Sozialistische Zeitung |
Am 16.Juni 1938 wartete Heinrich Starke im Zimmer seines Freundes August Hünfeldt. Die Vermieterin
hatte ihn in die Wohnung gelassen und gesagt, dass Hünfeldt gleich zurück käme. Statt Hünfeldt kam jedoch die Polizei.
Das Ehepaar V. hatte die beiden durch das Oberlichtfenster beim Sex beobachtet und zwei Tage zuvor denunziert. Nach Verbüßung
der dreijährigen Gefängnisstrafe wurde Starke als "Schutzhäftling" im KZ Neuengamme festgehalten. Das
Totenbuch nennt Erich Starke, Wilhelmshaven, *30.05.01 †28.06.42.
Verurteilt wurde Starke nach §175. Diese Strafvorschrift fand 1871
Eingang in das erste einheitliche Reichsstrafgesetzbuch. "Widernatürliche Unzucht zwischen Personen männlichen
Geschlechts", sprich Analverkehr, wurde von nun ab mit Gefängnis bestraft.
Von Anfang an war dieser Paragraf jedoch umstritten. Vorkämpfer
der Homosexuellenbewegung und fortschrittliche Ärzte wandten sich gegen die Kriminalisierung dieser "tragischen
Veranlagung". Sie schafften es, dass der Rechtsausschuss des Reichstages im Oktober 1929 beschloss, dass die sogenannte einfache
Homosexualität, also die einvernehmlich unter erwachsenen Männern gelebte, nicht mehr bestraft werden sollte. Wegen der
politischen Veränderungen wurde diese Strafrechtsreform jedoch nicht mehr umgesetzt.
Unter den Nazis kam es zu einer exzessiven Verfolgung von
Homosexuellen. Ihre Organisationen wurden zerschlagen, Bars und Treffpunkte geschlossen. Das Sexualwissenschaftliche Institut ihres
Vorkämpfers Magnus Hirschfeld wurde zerstört. 1935 wurde der sog. Schwulenparagraf massiv verschärft. Der
Straftatbestand wird von "widernatürlichen Unzucht" auf die wesentlich allgemeinere Formulierung "Unzucht"
ausgedehnt.
Im Klartext bedeutet das, dass zuvor lediglich beischlafähnliche
Handlungen strafbar waren - nun ist es jedes Verhalten, das vom "gesunden Volksempfinden" für unzüchtig gehalten
wird.
Nicht nur eindeutige sexuelle Handlungen, sondern auch eine
zärtliche Berührung oder ein begehrlicher Blick führten zu Verhaftung und Verurteilung. Die Nazis wollten ein "starkes,
sittlich gesundes Volk" und sahen dies durch die "Seuche Homosexualität" gefährdet. 1936 gründeten sie
die "Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung".
Ihr Ziel war die Ausrottung der Homosexualität, ihre Mittel waren
Umerziehung durch Arbeitslager, KZ oder Kastration. Der Tod war einkalkuliert. Rund 50000 schwule Männer wurden zwischen 1935
und 1945 verurteilt. Tausende wurden in Konzentrationslager verschleppt. Viele überlebten den Terror in den Lagern nicht.
Die DDR kehrte bereits 1950 zur Fassung der Weimarer Zeit zurück
und beendete 1957 jegliche strafrechtliche Verfolgung homosexueller Handlungen zwischen Erwachsenen. Genaue Zahlen über die
Verurteilungen in der DDR nach §175 liegen nicht vor. Lediglich für 1957 ist bekannt, dass insgesamt 89 Personen verurteilt
wurden.
So kommt denn auch Günter Grau zu dem Schluss, dass es
"weniger die Furcht vor juristischer Verfolgung, als vielmehr die Angst vor administrativer und gesellschaftlicher Diskriminierung war,
aus der heraus homosexuelle Männer und Frauen in der DDR alles taten, um in Beruf und Öffentlichkeit nicht aufzufallen."
Die Strafrechtsreform der DDR von 1968 sah eine Streichung des
§175 vor und passierte ohne Widerspruch die Volkskammer. Damit waren einvernehmliche sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen
endlich straffrei. Neu eingeführt wurde §151, der eine besondere Schutzaltersgrenze für homosexuelle Kontakte schuf. Diese
lag bei 18 Jahren (16 bei Heterosexuellen) und galt - das war ein Novum in der deutschen Rechtsgeschichte - für Männer und
Frauen in gleichem Maße. Aufgehoben wurde diese Ungleichbehandlung 1988.
Besonders skandalös ist, dass in der alten Bundesrepublik der
§175 noch bis 1969 in seiner nationalsozialistischen Fassung fortgalt. Allein in den ersten 15 Jahren ihrer Existenz wurden in der BRD
über 100000 Ermittlungsverfahren nach §175 eingeleitet. Bundesdeutsche Gerichte verurteilten fast 60000 Schwule. Das sind mehr
als in der NS-Zeit.
Erst die Strafrechtsreform von 1969 legalisierte sexuelle Handlungen
zwischen erwachsenen Menschen auch endlich in der BRD. Doch auch hier galt eine besondere Schutzaltersgrenze für homosexuelle
Kontakte. Erst 1994 wurde die Sonderbehandlung Homosexueller im Sexualstrafrecht gänzlich abgeschafft. Die Wiedervereinigung
beschleunigte die Beseitigung dieses historischen Anachronismus.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in
entsprechenden Urteilen klargestellt, dass die strafrechtliche Verfolgung einvernehmlicher sexueller Handlungen zwischen erwachsenen
Menschen eine Verletzung ihres Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung ist. Er hat betont, dass die strafrechtliche Verfolgung nicht erst unter
heutigen Gesichtspunkten, sondern bereits zum damaligen Zeitpunkt eine Grundrecht der Betroffenen verletzt hat.
Eine Rehabilitierung und Entschädigung für das ihnen
zugefügte Leid blieb den Opfern der Homosexuellenverfolgung in beiden deutschen Staaten versagt. Viele Schwule hofften auf das im
Juni 1998 vom Bundestag verabschiedete "Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege".
Damit sollte endlich ein Schlussstrich unter das Justizunrecht der Nazi-Zeit gezogen werden. Dies ist im Wesentlichen gelungen.
Das Gesetz stellt klar, dass alle Verurteilungen, die unter dem Hitler-
Regime ungerechterweise aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen erfolgten, aufgehoben sind. Zwei Gruppen blieben
jedoch von der pauschalen Aufhebung der NS-Unrechtsurteile ausgeschlossen: Deserteure und Homosexuelle.
In der Praxis bedeutet dies, dass über 50 Jahre nach Kriegsende die
Betroffenen (bzw. Ihre Angehörigen) in Einzelfallverfahren bei der Staatsanwaltschaft überprüfen lassen müssen, ob
ihnen nationalsozialistisches Unrecht zugefügt wurde.
Weil der Gesetzgeber sich um eine allgemeingültige politische und
rechtliche Würdigung des §175 erneut gedrückt hat, sind Schwule zum Nachweis in jedem Einzelfall gezwungen. Das ist
unwürdig und unzumutbar.
Denn es gibt keinen Zweifel: die strafrechtliche Verfolgung von
Homosexuellen während der NS-Zeit hatte das Ziel, die nationalsozialistischen Ideologie vom deutschen Volk als Herrenrasse und dem
deutschen Mann als dessen Träger zu verwirklichen. Das muss endlich anerkannt werden. Den Betroffenen ist ihre Ehre wiederzugeben,
indem die Urteile nach dem nationalsozialistischen §175 per Gesetz aufgehoben werden.
Gleichzeitig sind die Betroffenen für das ihnen zugefügte Leid
zu entschädigen. Heute sind jedoch nur noch wenige der Opfer der Homosexuellenverfolgung im Nationalsozialismus am Leben - um so
wichtiger wird die ebenfalls noch ausstehende kollektive Entschädigung an die Gruppe der Homosexuellen.
Seit langem fordern die Verbände eine Entschädigung für
die Zerstörung des Instituts für Sexualwissenschaften und einen Ausgleich für das damals konfiszierte Vermögen der
schwulen und lesbischen Organisationen.
Es soll eine Stiftung gegründet werden, die sich vor allem der
Erforschung der Geschichte der Homosexuellen in der Zeit des NS widmet und darüber hinaus zu einem Mehr an Toleranz
gegenüber Minderheiten beiträgt.
Es ist ebenfalls erforderlich, dass der Bundestag auch die Verantwortung
übernimmt für die fortgesetzte strafrechtliche Verfolgung Homosexueller in der Nachkriegszeit. Die drohende Strafverfolgung hat
noch nach 1945 vor allem in der alten Bundesrepublik das Leben ganzer Generationen von Homosexuellen überschattet.
Auf Initiative der PDS hat der Bundestag dieses Thema jetzt erneut
aufgegriffen. Bereits im Januar hatte die Fraktion entsprechende Anträge in den Bundestag eingebracht. Erst dadurch sahen sich SPD und
Grüne gezwungen, noch schnell - zwei Tage vor der ersten parlamentarischen Lesung dieser Anträge - einen eigenen Antrag zur
"Rehabilitierung der im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen" einzubringen.
Allerdings bleibt er nicht nur hinter dem der PDS zurück, sondern
bezeichnenderweise noch weit hinter dem, was die Grünen noch in der letzten Legislaturperiode gefordert haben. Nach dem Willen der
Regierungsfraktionen soll der Bundestag die Verfolgung der Homosexuellen im Nationalsozialismus lediglich bedauern und sich für ihre
andauernde strafrechtliche Verfolgung in der Nachkriegszeit entschuldigen. Ansonsten solle geprüft werden, ob es überhaupt noch
weitergehender Initiativen zur rechtliche Rehabilitierung Homosexueller bedarf.
Als Regierungsfraktionen fordern die Grünen ihre Regierung auf, erst
mal einen Bericht über die Entschädigungssituation vorzulegen, dem "gegebenenfalls" Vorschläge zur Beseitigung
von Lücken folgen sollen.
So viel Defensive legt nahe, dass auch unter Rot-Grün eine
umfassende rechtliche Rehabilitierung und angemessen Entschädigung der Opfer der Homosexuellenverfolgung nicht zu erwarten
ist.
Christina Schenk/Christiane Schindler