Sozialistische Zeitung |
Ende 1999 hat Frankreichs zentraler Arbeitgeberverband MEDEF - die Abkürzung steht für
"Bewegung der Unternehmen Frankreichs"- eine Offensive eingeleitet. Zunächst drohte er, aus den paritätisch
verwalteten Kassen des Sozialversicherungsystems (Arbeitslosen-, Renten- und Krankenkassen) auszusteigen, falls die Regierung bei ihrem
Vorhaben bleibe, diese zur Finanzierung der 35-Stunden-Woche heranzuziehen.
Die Verkürzung der gesetzlichen Regelarbeitszeit von 39 auf 35
Stunden ist mit hohen staatlichen Subventionen an die Betriebe verbunden, um sie möglichst kostenneutral zu gestalten; Arbeits-und
Sozialministerin Martine Aubry plante, die anfallenden Ausgaben aus der Arbeitslosenkasse zu finanzieren. Letztere hätte ja nun weniger
Arbeitslosengeld zu zahlen, so lautete die (mutmaßliche) Milchmädchenrechnung der Ministerin, und könne daher ihren
Beitrag zur Finanzierung der Reform leisten. Das Vorhaben rief einen Aufschrei der Gewerkschaften wie auch der Kapitalverbände
hervor, die gemeinsam die Sozialversicherung verwalten.
Die Regierung ließ schließlich von dem Plan ab. Der MEDEF
aber führte seine Offensive weiter. Kurz vor Weihnachten - die Regierung hatte ihr Vorhaben längst beerdigt - erneuterte er die
Drohung. Bis zum Jahresende 2000, hieß es nun, werde er seine Tätigkeit in den paritätisch verwalteten Kassen niederlegen,
falls es bis dahin nicht zu einer grundlegenden "Neuordnung der sozialen Beziehungen" komme.
Frankreich solle vom bisherigen Modell, in dem Regierung und Parlament
eine zentrale Rolle bei der Gestaltung der sozialen Beziehungen spielen, abrücken, weil dies wirtschafts- und sozialpolitische
Entscheidung von einer politischen Legitimation abhängig macht, was zu hoher Krisenanfälligkeit führt, wenn Millionen
Franzosen (wie im Herbst 1995) gegen eine Regierungsentscheidung streiken und demonstrieren.
Stattdessen sollen Aspekte des bundesdeutschen Modells der
"Tarifautonomie" übernommen werden, in denen die wesentlichen sozial- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen von
Gewerkschaften und Kapitalverbänden gefällt werden, womit sie oftmals in eine quasistaatliche Rolle hineinwachsen.
Das neue Modell der sozialen Beziehungen sollte an der Verwaltung der
Sozialversicherung durchexerziert werden: Bis Ende 2000, so die Vorgabe des MEDEF, solle es zu einer "dynamischen, wirtschaftlich
effizienten" Verwaltung der Sozialkassen kommen. Ansonsten wolle er seine Drohung wahr machen und sich zurückziehen.
Als erste Kasse steht die Arbeitslosenversicherung auf dem
Prüfstand, weil für diese die geltende paritätische Vereinbarung am 30.Juni ausläuft. Eine Regelung darüber sei
Voraussetzung für alle weiteren Verhandlungen.
Auf dem Rücken der Erwerbslosen
Der MEDEF und die
Mittelstandsvereinigung CGPME haben zwei von fünf auf nationaler Ebene als "repräsentativ" anerkannte
Gewerkschaften für ihren Plan gewinnen können. Die sozialdemokratische, zunehmend in rechts-sozialliberales Fahrwasser
geratende CFDT und der kleine katholische Gewerkschaftsbund CFTC waren am vergangenen Donnerstag bereit, die Forderung der
Unternehmerverbände zu unterschreiben, dass Erwerbslose künftig gezwungen sein sollen, ihnen angebotene Tätigkeiten -
fast gleichgültig, zu welchen Bedingungen - anzunehmen.
Künftig soll jede Person, die nach dem 1.1.2001 erwerbslos wird,
einen entsprechenden Vertrag mit dem Arbeitsamt unterschreiben. Binnen eines Monats arbeitet das Arbeitsamt dann ein persönliches
Handlungsprojekt für ihn aus, in dem definiert wird, welche Tätigkeiten seinem Profil entsprechen und ihm zuzumuten sind.
Nach sechs Monaten wird Bilanz gezogen. Je nachdem, wie viele
angebotene Arbeitsplätze - zwischen einem und vier - der Erwerbslose ausgeschlagen hat, wird ihn eine von vier Sanktionsstufen treffen:
sie reichen von einer Ermahnung über die Senkung des Arbeitslosengelds um 20% bis zur vollständigen (zeitweisen oder
endgültigen) Sperre. Damit wären die Unternehmerverbände einem langgehegten Plan ein gehöriges Stück
näher gerückt.
Die nahezu einzige, kleine Verbesserung für die Erwerbslosen, die
die unterzeichnenden Gewerkschaften im Gegenzug erreicht haben, besteht in der Abschaffung des "degressiven" Charakters der
Arbeitslosenunterstützung. Bisher wird das Arbeitslosengeld in periodischen Abständen gesenkt. Der ursprüngliche, an der
vorherigen Lohnhöhe orientierte Satz des Arbeitslosengelds sinkt alle vier Monate um jeweils 17%, bis - mathematisch nachvollziehbar -
nach rund zwei Jahren nichts mehr übrig bleibt.
Ab diesem Zeitpunkt greift dann die staatliche Sozialhilfe bzw. die
"spezifische Solidarunterstützung" ASS (spezifisch für Langzeitarbeitslose), die in Bezug auf ihre Höhe mit der
Sozialhilfe nahezu identisch ist (umgerechnet circa 700 DM pro Monat). Lange Jahre hat sich die CFDT daran nicht gestört, verwaltet sie
doch die Arbeitslosenkasse seit 1992 im Auftrag der Trägerorganisationen; seit Jahren ist die (sozialliberale) CFDT-Chefin Nicole Notat
Präsidentin der Arbeitslosenkasse.
Seit längerem redete die CFDT aber auch der "Aktivierung der
Ausgaben" der Arbeitslosenversicherung das Wort: die Stütze sei nicht nur dazu da, den Erwerbslosen ein halbwegs
menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Vielmehr solle sie aktiv dazu eingesetzt werden, die Erwerbslosen wieder in den
Arbeitsmarkt zu holen, und das heißt in aller Regel in dessen unterstes Segment, die ungeschützten Beschäftigungen.
Davon erhofft die CFDT sich eine Entspannung auf dem Arbeitsmarkt - die
hohe Erwerbslosigkeit werden dann nicht mehr auf den Löhnen ihrer aktuellen Klientel - das sind häufig die mittleren und
höheren Lohngruppen - lasten.
Nach dem neuen Modell soll das Arbeitslosengeld ein Jahr lang in
gleichbleibender Höhe ausgezahlt werden. Länger als ein Jahr ist die Stütze nicht oder nur in Ausnahmefällen
vorgesehen, wohl weil man glaubt, bis dahin den Großteil der Arbeitslosen zur Annahme einer Tätigkeit gezwungen zu haben. Hat
der oder die Erwerbslose bis dahin keinen Arbeitsplatz gefunden, sollen entweder eine Umschulung oder Massnahmen zur Verbesserung der
beruflichen Qualifikation der Betroffenen eingeleitet werden. Das Modell geht davon aus, dass so gut wie niemand länger als ein Jahr in
den "Genuss" der Arbeitslosenunterstützung kommt.
Ein schwacher Trost für die Betroffenen ist, dass im Gegenzug der
Zugang zur Stütze etwas erleichtert wird: Bisher war es erforderlich, in den zurückliegenden zwölf Monaten mindestens vier
Monate "normal" entlohnte Erwerbsarbeit geleistet zu haben, um einen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung zu erwerben.
Nunmehr genügen vier Monate in den zurückliegenden acht Monaten.
Die (PCF-nahe) CGT und die Gewerkschaft FO, aber auch die
(früher der bürgerlichen Rechten nahestehende) Angestelltengewerkschaft CGC lehnen das Projekt strikt ab. Der Gesetzgeber muss
das Abkommen zwischen zwei Unternehmerverbänden und zwei Gewerkschaften aber noch "ratifizieren" - erst dann kann es
ab 1.1.2001 angewendet werden. Arbeits- und Sozialministerin Aubry soll dem Vernehmen nach mit dem Modell gewisse Bauchschmerzen
haben, zumal seine Legitimationsgrundlage dünn sei.
Dennoch ist es eher unwahrscheinlich, dass der Gesetzgeber die
"Ratifizierung" verweigert - dies wäre eine historische Premiere. Innerhalb der regierenden Linkskoalition haben jedoch
Grüne und PCF bereits ihre entschiedene Opposition gegen das Abkommen angekündigt, so dass ernsthaft mit politischen
Schwierigkeiten zu rechnen ist.
Bernhard Schmid (Paris)