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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.12 vom 08.06.2000, Seite 4

NS und Schwule

Entschädigung gefordert

Am 16.Juni 1938 wartete Heinrich Starke im Zimmer seines Freundes August Hünfeldt. Die Vermieterin hatte ihn in die Wohnung gelassen und gesagt, dass Hünfeldt gleich zurück käme. Statt Hünfeldt kam jedoch die Polizei. Das Ehepaar V. hatte die beiden durch das Oberlichtfenster beim Sex beobachtet und zwei Tage zuvor denunziert. Nach Verbüßung der dreijährigen Gefängnisstrafe wurde Starke als "Schutzhäftling" im KZ Neuengamme festgehalten. Das Totenbuch nennt Erich Starke, Wilhelmshaven, *30.05.01 †28.06.42.
Verurteilt wurde Starke nach §175. Diese Strafvorschrift fand 1871 Eingang in das erste einheitliche Reichsstrafgesetzbuch. "Widernatürliche Unzucht zwischen Personen männlichen Geschlechts", sprich Analverkehr, wurde von nun ab mit Gefängnis bestraft.
Von Anfang an war dieser Paragraf jedoch umstritten. Vorkämpfer der Homosexuellenbewegung und fortschrittliche Ärzte wandten sich gegen die Kriminalisierung dieser "tragischen Veranlagung". Sie schafften es, dass der Rechtsausschuss des Reichstages im Oktober 1929 beschloss, dass die sogenannte einfache Homosexualität, also die einvernehmlich unter erwachsenen Männern gelebte, nicht mehr bestraft werden sollte. Wegen der politischen Veränderungen wurde diese Strafrechtsreform jedoch nicht mehr umgesetzt.
Unter den Nazis kam es zu einer exzessiven Verfolgung von Homosexuellen. Ihre Organisationen wurden zerschlagen, Bars und Treffpunkte geschlossen. Das Sexualwissenschaftliche Institut ihres Vorkämpfers Magnus Hirschfeld wurde zerstört. 1935 wurde der sog. Schwulenparagraf massiv verschärft. Der Straftatbestand wird von "widernatürlichen Unzucht" auf die wesentlich allgemeinere Formulierung "Unzucht" ausgedehnt.
Im Klartext bedeutet das, dass zuvor lediglich beischlafähnliche Handlungen strafbar waren - nun ist es jedes Verhalten, das vom "gesunden Volksempfinden" für unzüchtig gehalten wird.
Nicht nur eindeutige sexuelle Handlungen, sondern auch eine zärtliche Berührung oder ein begehrlicher Blick führten zu Verhaftung und Verurteilung. Die Nazis wollten ein "starkes, sittlich gesundes Volk" und sahen dies durch die "Seuche Homosexualität" gefährdet. 1936 gründeten sie die "Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung".
Ihr Ziel war die Ausrottung der Homosexualität, ihre Mittel waren Umerziehung durch Arbeitslager, KZ oder Kastration. Der Tod war einkalkuliert. Rund 50000 schwule Männer wurden zwischen 1935 und 1945 verurteilt. Tausende wurden in Konzentrationslager verschleppt. Viele überlebten den Terror in den Lagern nicht.
Die DDR kehrte bereits 1950 zur Fassung der Weimarer Zeit zurück und beendete 1957 jegliche strafrechtliche Verfolgung homosexueller Handlungen zwischen Erwachsenen. Genaue Zahlen über die Verurteilungen in der DDR nach §175 liegen nicht vor. Lediglich für 1957 ist bekannt, dass insgesamt 89 Personen verurteilt wurden.
So kommt denn auch Günter Grau zu dem Schluss, dass es "weniger die Furcht vor juristischer Verfolgung, als vielmehr die Angst vor administrativer und gesellschaftlicher Diskriminierung war, aus der heraus homosexuelle Männer und Frauen in der DDR alles taten, um in Beruf und Öffentlichkeit nicht aufzufallen."
Die Strafrechtsreform der DDR von 1968 sah eine Streichung des §175 vor und passierte ohne Widerspruch die Volkskammer. Damit waren einvernehmliche sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen endlich straffrei. Neu eingeführt wurde §151, der eine besondere Schutzaltersgrenze für homosexuelle Kontakte schuf. Diese lag bei 18 Jahren (16 bei Heterosexuellen) und galt - das war ein Novum in der deutschen Rechtsgeschichte - für Männer und Frauen in gleichem Maße. Aufgehoben wurde diese Ungleichbehandlung 1988.
Besonders skandalös ist, dass in der alten Bundesrepublik der §175 noch bis 1969 in seiner nationalsozialistischen Fassung fortgalt. Allein in den ersten 15 Jahren ihrer Existenz wurden in der BRD über 100000 Ermittlungsverfahren nach §175 eingeleitet. Bundesdeutsche Gerichte verurteilten fast 60000 Schwule. Das sind mehr als in der NS-Zeit.
Erst die Strafrechtsreform von 1969 legalisierte sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Menschen auch endlich in der BRD. Doch auch hier galt eine besondere Schutzaltersgrenze für homosexuelle Kontakte. Erst 1994 wurde die Sonderbehandlung Homosexueller im Sexualstrafrecht gänzlich abgeschafft. Die Wiedervereinigung beschleunigte die Beseitigung dieses historischen Anachronismus.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in entsprechenden Urteilen klargestellt, dass die strafrechtliche Verfolgung einvernehmlicher sexueller Handlungen zwischen erwachsenen Menschen eine Verletzung ihres Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung ist. Er hat betont, dass die strafrechtliche Verfolgung nicht erst unter heutigen Gesichtspunkten, sondern bereits zum damaligen Zeitpunkt eine Grundrecht der Betroffenen verletzt hat.
Eine Rehabilitierung und Entschädigung für das ihnen zugefügte Leid blieb den Opfern der Homosexuellenverfolgung in beiden deutschen Staaten versagt. Viele Schwule hofften auf das im Juni 1998 vom Bundestag verabschiedete "Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege". Damit sollte endlich ein Schlussstrich unter das Justizunrecht der Nazi-Zeit gezogen werden. Dies ist im Wesentlichen gelungen.
Das Gesetz stellt klar, dass alle Verurteilungen, die unter dem Hitler- Regime ungerechterweise aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen erfolgten, aufgehoben sind. Zwei Gruppen blieben jedoch von der pauschalen Aufhebung der NS-Unrechtsurteile ausgeschlossen: Deserteure und Homosexuelle.
In der Praxis bedeutet dies, dass über 50 Jahre nach Kriegsende die Betroffenen (bzw. Ihre Angehörigen) in Einzelfallverfahren bei der Staatsanwaltschaft überprüfen lassen müssen, ob ihnen nationalsozialistisches Unrecht zugefügt wurde.
Weil der Gesetzgeber sich um eine allgemeingültige politische und rechtliche Würdigung des §175 erneut gedrückt hat, sind Schwule zum Nachweis in jedem Einzelfall gezwungen. Das ist unwürdig und unzumutbar.
Denn es gibt keinen Zweifel: die strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen während der NS-Zeit hatte das Ziel, die nationalsozialistischen Ideologie vom deutschen Volk als Herrenrasse und dem deutschen Mann als dessen Träger zu verwirklichen. Das muss endlich anerkannt werden. Den Betroffenen ist ihre Ehre wiederzugeben, indem die Urteile nach dem nationalsozialistischen §175 per Gesetz aufgehoben werden.
Gleichzeitig sind die Betroffenen für das ihnen zugefügte Leid zu entschädigen. Heute sind jedoch nur noch wenige der Opfer der Homosexuellenverfolgung im Nationalsozialismus am Leben - um so wichtiger wird die ebenfalls noch ausstehende kollektive Entschädigung an die Gruppe der Homosexuellen.
Seit langem fordern die Verbände eine Entschädigung für die Zerstörung des Instituts für Sexualwissenschaften und einen Ausgleich für das damals konfiszierte Vermögen der schwulen und lesbischen Organisationen.
Es soll eine Stiftung gegründet werden, die sich vor allem der Erforschung der Geschichte der Homosexuellen in der Zeit des NS widmet und darüber hinaus zu einem Mehr an Toleranz gegenüber Minderheiten beiträgt.
Es ist ebenfalls erforderlich, dass der Bundestag auch die Verantwortung übernimmt für die fortgesetzte strafrechtliche Verfolgung Homosexueller in der Nachkriegszeit. Die drohende Strafverfolgung hat noch nach 1945 vor allem in der alten Bundesrepublik das Leben ganzer Generationen von Homosexuellen überschattet.
Auf Initiative der PDS hat der Bundestag dieses Thema jetzt erneut aufgegriffen. Bereits im Januar hatte die Fraktion entsprechende Anträge in den Bundestag eingebracht. Erst dadurch sahen sich SPD und Grüne gezwungen, noch schnell - zwei Tage vor der ersten parlamentarischen Lesung dieser Anträge - einen eigenen Antrag zur "Rehabilitierung der im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen" einzubringen.
Allerdings bleibt er nicht nur hinter dem der PDS zurück, sondern bezeichnenderweise noch weit hinter dem, was die Grünen noch in der letzten Legislaturperiode gefordert haben. Nach dem Willen der Regierungsfraktionen soll der Bundestag die Verfolgung der Homosexuellen im Nationalsozialismus lediglich bedauern und sich für ihre andauernde strafrechtliche Verfolgung in der Nachkriegszeit entschuldigen. Ansonsten solle geprüft werden, ob es überhaupt noch weitergehender Initiativen zur rechtliche Rehabilitierung Homosexueller bedarf.
Als Regierungsfraktionen fordern die Grünen ihre Regierung auf, erst mal einen Bericht über die Entschädigungssituation vorzulegen, dem "gegebenenfalls" Vorschläge zur Beseitigung von Lücken folgen sollen.
So viel Defensive legt nahe, dass auch unter Rot-Grün eine umfassende rechtliche Rehabilitierung und angemessen Entschädigung der Opfer der Homosexuellenverfolgung nicht zu erwarten ist.

Christina Schenk/Christiane Schindler


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