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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.13 vom 22.06.2000, Seite 4

‘Wir waren auch nur wenige‘

Mexiko

Auf ihrer Rundreise durch die Bundesrepublik Deutschland machten die zwei Delegierten des Streikrates der Universität von Mexiko-Stadt einen Tag vor der Demonstration gegen Studiengebühren Anfang Juni auch in Köln Station. Sie sprachen mit der Studierendenzeitung philtrat über die Situation in Mexiko. Das Gespräch mit Julia und Ricardo, deren Nachnamen aus Furcht vor staatlicher Repression in Mexiko nicht bekannt gegeben werden, führten Ludger von Laar und Nils Neubert.

Wie sah der Alltag an der Universität während des Streiks aus?
Ricardo: Wir haben unsere Forderungen nach außen getragen, aber auch unsere eigenen Strukturen innerhalb des Streiks weiterentwickelt, Kämpfe ausgefochten: Als erstes wurden kollektive Arbeitsinstanzen aufgebaut. Es entstanden eine Pressekommission, die alles dokumentierte, eine Volksküche und eine Putzkolonne. In jedem dieser Bereiche gab es nicht eine verantwortliche Person, sondern die StudentInnen wechselten sich ab.

Übernachteten die TeilnehmerInnen auf dem Universitätsgelände?
Julia: Immer. Jede Fakultät hatte ihre eigene Organisation. Am Anfang aber, versuchten die Studierenden, alle zusammen an einem Ort zu übernachten. Nach und nach hatte jeder sein eigenes Zimmer.
Ricardo: Aufgrund der politischen und organisatorischen Arbeit war der Tag oft länger als gewöhnlich. Die meiste Zeit haben wir nicht nachts geschlafen, sondern morgens von fünf oder sechs bis elf Uhr. Die Versammlungen waren lang, weil dort 200 Delegierte von den verschiedenen Fakultäten zusammenkamen. Das absolute Extrem aber waren zwei Versammlungen, die dreißig Stunden dauerten.

Ist dieser hohe Grad an Organisation während des zehnmonatigen Streiks abgeklungen?
Julia: Mit der Zeit waren die Leute natürlich auch ermüdet, aber die Strukturen bestehen nach wie vor. Die Versammlungen der verschiedenen Fakultäten, auf denen die StudentInnen zusammenkommen und Entscheidungen treffen, existieren noch, dennoch sind einige Fakultäten inzwischen abgesprungen.
Die Kommissionen bestehen zum größten Teil noch fort, z.B. die Pressekommission, die vor allem für die Gestaltung von Webseiten, Plakaten, Flugblättern und Pressemitteilungen verantwortlich ist.

Finden auch jetzt noch Versammlungen an der Universität statt?
Ricardo: Ja, in den Fakultäten, aber wir müssen zugeben, dass sie längst nicht mehr so groß und gut besucht sind wie zur Zeit des Streiks.

Welche Eindrücke habt ihr bisher von eurer Rundreise durch die Bundesrepublik?
Julia: Wir lernten verschiedene soziale Bewegungen kennen, von denen wir in Lateinamerika noch nicht gehört haben, so von den Arbeitslosen, von den MigrantInnen, den AsylbewerberInnen, der Antifa und der Anti-AKW-Bewegung. Für uns war es überraschend zu erfahren, dass es hier soziale Bewegungen gibt. Bei den Diskussionsveranstaltungen, die wir hier machen, sind ganz verschiedene Organisationen dabei, die aber in diesem einen Punkt zusammenarbeiten. Das ist ein sehr wichtiger Prozess.

Wie beurteilt ihr in Mexiko die Zusammenarbeit zwischen den StudentInnen und anderen Gruppen?
Ricardo: In Mexiko ist schon seit vielen Jahren die Politik des Neoliberalismus zu spüren. Das hat die Leute in verschiedenen Bereichen dazu gebracht, sich zu organisieren und dagegen anzugehen. Es gibt Verbindungen mit den Gewerkschaften der Elektrizitätswerke und der Bauernbewegung im Südosten des Landes.

Läuft diese Zusammenarbeit auch nach dem Streik weiter?
Julia: Anfangs gab es eine sehr starke Unterstützung, doch dadurch, dass sich der Streik mit der Zeit zerlaufen hat, ist die Unterstützung ein wenig zurückgegangen. Seit der Streik durch die Militärpolizei beendet wurde, ist die Bewegung dabei, sich zu reorganisieren, um auch die Verbindung mit anderen Gruppen zu stabilisieren.

Sind die Strukturen durch die Verhaftungen von StreikaktivistInnener zusammengebrochen?
Julia: Die Strukturen sind nicht gebrochen worden, aber die Organisation hat sich zersplittert.

Am 2. Juli sind in Mexiko die Präsidentschaftswahlen. Gibt es Pläne, den Kampf noch einmal aufzunehmen oder zu verschärfen?
Julia: In der gesamten Bevölkerung gibt es Unzufriedenheit, und die politischen Parteien haben ihre Glaubwürdigkeit verloren. Eine Forderung der Streikbewegung ist es, zur Wahl zu gehen, aber eine sog. Blankostimme abzugeben, um die Unzufriedenheit mit jeglichen politischen Parteien zu demonstrieren.
Ricardo: Es wachsen ständig neue soziale Bewegungen in Mexiko. Zur Zeit fordern die Grundschullehrer höhere Gehälter. Das Gros der Lehrer in Mexiko versucht sich durch zwei, drei andere Jobs über Wasser zu halten. Das wird schon seine Wirkung in den Wahlen zeigen. Keiner glaubt mehr an Parteien, an Wahlen, an die Institutionen.

Welche Erfahrungen habt ihr in Deutschland mit StudentInnen gemacht?
Julia: Die Ähnlichkeit der Bildungspolitik fiel uns auf. Aber an den Universitäten organisieren sich jeweils nur kleinere Gruppen von StudentInnen. Das aber ist kein Grund, den Mut zu verlieren. Als wir vor einem Jahr angefangen haben, waren wir auch nur wenige.


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