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Rund 60 Milliarden Dollar haben die USA bis heute für das Raketenabwehrprogramm SDI ausgegeben.
Auch nach seinem offiziellen Aus wurde das Programm nie ganz beendet, und nun scheint die Arbeit Früchte zu tragen: Technisch soll es
möglich sein, Raketen im Flug mit Raketen abzufangen. Bei SDI sollten heranfliegende Raketen noch mit in ihrer Nähe
gezündeten Atombomben zerstört werden.
Theorie und Praxis stimmen allerdings noch nicht ganz überein. Beim
ersten Test wurde die Abfangrakete mit einem Orientierungsballon zum Ziel geleitet, beim zweiten Mal verfehlte die Abfangrakete ihr Ziel um
30 Meter. Die Kosten dieses misslungenen Tests betrugen 100 Millionen Dollar, weitere Tests wurden seitdem immer wieder verschoben. Erst
im Herbst will Präsident Clinton über den Bau des Raketenabwehrsystems National Missile Defense (NMD) entscheiden.
Doch sollten die technischen Probleme in den Griff zu kriegen sein, steht
das amerikanische Militär vor völlig neuen Möglichkeiten der Kriegführung. Darin liegt der eigentliche Sinn und
Zweck eines Raketenabwehrsystems, dessen offizielle Begründung die vermeintliche Bedrohung durch sog. Schurkenstaaten ist, die nichts
Besseres zu tun haben, als sich mit den USA anzulegen.
Offener Raum ist sofort zu besetzen, empfahl der Militärstratege
Clausewitz allen Militärs, und der militärisch-industrielle Komplex wittert bei neuen Waffensystemen die Millionen aus der
Staatskasse. Konkret steht mit NMD die militärische Beherrschung des Weltraums an. In der National Security Strategy von 1997
erklärte Clinton: "Wir sind verpflichtet, unsere Führerschaft im Weltraum zu erhalten. Ungestörter Zugang zum und
Nutzung des Weltraums ist wesentlich, um Frieden zu erhalten und die nationale Sicherheit der USA ebenso zu beschützen wie die zivilen
und kommerzielle Interessen."
Aber auch auf der Erde bzw. auf dem Meer verspricht NMD neue
"toys for the boys": Wenn die Raketenabwehr nur gegen Schurkenstaaten gerichtet ist, warum dann keine seegestützte Abwehr
installieren, also ein Schiff vor der Küste des "Schurken" stationieren, so eine Überlegung aus der Clinton-
Administration, auch bekannt unter dem Namen Theater Missile Defense (TMD).
Die Vorstellung, bei einzelnen Staaten "einen Deckel auf den
Kochtopf" setzen zu können, muss für das amerikanische Militär notwendigerweise eine enorme Anziehungskraft
ausüben. Länder wie Iran, Irak und Nordkorea werden verdächtigt, bald im Besitz von entsprechender Raketentechnik zu
sein, um die USA bedrohen zu können. Das Risiko, selbst getroffen zu werden, würde für die USA im Kriegsfall steigen und
Kriege de facto unmöglich machen. So wird die Raketenabwehr zur notwendigen Bedingung, um weiter Kriege gegen
"Schurken" führen zu können.
Dass die Raketenabwehrpläne gegen Russland gerichtet seien, wird
von der Clinton-Regierung energisch dementiert. Sie kann diese Behauptung mit ihren bisherigen Planungen untermauern. Demnach sollen bis
2015 insgesamt 250 Abfangraketen in Stellung gebracht werden. Russland verfügt momentan aber über 3000 Raketen und
könnte die Abwehr mühelos überwinden.
NMD oder die regionale Variante TMD sind somit nur für zwei
Zwecke wirklich zu gebrauchen: technischer Fortschritt und militärische Eroberung des Weltraums auf der einen Seite, neue Waffen
für neue, regionale Kriege auf der anderen Seite.
Theoretisch könnte eine weiter ausgebaute Raketenabwehr auch dazu
dienen, die Erstschlagfähigkeit gegenüber Russland zu gewinnen. Durch einen massiven Nuklearangriff könnte ein
Großteil der russischen Raketen vernichtet werden, der Rest würde mit NMD abgefangen. Für solche Szenarien fehlen
allerdings die dazu nötigen gesellschaftlichen Bedingungen, weshalb sie als unwahrscheinlich betrachtet werden müssen: Russland
ist längst in die Reihe kapitalistischer Staaten zurückgekehrt. Die Differenzen zwischen Russland und dem Westen sind jetzt
"nur noch" normaler innerimperialistischer Natur. An Krieg hat momentan keine Seite ein Interesse.
Die ablehnende Haltung der europäischen NATO-Staaten zu NMD ist
erklärbar. Für sie kommen die US-Pläne zur Unzeit. Denn die Raketenpläne verändern die Kräftebalance
in der NATO weiter zugunsten der USA. Waffentechnisch werden die EU-Staaten im Rüstungs- und Technologiewettlauf auf lange Zeit
abgehängt. Machtpolitisch sitzen sie weiter am Katzentisch, während Clinton mit Putin verhandelt. In europäischen
Hauptstädten dürften die Annäherungen zwischen den USA und Russland mit Argusaugen beobachtet werden.
All das passiert zu einem Zeitpunkt, wo die EU-Staaten dabei sind, den
militärischen Anschluss an die USA zu suchen. Gerade ist die Integration der WEU in die EU auf den Weg gebracht, gerade steht das
Eurokorps im Kosovo - da preschen die USA mit neuen technischen Innovationen vor und lassen die EU weit zurück. Die CSU hat bereits
eine "Technologielücke" zwischen EU und USA ausgemacht und die europäische Beteiligung an der Raketenabwehr
gefordert.
Die Europäer mit Weltmachtanspruch werden die
"Technologielücke" und die "Zonen unterschiedlicher Sicherheit" kaum hinnehmen wollen - schließlich
stehen europäische Politiker ihren Kollegen in Moskau und Washington in nichts nach. So könnte die Raketenabwehr der USA,
sollte sie im Herbst beschlossen werden, weniger zu einem Nachrüsten in Russland führen als in Europa.
Dirk Eckert