Sozialistische Zeitung |
In den letzten Tagen haben hunderte von Kolleginnen und Kollegen der ÖTV und der DAG die
Urabstimmung vorbereitet. Während diese Zeilen geschrieben werden, begeben sich die ersten Beschäftigten zur Urabstimmung,
nachdem sie zuvor in einer Willensbildung die Schlichtungsempfehlung verworfen hatten. Die Ergebnisse werden für Donnerstag
erwartet, wenn diese Zeitung bereits gedruckt ist.
Damit es am Dienstag nach Pfingsten zum Streik von ÖTV und DAG
kommt, müssen bei der jetzt laufenden Urabstimmung die Mitglieder der ÖTV mit 75% und die der DAG mit 70% für den
Streik stimmen. Es ist also derzeit noch nicht entschieden.
Die Schlichtungsempfehlung war von der Tarifkommission der ÖTV
mit 75 zu 50 Stimmen, der DAG mit 18 zu 15 Stimmen abgelehnt worden. Die Mehrheit beider Tarifkommissionen folgte somit nicht dem
Appell ihrer Verhandlungsführer, die sich vehement für die Annahme der Schlichtungsempfehlung ausgesprochen hatten.
Der Abstimmung vorausgegangen war eine mehrstündige Diskussion,
in deren Mittelpunkt die prozentuale Erhöhung und die Angleichung der Einkommen im Osten an die im Westen standen.
Die Gewerkschafter forderten mindestens eine Zwei vor dem Komma und
größere Schritte bei der Angleichung an die Einkommen im Westen. Damit dürften auch die Ziele des Arbeitskampfs markiert
sein, sollte es zum Streik kommen.
Zwischen der Bekanntgabe der Schlichtungsempfehlung und deren
Ablehnung durch die Tarifkommissionen lagen vier Tage, in denen die ÖTV-Bezirke die Stimmung an der Basis ermitteln sollten.
Anschließend wurde es an die Tarifkommissionen übermittelt.
Sämtliche Medien haben auf die Ablehnung der
Schlichtungsempfehlung mit herber Kritik reagiert. Streikdrohungen werden als Teufelswerk gebrandmarkt. Die Medien beginnen, ein
Streikverbot im öffentlichen Dienst zu fordern. Demagogisch stellen sie die Benutzer öffentlicher Dienstleistungen als Opfer des
Streiks und gewerkschaftlicher Willkür dar.
Bundeskanzler Schröder hat noch eins drauf gesetzt. Er sieht den
wirtschaftlichen Aufschwung gefährdet und damit das allgemeine Volkswohl aufs höchste bedroht. Innenminister Schily,
Verhandlungsführer der Arbeitgeber, zieht alle Register der Propaganda, um die Öffentlichkeit gegen die Gewerkschaften
aufzubringen. Er signalisiert Gesprächsbereitschaft gegenüber den Gewerkschaften, im gleichen Atemzug gibt er ultimativ zu
verstehen, es gebe keinen Spielraum für ein anderes Ergebnis.
Eine Entscheidung über die taktische Führung des Streiks ist
bisher nicht zu erkennen, es ist also offen, ob es zu einem Flächenstreik, zu Schwerpunktstreiks, zu Streiks in bestimmten Bereichen oder
Sparten oder zu anderen Streikformen kommt. Es sieht so aus, als entscheide die Zentrale in Stuttgart rein pragmatisch.
Diese Schwäche resultiert daraus, dass der Streik von 1992 in den
gewerkschaftlichen Gremien und an der Basis nicht reflektiert wurde. Eine solche Reflexion wurde zum einen nicht zugelassen, aber auch nicht
initiiert. Dabei gibt es auch heute in den gewerkschaftlichen Gremien wieder Kräfte, die glauben, dass eine Einigung am grünen
Tisch zu erreichen sei. Das hatten wir schon 1992!
Es darf nichts ausgespart werden, auch nicht des Kanzlers liebstes Kind -
die Expo! Sie muss als erstes durch einen Streik der Beschäftigten im öffentlichen Dienst lahmgelegt werden! Breite
Solidarität ist gefordert.
Mit einer breit angelegten Solidaritätskampagne könnte man
Unterstützung für die Streikenden aufbauen. Gefordert sind vor allem Gewerkschaften wie die IG Metall, die Gewerkschaft der
Eisenbahner, Postler und der DGB - und das nicht nur verbal, sondern unter aktiver Einbeziehung der Betriebe mit ihren Vertrauensleuten und
Betriebsräten und ihrer gewerkschaftlichen Basis.
Mit einem Streik im öffentlichen Dienst könnte eine neue Phase
in der Wertung des Bündnisses für Arbeit und der "Wir-sitzen-alle-in-einem-Boot"-Ideologie eingeleitet werden. Es
gilt die alte Erfahrung: "Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren!"
Hans Peiffer