei, wenn die Täter zur Todesmaschinerie wurden, ohne sich irgendeiner Gefahr auszusetzen?
Im Vietnamkrieg hatten die USA 3 Millionen Menschen umgebracht, verloren selbst aber 80.000. Dies zusammen mit der in den USA selber entstandenen Bewegung gegen den Vietnamkrieg zwang die USA zum Rückzug. Es wurde eine herbe Niederlage für die stärkste Weltmacht. Wie aber, wenn es nun möglich ist, straflos, ohne eigene Verluste, Krieg zu führen... wenn es im Land der Täter keinen Widerstand gibt?
Solange es eine demokratische Öffentlichkeit gibt, die nicht mundtot gemacht wird, regt sich Widerstand, wenn auch erst im Nachhinein. In den USA sind es jetzt bedeutende Tageszeitungen, die Mrs. Albrights "rüden diplomatischen Stil" tadeln, ihr sogar vorwerfen, "auf dem Balkan einen unnötigen Krieg" provoziert zu haben, indem sie die Konferenz von Rambouillet falsch handhabte.
General Powell, ehemaliger Chef des US-Generalstabs, schreibt in seinen Memoiren, Albright werde nicht umsonst die "Falkin der US-Außenpolitik" genannt. Sie habe ihm vorgeworfen: "Was nutzt es, dass wir dieses wunderbare Militär haben, von dem Sie dauernd sprechen, wenn wir es nicht einsetzen können?" Der ehemalige Generalstabschef notiert in seinem Buch, vor lauter Empörung über diese Aussage habe er fast einen Herzschlag bekommen. Es gibt also noch US-Generäle, die ein Herz haben, das sich rühren lässt.
Wenn wir gleichzeitig erfahren, dass in Norwegen ein Generalstreik erfolgreich war, dass COSATU in Südafrika zu landesweiten Protesten aufruft, weil in vier Monaten 40.000 Arbeitsplätze wegrationalisiert wurden, dass Ken Livingstone seine Wahl zum Bürgermeister von London gewonnen hat, dass es in Berlin eine Massendemonstration gegen die Bildungsmisere gab, dass es Gewerkschaften gibt, die wagen, sich mit dem Weltkonzern McDonald‘s anzulegen, dass es erfolgreiche Streiks in Dienstleistungsbereichen gibt, einzelne Betriebe sogar besetzt werden, dann gibt es in der Tat Widerstand.
Allerdings sind dies alles Partisanenkämpfe einzelner Betriebe, Branchen, Länder, Ökoinitiativen, während die Gegenseite eine weltweite Strategie entwickelt zur Entmachtung der Gewerkschaften, zum Raub an Löhnen, Gehältern, Sozialleistungen, an Lebenszeit, um den "Shareholder-Value" in die Höhe zu treiben.
Wie aber kann eine Gegenstrategie entwickelt werden, die auch die Köpfe der Menschen erreicht, die heute von der neoliberalen Ideologie gefangen sind? Helmut Dahmer, der das Buch von Traverso übersetzt hat, kommt zu der Schlussfolgerung: "Wir müssen in der Theorie pessimistisch sein, aber optimistisch in der Aktion." Millionäre gewinnen heute ihren Kampf gegen Millionen. Wir hatten einmal die Streiklosung: "Millionen gegen Millionäre." Wenn wir vorwärtskommen wollen, müssen wir vielleicht zurück in die Vergangenheit...

Jakob Moneta


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