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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.12 vom 08.06.2000, Seite 2

Europas Aufholjagd

Wie Europa die Wirtschaftsmacht USA attackiert", zeigt der Spiegel auf. Er beginnt damit, dass "wahnwitzige Wirtschaftswunder" darzustellen, mit dem Amerika sowohl militärisch als auch ökonomisch "unschlagbar" Sieger der Globalisierung wurde:
Die Arbeitslosigkeit beträgt gerade mal noch 4% - nicht einmal halb soviel wie in Euroland. In den letzten drei Monaten des vergangenen Jahres wuchs diese Turboökonomie mit 7,3% - mehr als doppelt so schnell wie die Wirtschaft in der alten Welt.
Die Amerikaner sind einem Konsumrausch verfallen, der geradezu religiös anmutet. Sie plündern die Regale der Kaufhäuser, pumpen ihr Geld in Aktien und tragen fast schon penetrant ihren Wohlstand zur Schau: Jets für die Superreichen, Porsche für die Reichen und Eigenheim samt Dienstmädchen für Millionen Mitglieder der Oberschicht.
Selbst die Regierung in Washington schwimmt inzwischen in Geld. Wenn keine Rezession dazwischen kommt, wird der Haushaltsüberschuss in den nächsten zehn Jahren auf über 2 Billionen Dollar wachsen.
Es wird nicht unterschlagen, dass zwei Dinge die "Partylaune trüben":
Längst nicht alle Bevölkerungsschichten nehmen am neuen Wohlstand teil - der Boom der letzten Jahre hat die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter wachsen lassen. Das Einkommen der Mittelschichten ist in dieser Zeit kaum gestiegen und viele Niedriglöhner brauchen einen Zweit- oder gar einen Drittjob, um sich und ihrer Familien zu ernähren.
In der Tat taugt das unsoziale Amerika, in dem Armut und Gewalt grassieren und die Todesstrafe vollstreckt wird auch nach all den Boomjahren nicht zum bedingungslosen Vorbild. Niedrige Mindestlöhne, entmachtete Gewerkschaften und ein Sozialstaat, auf den bis heute kein Verlass ist, schrecken ab.
Deshalb plädiert der Spiegel für einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz:
Europa muss eine soziale Alternative bieten. Wettbewerb ja, aber nicht die totale Konkurrenz. Leistung soll sich lohnen, aber wer keine bringen kann, darf deshalb nicht hungern, nicht frieren, muss ein anständiges Leben auch jenseits von Produktionsziffern führen dürfen.
Besorgt wird jedoch festgestellt, dass der Boom an der Börse vorerst vorbei ist, die Kurse scheinbar unaufhaltsam sinken, "selbst ein Crash nicht ausgeschlossen ist. Der würde die US-Wirtschaft weit härter treffen als die europäische: Die Amerikaner müssten ihren Konsum drastisch einschränken, die Unternehmen würden weniger verdienen. Die Folge wäre eine Rezession, aus der sich die Nation nur mühsam herausarbeiten könnte."
Der nächste Abschwung wird vor allem jene hart treffen, die schon vom Aufschwung nicht profitiert haben. Denn den Amerikanern ist es nicht gelungen, den neuen Wohlstand auf die breiten Massen zu verteilen. Die Gesellschaft ist härter und ungerechter als je zuvor. Vom Boom profitierten vor allem die Spitzenverdiener. Ein Unternehmensboss kassiert 400 mal so viel wie sein Arbeiter, vor zwölf Jahren war es nur 40 mal so viel.
Die Armutsrate, die wenig über tatsächliche Armut, aber viel über die Spreizung der Gesellschaft aussagt, liegt über dem Niveau der 70er Jahre.
Obwohl mittlerweile die Hälfte der Amerikaner Wertpapiere besitzt, ging der Großteil der Kursgewinne an die oberen 5% der Haushalte. Rund 700 neue Millionäre werfen die Wall Street und Silicon Valley täglich aus, doch die breite Mittelklasse schwelgt mitnichten im Luxus.
Nun ist eine Tatsache, dass die Wachstumsrate der europäischen Wirtschaft die der USA nicht nur einzuholen, sondern sogar zu überholen beginnt. Ist es aber wirklich möglich die "Schattenseiten des US-Booms" zu vermeiden? Kann ein Crash des Casinokapitalismus in Europa dank der "europäischen Tradition des Wohlfahrtsstaats" auf Dauer verhindert werden? Oder wiederholt sich im Westen zwangsweise, was im Osten Rudolf Bahro sarkastisch der Bürokratie unter die Nase rieb: "Ihr sagt einerseits der Kapitalismus geht einem Abrund entgegen. Andererseits aber: wir müssen ihn einholen und überholen."
Ist Europa dabei, die globale Überlegenheit der USA einzuholen, ja zu überholen, um schließlich selbst im Crash zu landen?

Jakob Moneta


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